Protokoll der Sitzung vom 06.04.2001

„Nirgendwo in Europa ist die Bevölkerung in den vergangenen Jahren so stark zurückgegangen wie in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen.“

Das heißt, wir sprechen von einem Problem aller neuen Bundesländer. Wir sprechen nicht von dem Problem einer Partei, sondern von einem Problem, das uns alle angeht. Wir stellen fest - kaum jemand ist noch erstaunt darüber, dies festzustellen, wenn er die Zeitung aufschlägt -: Wenn es um Negativbilanzen geht, sind wir wieder Spitze.

Der Bevölkerungsrückgang war mit einem Ausmaß von 13,7 % in der letzten Zeit höher als in den anderen neuen Bundesländern. Dazu stellen wir fest, was wir an dieser Stelle immer feststellen, nämlich eine dissoziierte selektive Verantwortung der Landesregierung, die für jeden kleinen Erfolg selbstverständlich zuständig ist und sich dafür lobt, aber für jeden Misserfolg mit Empörung die Verantwortung von sich weist.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Mertens, FDVP, und von Herrn Weich, FDVP)

Herr Ministerpräsident, ich muss schon sagen: Das, was Sie vorgetragen haben, war schlicht enttäuschend.

(Herr Dr. Daehre, CDU: Tja!)

Sie haben den Antrag der PDS ein wenig zensiert. Sie haben ein paar Mängel gefunden und Sie haben schlicht am Thema vorbeigeredet.

(Beifall bei der CDU und bei der DVU - Zustim- mung von Herrn Mertens, FDVP, und von Herrn Weich, FDVP)

Wir interessieren uns nicht für Bevölkerungsbewegungen, die in einem zusammenwachsenden Europa völlig normal sind. Wir interessieren uns für Bevölkerungsbewegungsbilanzen, das heißt dafür, was bei Ab- und Zuwanderung übrig bleibt. Bei uns sind der Bevölkerungsrückgang und die Bilanzverluste am größten. All das, was Frau Ferchland gesagt hat, stimmt: Es sind vor allem junge Leute und mehr Frauen als Männer. Die reproduktiven Folgen werden uns in den nächsten drei bis vier Jahrzehnten so stark einholen, dass in diesem Land kein soziales Versicherungssystem mehr finanzierbar ist.

(Beifall bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP)

Das sind die Probleme, über die wir jetzt sprechen müssen.

Sie haben auch völlig Recht darin, dass es zwei wesentliche Gründe dafür gibt: Das sind die Arbeitsplätze und das ist die Tarifentwicklung. Wenn ich mich erinnere, dann muss ich sagen: Die Situation im Frühjahr dieses Jahres ist der im Frühjahr des Jahres 1961 sehr ähnlich. Ich kann mich gut daran erinnern, dass fast jeden Tag Kunde darüber kam, wer wieder weggegangen ist. Aber - das weiß jeder - die Lösungen von damals sind nicht mehr die Lösungen von heute.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU)

Das heißt, wir müssen uns schlicht etwas anderes einfallen lassen. Das mit der Ausbildung ist gut gemeint. Aber mit der Ausbildung entscheiden wir lediglich darüber, wann die Leute weggehen; das ist alles. Wir müssen Arbeitsplätze anbieten, damit die jungen Leute hier ihre Zukunft finden und ihr eigenes Leben aufbauen können. Wir müssen natürlich mit der Tarifentwicklung auf einen Level kommen, der sicherstellt, dass sich Arbeit hier genauso lohnt wie in anderen Bundesländern.

(Zustimmung bei der CDU, bei der DVU und von Herrn Miksch, fraktionslos)

Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Entwicklung auf dem Tarifsektor die Entwicklung bei den Arbeitsplätzen erschwert und umgekehrt. Genau dieses Problem müssen wir lösen. Vor allem müssen wir es in den nächsten Jahren lösen; denn wenn wir warten, bis die EU-Erweiterung fortgeschritten ist, dann entsteht mitten durch Europa, entlang der neuen Bundesländer ein Graben, der darin besteht, dass die Leute, die Chancen haben, in den Westen gehen, wo sie gut verdienen, und dass die Investoren, die investieren wollen, in den Osten gehen, wo sie die Arbeit billiger erledigt bekommen als bei uns. Es wird dann mitten durch Deutschland ein Wirtschaftsgraben gehen; das werden die neuen Bundesländer sein, wenn sie das Problem bis dahin nicht gelöst haben und die es dann auch nicht mehr werden lösen können. Das heißt, wir haben keine Zeit.

