Protokoll der Sitzung vom 07.04.2000

(Zuruf von Herrn Büchner, DVU-FL)

Deutschland kann man, glaube ich, nicht vorwerfen, daß es leichtfertig mit den Problemen von Bedrängten in dieser Welt umgeht.

Wenn dazu die Diskussion kommt, wie man mit qualifizierten Leuten aus dem Ausland umgeht, ist das der neue Gesichtspunkt, zu dem ich schon Stellung bezogen habe.

Zu der Frage der Befristung auf drei oder fünf Jahre möchte ich folgendes sagen: Zunächst ist es fast ein Automatismus, daß nach dem derzeitigen Diskussionsstand aus drei Jahren auch fünf Jahre werden können. Fünf Jahre sind in der Branche eine verdammt lange Zeit. Lassen Sie drei Jahre ins Land gehen, um dann die Entscheidung zu treffen, was man nach fünf Jah- ren macht. Vielleicht darf man auf diesem Gebiet erst einmal Erfahrungen sammeln, ehe man sagt, daß alles für 20 Jahre gelten muß. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister, Herr Dr. Bergner hätte noch eine Frage an Sie. Sind Sie bereit, darauf zu antworten? - Herr Dr. Bergner, bitte.

Herr Minister, Sie haben die Anwerbung ausländischer Fachkräfte - ich sage ausdrücklich, außerhalb des EURaumes; innerhalb des EU-Raumes haben wir sowieso Freizügigkeit - als ein Stück Normalität der globalen Wirtschaft bezeichnet. Mir sind Zahlen übermittelt worden, nach denen die indischen IT-Fachkräfte Ausbildungskosten von ungefähr 200 000 DM im Staat Indien verursacht haben.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, daß ein solches Verfahren sehr schnell zu einem Stück Ausbeutung

(Zuruf von Frau Budde, SPD)

von Schwellenländern und Dritte-Welt-Ländern werden kann, die diese Ausbildungskosten investiert haben, um den Bildungsstand im eigenen Land zu verbessern? Ich würde gern wissen, wie Sie zu diesem Vorwurf Stellung nehmen.

(Frau Budde, SPD: Engstirnig!)

Nehmen wir doch einmal einen erweiterten Begriff für marktwirtschaftliches Handeln. Es geht nicht nur darum, Bananen hin und her zu transportieren, sondern es wird auch mit Wissen gehandelt. Gerade Indien exportiert in massiver Weise und sehr erfolgreich Wissen, was dazu führt, daß dort Finanzströme hingeleitet werden.

Die Frage müßte lauten: Ist die Bilanz insgesamt ausgeglichen, oder ist sie es nicht. Das kann man in bezug auf alle Länder durchgehen, aber bitte im Hinblick auf einen mittleren Zeitraum. Darüber kann man gern diskutieren. Dazu muß man sich aber ein paar Zahlentableaus als Grundlage nehmen, um zu schauen, was gerecht und was ungerecht ist. In diesem Zusammenhang kann man auch über Entwicklungshilfe sprechen. Das ist ein Paket, dem wir uns offen zuwenden sollten. Ich bin gern dazu bereit. Ausdiskutieren werden wir es hier nicht können.

(Beifall bei der SPD)

Danke, Herr Minister. - Für die FDVP-Fraktion spricht die Abgeordnete Frau Helmecke.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die spontane Ankündigung von Bundeskanzler Schröder „Green

cards für Computerspezialisten aus dem Ausland“ stellte selbst technische Neuerungen auf der weltgrößten Computermesse Cebit in den Schatten. Die Kontroversen über das Für und Wider der Anwerbung ausländischer Fachkräfte ging quer durch die Institutionen, quer durch Parteien und Regierung. Berührt sind alle Politikfelder von Bund und Ländern, besonders die Bildungspolitik.

Besondere Arbeitserlaubnisse für ca. 30 000 junge Computerspezialisten aus Fernost hatte der Branchenverband Bitcom kurz vor der PC-Megashow in Hannover gefordert. Insgesamt wird der Fachkräftemangel in der Informationsbranche auf 75 000 offene Stellen beziffert.

