Protokoll der Sitzung vom 14.09.2000

(Frau Fischer, Leuna, SPD: Das denke ich aber auch!)

Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns nüchtern und sachlich an diese Thematik herangehen. Ich habe dies auch nicht gesagt, - wie man es der Opposition fast in der Form eines Beißreflexes immer sofort vorwirft - um die Regierung anzuzählen. Ich habe sagen wollen - dazu stehe ich auch -, dass ich nicht verstehe, warum zwei christliche Religionen unterschiedlicher Konfession fünf Jahre dazu benötigen, um sich über einen ökumenischen Religionsunterricht einig zu werden. Dies muss man auch betrachten.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD, bei der PDS und von der Regierungsbank)

Weil das so ist, ist uns die gesamte Problematik der Erziehung eines eigenen Koordinatensystems zur Wertebildung, der eigenen Urteilsfähigkeit im ethisch-moralischen Bereich in allen Formen der Bildung, natürlich auch in der Schule, besonders wichtig.

Es gibt auch andere Probleme, denen wir uns stellen müssen. Noch nie haben die technologischen Voraussetzungen die internationale Zusammenarbeit so notwendig und unvermeidbar gemacht, wie es gegenwär- tig der Fall ist. Ich möchte jetzt nicht die gesamten Probleme der Globalisierung aufzählen.

Jeder weiß, dass es um Entwicklungen geht, die völlig unabhängig von politischen Organisationsformen ablaufen, die aber dazu führen werden, dass auch wir uns in der Bundesrepublik Deutschland über Zuwanderung und über Einwanderung vor dem Hintergrund der eigenen demografischen und soziologischen Entwicklungen neu entscheiden müssen.

(Herr Kühn, SPD: So ist es!)

Ich habe mit großem Respekt, weil ich ihn auch als Mensch sehr schätze, die Rede unseres Bundespräsidenten, die so genannte „Berliner Rede“ vom 12. Mai, zur Kenntnis genommen. Diese Rede hatte das Thema „Ohne Angst und ohne Träumerei gemeinsam in Deutschland leben“. In dieser Rede sind die Themen angesprochen worden, zu denen auch wir uns eine Meinung bilden müssen, und dort, wo es möglich ist, auch eine gemeinsame Meinung.

Wir wissen - ich bringe jetzt bewusst einige Zitate des Herrn Bundespräsidenten -, dass Einwanderung und Integration nicht automatisch und nicht immer konfliktfrei gelingen werden. Deswegen müssen wir die Offenheit haben, diese Konflikte auch anzusprechen, ohne uns gleich im parteipolitischen Konflikt zu verdächtigen, schlimme und andere Absichten zu verfolgen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD)

Zuwanderung, meine Damen und Herren, ist immer beides: Belastung und Bereicherung. Man kann über das eine nicht sprechen, ohne das andere zu sehen und zu benennen. Wer die Konflikte minimieren will, der muss sie, auch unter uns, benennen.

Ich darf daran erinnern, dass wir ohne schlimme Absicht einmal das Thema der Kriminalität durch Drogenhandel, auch durch Ausländer, zur Diskussion gestellt haben. Das haben wir nicht getan, weil wir ein ausländerfeindliches Thema unterbringen wollten, sondern weil wir die Konflikte benennen wollten, um sie zu lösen. Wer sich an die damalige Diskussion erinnert - ich will nichts weiter dazu sagen -, der weiß, was wir uns an Unterstellungen zugemutet haben.

Deshalb sage ich, wir müssen die Unbefangenheit erreichen, diese Probleme konfliktfrei und ehrlich miteinander zu besprechen.

Wer die Sorgen und die Ängste nicht ernst nimmt, hilft nicht, die Probleme zu lösen, wohl aber dabei, sie zu verschlimmern. Allein schon die Benennung von Problemen als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen, erschwert es sehr, sie zu lösen. - Das war ein Zitat aus der Rede des Bundespräsidenten.

(Beifall bei der CDU)

Ich zitiere wieder den Bundespräsidenten:

„Kein politisch Verantwortlicher darf der Versuchung nachgeben, aus fremdenfeindlichen Stimmungen für sich Kapital zu schlagen oder den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit politisch zu instrumentalisieren.“

Dies sollten wir uns auch gegenseitig in aller Offenheit zubilligen: Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass es niemand von uns will. Das führt dazu, dass wir dieses Thema vorsichtig und schrittweise unter Respektierung der unterschiedlichen Ausgangspositionen zu einer gemeinsamen Lösung führen wollen.

Die Integration, die wir um unserer eigenen Zukunft willen brauchen, wird nur gelingen durch immer wieder zu erneuernde Bindung an für uns gemeinsame Werte, die so genannten Grundwerte. Dies muss zentraler Bestandteil auch jeder Bildungspolitik in diesem unserem Lande sein.