Ich verstehe nicht, weshalb der thüringische Ministerpräsident Vogel öffentlich dafür kritisiert und beschimpft wird, dass er sagt, wir brauchen einen Investitionsschub, damit wir jetzt das Problem lösen und nicht in eine Situation hineinkommen, die die Lösung unendlich schwieriger macht.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der DVU und von Herrn Miksch, fraktionslos)

Die Finanzierung, die Herr Vogel vorgeschlagen hat, greift nicht in den Bundeshaushalt ein. Er schlägt lediglich vor, die Mittel der Bundesbank und die aufgrund der geringeren Ausgaben für die Arbeitsverwaltung in Nürnberg eingesparten Mittel zusammenzunehmen und daraus ein Sonderprogramm für die neuen Bundesländer zu machen, und zwar jetzt. Ich kann nur sagen: Damit hat er Recht.

Selbst wenn einige Ministerpräsidenten jetzt dagegen sind - ich will sie gar nicht zitieren, aber ich habe die Pressemeldungen dabei -, bin ich ganz sicher, dass es so kommen wird; denn die Bundesregierung weiß, wann die nächsten Bundestagswahlen sind.

(Zustimmung von Herrn Dr. Keitel, CDU - Herr Dr. Daehre, CDU: Ja!)

Sie weiß, dass sie etwa ein Jahr vorher, also spätestens in diesem Herbst, etwas dafür tun muss. Deswegen sage ich voraus: Spätestens im kommenden Herbst wird ein Sonderprogramm für die neuen Bundesländer kom

men. Es wird ähnlich finanziert sein, wie es Ministerpräsident Vogel vorgeschlagen hat. Es wird hoffentlich einen Investitionsschub in Form einer Investitionspauschale für die Kommunen enthalten; denn das ist nach unser aller Erfahrung der vernünftigste Weg, um Schwung hineinzubringen.

(Beifall bei der CDU)

Nur dann, wenn es uns gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, Aufträge auszulösen, damit Arbeit angeboten wird, und wenn auch in die Tarifentwicklung Bewegung kommt mit der Folge, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt wird, werden wir das Problem lösen.

(Zustimmung bei der PDS)

Alles andere ist verbaler Trost, nichts anderes.

(Beifall bei der CDU)

Nur dann, wenn wir uns für einen solchen Weg, der vernünftig, richtig und finanzierbar ist, entscheiden, dafür Mehrheiten finden - ich denke, im Hinblick darauf wird in diesem Jahr noch etwas geschehen - und das vernünftig umsetzen, sodass die Wirtschaft in Schwung kommt und wir den jungen Leuten - die sind doch mit 20 Jahren nicht schon geldgierig und wollen irgendwann einmal die reichsten Leute auf dem Friedhof werden; sie wollen Chancen haben, sich zu entfalten und zu entwickeln Vertrauen in die Zukunft vermitteln, dann werden wir die Probleme lösen. Wenn uns das nicht gelingt, dann haben wir versagt. Deswegen muss es uns gelingen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDVP - Zustim- mung von Herrn Hoffmann, Magdeburg, SPD, und von Herrn Miksch, fraktionslos)

Herr Professor Böhmer, der Abgeordnete Herr Gallert hat eine Frage. Wollen Sie sie beantworten? - Bitte, Herr Gallert.

Herr Böhmer, vieles in Ihrer Analyse ist durchaus einsehbar und nachvollziehbar. Ich möchte Sie deswegen fragen: Wie beurteilen Sie eigentlich die Meldung, die erst vor zwei, drei Tagen - ich kann mich an den „Volksstimme“-Artikel erinnern - zu dem 24-Punkte-Forderungsprogramm der Arbeitgeber gekommen ist? Darin steht an erster Stelle: Niedrige Löhne für SachsenAnhalt. Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Analyse?

(Herr Gürth, CDU: Das steht doch so gar nicht drin!)

Herr Gallert, ganz einfach: Das ist die Sicht der Dinge der Arbeitgeber. Politik besteht nie darin, einem nach dem Munde zu reden, sondern darin, die unterschiedlichen Interessen auszubalancieren. Deswegen nehmen wir unterschiedliche Interessen zur Kenntnis und versuchen, daraus eine vernünftige Lösung zu machen.