Der Fachkräftemangel ist aber keinesfalls neu, meine Damen und Herren. Der Bedarf war schon lange vorauszusehen, denn schon in den 90er Jahren gingen die Studentenzahlen im Fach Informatik zurück. Das allein hätte bei jeder Regierung schrille Alarmsignale auslösen müssen.

Bereits der einstige CDU-Bildungsminister Jürgen Rüttgers hatte eine bildungspolitische Offensive für die Informationsgesellschaft gefordert. Doch die spätere rotgrüne Regierung sah dies nicht als vordringlich an.

So war es auch in Sachsen-Anhalt. Trotz aller Statistiken will keiner der Experten oder Minister der Landesregierung die Entwicklung an den Gymnasien bemerkt haben, daß nur 5 % der Abiturienten eine Ingenieurlaufbahn anstreben. Es ist also wieder einmal ein typisches hausgemachtes Problem dieser Landesregierung.

Aber auch die Wirtschaft hat ihren Teil dazu beigetragen, indem sie jahrelang Entwicklungstendenzen ignoriert hat. Nur einige große Unternehmen wie Siemens und IBM betreiben eine ausgezeichnete Aus- und Weiterbildung.

(Frau Budde, SPD: Siemens hat die Ausbildungs- kapazitäten in Sachsen-Anhalt alle abgebaut! Seit Jahren! Aber das wissen Sie wahrscheinlich nicht!)

Doch die in den 90er Jahren aus dem Boden schießenden Computerläden und Software-Schmieden warben auf dem engen Arbeitsmarkt die Fachkräfte ab. Sie holten sich hauptsächlich die jungen Spezialisten.

Somit hat an der jetzigen Krise auch die Computerbranche ihren Anteil. Zu Tausenden hat sie ihre langjährig beschäftigten und gut verdienenden Computerfachleute im Alter von Anfang und Mitte 50 in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Die Gewerkschaften attackierten damals diese Personalpolitik und mahnten eine mittel- und langfristige Personalentwicklungsplanung an.

Das Greencard-Projekt greift uns einfach zu kurz. Es beseitigt nicht die Ursachen, nicht die Symptome, weil es nicht die Ausbildung eigener Experten und Fachleute in den Mittelpunkt stellt. Ohne eine konsequente Kurskorrektur werden dieselben Probleme auch bei anderen Zukunftstechnologien auftreten, zum Beispiel bei der Biotechnik oder bei der Gentechnologie.

Wir meinen, die Unternehmen sollten vielmehr dazu angehalten werden, deutsche Arbeitskräfte zu qualifizieren und weiterhin auszubilden. Auch auf dem Grundwissen vieler arbeitsloser Ingenieure und EDV-Experten sollte wieder aufgebaut werden.

Meine Damen und Herren! Selbst die Bundesanstalt für Arbeit hält die Schätzung, es würden rund 75 000 EDVFachkräfte benötigt, für überzogen. Bei den Arbeits

ämtern sind 13 000 offene Stellen gemeldet. Der Mangel sei ein Anspruchsproblem, betont die Bundesanstalt für Arbeit. Die Zahl der arbeitslosen EDV-Fachkräfte beträgt 32 000.

Hierbei sind Bund und Land gefordert. Um den Nachwuchs optimal motivieren zu können, müssen unter anderem die Stundenzahlen für die naturwissenschaftlichen Fächer erhöht werden, es müssen ansprechende Praktikazeiten in modernen Betrieben angeboten und eine Einbindung der Schulen in Wirtschaft und Industrie vorgenommen werden.

Der Hilferuf der PC-Branche nach 30 000 jungen Computerspezialisten zeigt die gravierenden Versäumnisse auch oder hauptsächlich in der Bildungspolitik auf. Viele Schulen bekommen zwar bald einen Internetanschluß, haben aber weder Computer noch Software noch die dafür ausgebildeten Lehrer. Hier wären die Millionen D-Mark einmal gut angelegt.

Die Personalressourcen in der IT-Branche sind äußerst knapp, aber auch in der chemischen Industrie sowie im Gaststättengewerbe gibt es einen eklatanten Fachkräftemangel. Für diese Branchen darf es keine Weichenstellung geben. Doch was einer Branche erlaubt wird, kann der anderen nicht verweigert werden. Die Begehrlichkeit nach Anwerbungen im Ausland würde sich lawinenartig ausbreiten. Ein Verdrängungswettbewerb zwischen den deutschen und den nichteuropäischen Arbeitskräften würde die Folge sein. Aus diesem Grund müssen Sicherheitsmechanismen und eine der Wirtschaft angepaßte Bildungs- und Arbeitsmarkt- politik neu entwickelt werden.