Uns liegen heute zwei unterschiedliche Ausgangsanträge vor, aus denen wir einen gemeinsamen Antrag gemacht haben. Diesen Tatbestand nehme ich mit Respekt zur Kenntnis. Denn er bezeugt, dass wir unterschiedliche Ausgangspositionen hatten, zu denen wir uns bekennen - wir setzen als CDU gelegentlich auch andere Schwerpunkte als andere Parteien; damit können wir doch leben -, dass wir aber bereit gewesen sind, um der Gemeinsamkeit willen auf den einen oder anderen Akzent zu verzichten. Jeder, der dies nachlesen will, kann es nachlesen.

Weil das Verfahren als merkwürdig bezeichnet wurde, will ich es einmal aus meiner Sicht darstellen. Im Ältes

tenrat wurde darüber gesprochen, was mit den unterschiedlichen Anträgen geschehen solle, die beide so beschaffen sind, dass man sie nicht wegstimmen sollte. Sie in einen Ausschuss zu überweisen - in welchen auch immer; diese Frage hätte gar nicht beantwortet werden können -, um zu sehen, ob man einen gemeinsamen Text daraus machen kann, ergibt nur dann einen Sinn, wenn wir vorweg wissen, dass das möglich ist.

Deswegen war es für mich sinnvoll, diesen Versuch vorher zu unternehmen. Ich denke auch, er ist für uns alle zumutbar und gelungen, und ich finde es gut und richtig, dass wir die beiden Anträge heute gemeinsam im Verbund diskutieren und dass wir eine Antwort gefunden haben, die Ihnen heute durch Änderung der beiden Ausgangsanträge vorgelegt worden ist.

Wir haben andere schwierige Probleme. Es gibt kaum ein Volk, das mit der eigenen nationalen Identität so befangen und so verkrampft umgeht wie wir in Deutschland. Das hat Gründe.

(Beifall bei der CDU)

Der Nationalsozialismus hat die Nationalität und das Bekenntnis dazu in einer so ungebührlichen Weise missbraucht, dass dies Probleme geschaffen hat. Und der realexistierende Sozialismus hat - wenigstens in den ersten Jahren - durch den vom Klassenkampf geprägten Internationalismus dazu geführt, dass wir überhaupt keine Fähigkeiten entwickeln konnten, dieses Problem aufzugreifen. Aber wir müssen es tun, damit sich in dieser Hinsicht kein Wildwuchs entwickelt,

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Büchner, DVU-FL)

damit junge Leute nicht wieder auf bestimmte Gedanken kommen, verbunden mit einer martialischen Sprache, die wehtut und die wir auch schon hier gehört haben, der gleichen martialischen Sprache, deretwegen Thomas Mann - ich glaube, schon 1932 - aus Deutschland ausgewandert ist, weil er es nicht mehr ertragen konnte, wie wenig humanistisch die deutsche Sprache geworden war. Wir müssen den Anfängen wehren und dazu stehen wir.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Ich habe keinen Grund, auf Zeitungsberichte einzugehen. Aber weil wir nicht missverstanden werden wollen, sage ich ganz deutlich: Wir sind zur notwendigen Gemeinsamkeit in der Sache bereit, wenn es für die Entwicklung unseres Landes notwendig und erforderlich ist und wenn es zur Verurteilung und Ächtung von Unrecht und Verbrechen geboten ist.

Aber diese Gemeinsamkeit kann es nur geben, wenn für alle Partner - für alle - die Identität erhalten bleibt und wenn man uns keine Vereinnahmung nachsagt oder uns dieser verdächtigen kann.

Wissen Sie, nicht nur Menschen haben eine Geschichte, auch Parteien. Wenn wir uns - auch nach zehn Jahren noch - gelegentlich vorwerfen lassen müssen, wir hätten uns einmal zu sehr vereinnahmen lassen, dann bleiben Empfindlichkeiten zurück. Das sehen wir unterschiedlich. Ich verlange nicht, dass alle das genauso sehen. Ich bitte nur um Verständnis dafür, dass auch dies Probleme sind, die wir ganz einfach berücksichtigen müssen. In einer gelebten Demokratie sind sich aus unserer Sicht die unterschiedlichen Parteien Gemeinsamkeit in über

parteilichen Aussagen genauso schuldig wie die Respektierung ihrer unterschiedlichen Identität.

Meine Damen und Herren! Die Geschichte der menschlichen Zivilisation kennt unzählige Beispiele von Gewaltanwendung von Menschen gegen Menschen, auch aus niedrigsten Beweggründen. Ich glaube nicht, dass wir diese Probleme ein für alle Mal lösen können. Deswegen müssen wir uns ihnen stellen und eine klare Position und Haltung dazu beziehen.