(Beifall bei der CDU)

Danke sehr. - Die Meinung der SPD-Fraktion trägt jetzt der Abgeordnete Herr Dr. Fikentscher vor.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Böhmer, ein zusätzliches 40-Milliarden-Programm allein wird das Problem von der Größe, die Sie beschrieben haben, auch nicht lösen können. Es wird sicherlich etwas helfen, aber das ideale Patentrezept ist es vermutlich nicht.

(Herr Scharf, CDU: Wenn es da ist, werden Sie es gut verkaufen! - Herr Dr. Daehre, CDU: Wenn es da ist, sind es alles neue Gedanken!)

- Wenn es gut ist, werden wir es auch gut verkaufen.

Meine Damen und Herren! Die Abwanderung junger Menschen aus Sachsen-Anhalt ist ein ernsthaftes Problem, weil sie nicht durch eine entsprechend große Zuwanderung ausgeglichen wird. Wenn wir diese hätten, wäre das Problem im Grunde nicht vorhanden; denn die Mobilität - davon ist schon gesprochen worden - wollen wir schließlich nicht unterbinden.

Das gilt zwar auch für andere Teile der Bevölkerung doch bei der Jugend sind die Folgen aus den hier schon im Einzelnen genannten Gründen besonders schwerwiegend. Die Tatsache des so genannten Nettoverlustes ist nicht zu leugnen. Dieser Verlust kann auch durch Reden nicht verkleinert werden. Allerdings sollten wir ein Problem durch Reden auch nicht vergrößern.

Dennoch ist auf zweierlei hinzuweisen: Erstens. Das Problem haben wir schon vor Jahren erkannt. Ich erinnere mich an drei kurze Sätze in einer Ansprache, die ich im Januar 1993 beim Neujahrsempfang der Industrieund Handelskammer Halle/Dessau gehalten habe - ich zitiere -:

„Langfristig noch bedrohlicher als die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist der Weggang junger Leute. Sie gehen, sobald Ausbildungsplätze fehlen und die Berufsaussichten schlecht sind. Schlimm wäre es, wenn eines Tages die Frage gestellt werden könnte, für wen denn überhaupt noch Arbeitsplätze geschaffen werden sollen.“

Soweit zur Erinnerung und so viel auch zur Aktualität dieser Debatte. Das waren Sätze von vor reichlich acht Jahren.

Seitdem haben sich alle Regierungen bemüht, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Es ist viel getan worden. Wir können nicht behaupten, dass wir ein erkanntes Problem gänzlich haben vor sich hindämmern lassen; vielmehr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass viel getan worden ist.

Zweitens. Es handelt sich um einen Teil des Gesamtproblems - darauf ist bereits hingewiesen worden -, nämlich um das Problem des Bevölkerungsrückgangs. Wie die Statistiken belegen, wird der Bevölkerungsrückgang zum weitaus größten Teil durch den Geburtenrückgang verursacht und erst in zweiter Linie durch die Abwanderung.

In den Städten kommt hinzu, dass der Wegzug von Familien ins Umland plötzlich und stark eingesetzt hat. Dieser Umstand ist zwar für die Zahlen im Land insgesamt von geringerer Bedeutung, für die Siedlungskerne und für die Infrastruktur ist es jedoch von großer Bedeutung.

Jede einzelne dieser negativen Entwicklungen für sich betrachtet, könnte gewiss leichter verkraftet werden.

Durch die Summe aller drei Aspekte ist das Ergebnis einmalig und kann bedrohliche Ausmaße annehmen. Wir müssen uns darauf einstellen.

Die Gleichsetzung mit den Verhältnissen in der DDR halte ich jedoch für falsch, weil es damals nur eine Abwanderungsbewegung, aber keinerlei Zuwanderung aus den alten Bundesländern gegeben hat. Es bestand noch nicht einmal die Möglichkeit eines begrenzten Ausgleichs der Wanderungsbewegung. Bekanntlich gibt es einen teilweisen Ausgleich, wie es auch die Zahlen belegen. Von einer „Flucht“ aus Sachsen-Anhalt oder von „Ausbluten“ dürfte eigentlich keine Rede sein. Davon zu sprechen, ist reiner Populismus.

(Frau Stange, CDU: Sie haben es nicht begriffen! - Zurufe von Frau Feußner, CDU, und von Herrn Becker, CDU)