Dem Antrag der CDU stimmen wir zu. - Ich bedanke mich.

(Zustimmung bei der FDVP)

Für die PDS-Fraktion spricht die Abgeordnete Frau Rogée.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem kleinen historischen Exkurs beginnen. Bereits im Oktober 1969 verbinden Wissenschaftler an der Universität von Kalifornien in Los Angeles zwei Computer an verschiedenen Standorten des Landes miteinander. Als das System aktiviert wird, bricht es zusammen. Obwohl das Experiment mißlungen ist, gilt es dennoch als die Geburtsstunde des Internets.

Das, meine Damen und Herren, ist nunmehr 30 Jahre her. Wir merken jetzt, daß uns plötzlich Fachkräfte für die Informationstechnologie fehlen. Viele haben seit Jahren gewußt, daß die IT-Branche die Zukunft ist. Offensichtlich ist von allen Verantwortlichen versäumt worden, genau auf diese Anforderungen hin auszubilden.

Die Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht bzw. die Unternehmen in Tarifverhandlungen aufgefordert, sich dafür einzusetzen, daß bezogen auf die Branchen zielgerichtet ausgebildet wird. Nun haben wir die Misere.

Jetzt suchen die Unternehmen händeringend - so Herr Gabriel - Programmierer, Software-Entwickler und Systemadministratoren. Wenn wir suchen, sind die Fragen zu beantworten: Wo finden wir die Fachkräfte? Wie sind die Berufsbilder darauf ausgerichtet, und wel

che Ausbildungsvoraussetzungen sichern die Schulen, Fachschulen und Universitäten?

Ist es überhaupt möglich, die Menschen so auszubilden und zu qualifizieren, daß sie eine Chance haben, im Unternehmen zu bestehen, wenn Unternehmen in Sachsen-Anhalt der Auffassung sind, daß sie selbst hochqualifizierte Kräfte abweisen müßten, weil diese nicht den speziellen Wünschen des Unternehmens entsprächen? Die gleichen Unternehmen halten jedoch nichts davon, geeignetes Personal im eigenen Unternehmen fortzubilden.

Das, meine Damen und Herren, ist genau das Problem. Die Ausbildung in den Unternehmen ist seit Jahren rückläufig, und Fortbildung findet in noch geringerem Maße statt.

(Beifall bei der PDS)

Deshalb ist es eben kein plötzliches Defizit, sondern ein hausgemachtes und systematisch organisiertes.

(Zustimmung bei der PDS)

Das Streben nach ausländischen Arbeitnehmern wird von vielen in eine Auseinandersetzung geführt, die bis zum Ausländer- und Einwanderungsrecht reicht, zu Haltungsfragen: Wie viele Ausländer vertragen wir in Deutschland?

Jeder nutzt das Problem nach seiner Fasson. So entstehen auch solche ausländerfeindlichen Aussagen wie die des ehemaligen Zukunfts- und Bildungsministers Rüttgers: Kinder statt Inder. Er sollte sich eher fragen, welche Aktivitäten er unternommen hat, um diese Situation zu verhindern.

(Beifall bei der PDS)

Aber bleiben wir bei den fachlichen Problemen. Das größte Problem in diesem Land ist, daß Bildung und Ausbildung nicht wirklich als Investition in die Zukunft angesehen werden.

(Zustimmung bei der PDS)

Ich möchte drei Zahlen nennen, obwohl ich in den Beiträgen, die heute gekommen sind, festgestellt habe, daß die Zahlen sehr unterschiedlich sind. Das beschäftigt mich überaus. Das Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt/ Thüringen nennt 300 offene Stellen, 2 200 gemeldete arbeitslose Computerfachleute und weitere 1 000 Arbeitsuchende für diese Branche. Jeder sechste Arbeitslose ist Informatiker, Organisator oder Programmierer und jünger als 30 Jahre. Jeder dritte ist älter als 50 Jahre. Die eigentlichen Ursachen sind die seit geraumer Zeit fehlenden Qualifizierungsstrategien.