Die Geschichte der Demokratie kennt auch aus jüngster Zeit das Versagen der Demokratie und die Niederlage gegenüber radikalen Weltverbesserern und extremistischen Gewaltanwendern. Nur ein demokratisches Staatswesen, das sich wehrhaft gegen solche Gruppierungen schützt und in dem Menschlichkeit praktiziert und gelebt wird, wird seinen Bürgern die gewollten Freiräume dauerhaft garantieren können. Die Grenzen der Freiheit sind die Würde und das gleiche Lebensrecht der anderen. Daran dürfen wir gemeinsam keinen Zweifel aufkommen lassen.

(Beifall bei der CDU)

Die Verständigung darüber, was eine humane Gesellschaft trägt und wovor sie sich schützen muss, ist eine Aufgabe der Politiker in jeder Generation, und zwar in jeder Generation neu, eine Aufgabe, der auch wir uns stellen müssen.

Die äußere Ordnung, die wir für ein geordnetes Zusammenleben brauchen, verlangt und braucht eine innere Haltung derjenigen, die sie ausfüllen sollen, und einen sozialen Raum, in dem sie sich bildet und stabilisiert werden kann. Deswegen sagen wir: Jeder von uns sollte sich unter Wahrung und Respektierung unserer unterschiedlichen Identität daran beteiligen.

Aus unterschiedlicher Ausgangsposition und auf unterschiedlichem Weg gibt es jetzt, Ihnen vorgelegt, einen gemeinsam formulierten Beschlussvorschlag, den wir mit guter Absicht im Verbund debattieren wollen. Wir bieten an und bitten darum, darüber im Verbund abzustimmen. Wir sind unsererseits dazu bereit. - Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der CDU - Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Gerade zu diesem Thema begrüßen wir besonders herzlich Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Holleben.

(Beifall im ganzen Hause)

Der Antrag der SPD- und der PDS-Fraktion in der Drs. 3/3584 neu wird jetzt vom Abgeordneten Herrn Dr. Fikentscher eingebracht. Bitte sehr, Herr Dr. Fikentscher.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Bewegungen gehen durch unser Land, über die wir heute sprechen. Der einen treten wir entschieden entgegen. Wir verurteilen und bekämpfen sie. Das ist die rechtsextremistische Welle der Gewalt. Die andere begrüßen und unterstützen wir und an ihr beteiligen wir uns. Das sind die vielfältigen Anstrengungen und der Widerstand gegen diese Gewalt. Wir befinden uns damit in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der Menschen in

unserem Land. Auch sie wollen Rechtsextremismus und Gewalt nicht.

Wir können und werden von Gewalttaten anderer Art nicht absehen, sie nicht verharmlosen, ihnen gegenüber nicht blind werden. Aber jetzt geht es um den Rechtsextremismus. Er bedroht nicht nur einzelne Personen und Gruppen, sondern ist eine Gefahr für die Grundwerte unseres Zusammenlebens.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Zustim- mung von Herrn Remmers, CDU, und von der Regierungsbank)

Es geht dabei um sehr viel. Rechtsextremismus ist ein massiver Angriff auf die Würde des Menschen, die nicht nur bei Deutschen unantastbar ist. Er ist ein Angriff auf die Freiheit, die er Schritt für Schritt einschränkt, wenn er um sich greift, so wie es schon einmal in Deutschland geschehen ist. Er ist seinem Wesen nach gleichermaßen ein Angriff auf die Grundwerte Gerechtigkeit und Solidarität. Er ist durch ein Höchstmaß an Intoleranz gekennzeichnet und damit ein Angriff auf die Toleranz, von der das Zusammenleben der Menschen abhängig ist.

Wir haben es mit einer zerstörerischen Kraft zu tun, die sich zunächst gegen die Wertvorstellungen in den Köpfen richtet, dann die Fäuste und Stiefel der Täter erreicht und schließlich die Gegenstände und die Menschen als ihre Opfer trifft.

Gewalt in Verbindung mit rechtsextremistischen und neonazistischen Ideologien richtet sich gegen Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer ethnischer Zugehörigkeit, anderer religiöser Anschauung, aber auch gegen Behinderte, Obdachlose und weitere Gruppen in unserer Gesellschaft.

Der Rechtsextremismus ist eine Bedrohung der Demokratie, selbst wenn wir im Deutschland von heute nicht grundsätzlich um ihren Fortbestand fürchten müssen. Unsere Demokratie ist gefestigt und wehrhaft, und damit das so bleibt, müssen wir Demokraten weiterhin Dialogbereitschaft und Kompromissfähigkeit untereinander üben. Das heißt, wir müssen täglich um sie kämpfen; denn die beste Vorsorge gegen die Gewalt ist die Erziehung zur Demokratie. Je geringer die Identifikation mit dem politischen System ist, desto größer ist die Gefahr der Radikalisierung und Gewaltbereitschaft.