Protokoll der Sitzung vom 06.04.2001

(Zuruf von Frau Wiechmann, FDVP)

An dieser Stelle gebe ich Ihnen Recht. Das ist ein Problem, aber die Besten würden auch hier Arbeitsplätze bekommen. Das ist völlig klar. Es würde einfach eine Verdrängung dabei geben.

Ich sehe dabei zunehmend ein Problem, nämlich das Problem der unterschiedlichen Bezahlung. Es ist völlig klar: Wenn man 1 000, 2 000 oder 3 000 DM mehr bekommt, wenn man wenige Kilometer oder auch einige Hundert Kilometer weggeht, so ist das natürlich ein Beweggrund für viele.

An dieser Stelle bewegt sich in letzter Zeit etwas in unserer Wirtschaft. Es wird der Wirtschaft zunehmend bewusst: Wenn sie gute Facharbeiter haben will, bleibt ihr überhaupt nichts anderes übrig, als auch vergleichbare Löhne zu bezahlen. Das habe ich in vielen Gesprächen mit Unternehmern inzwischen festgestellt.

Wir reden immer nur über Fachkräfte in der IT-Branche. Sie können einmal solche Unternehmen fragen. Sie sagen ganz klar, dass sie im Zweifelsfalle Löhne zahlen müssen, die denen im Westen vergleichbar sind. Das wird zunehmend auch passieren - davon bin ich fest überzeugt -, unbeschadet aller tarifvertraglichen Vereinbarungen, die es natürlich gibt und die die Masse der Beschäftigten auch betrifft.

Allerdings macht diese Debatte auch deutlich, dass es keine andere Chance gibt, dieser Bewegung von guten Fachkräften in andere Regionen entgegenzuwirken, als dass alle daran arbeiten, hier im Land für junge Leute attraktive Arbeitsplätze zu schaffen.

Ich will ein Zweites unter dem Stichwort attraktive Arbeitsplätze hinzufügen: Das ist nicht nur eine Frage der Bezahlung, sondern das ist auch eine Frage der Entwicklungsmöglichkeiten, der Bildungschancen, der Aufstiegschancen und der Frage, wo man kreativ arbeiten

kann. Dabei gibt es auch das Argument: In einem jungen Betrieb im Osten Deutschlands kann ich viel mehr bewegen, kann ich mich viel mehr entfalten und kann ich viel mehr dazulernen, als wenn ich in einen zwar besser bezahlten Job, aber in eine Hierarchie eines westlichen Großunternehmens gehe. - Ich glaube also, dass wir auch dieses Thema sehr differenziert behandeln müssen.

Meine Damen und Herren! Im Blick auf das, was die Politik tun kann, will ich sagen, dass wir uns seit langem aufgrund dieser Problematik auf dieses Thema konzentrieren.

Das gilt erstens für das Problem der Ausbildung. Dieses Problem haben wir in den letzten Jahren bewältigt. Das war das eine Problem, das uns immer wieder beschäftigt hat. Übrigens wird die Situation jetzt zunehmend dadurch entspannt, dass die Betriebe erkennen, dass sie jetzt schon mit ihrer Ausbildung vorsorgen müssen, damit sie später ab dem Jahr 2006, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge zum Tragen kommen, tatsächlich Fachkräfte haben. In diesem Zusammenhang fängt es an, in den Köpfen der Unternehmen zu arbeiten - Gott sei dank. Ich fördere das auch an jeder Stelle, an der ich das kann.

Zum Zweiten sind inzwischen eine ganze Reihe von Programmen auch im Zusammenhang mit dem Bündnis für Arbeit erarbeitet worden, die bei der Überwindung der zweiten Schwelle helfen. An dieser Stelle muss ich sagen, damit wir über diesen Bereich differenziert diskutieren: Diese Hilfe bieten wir vor allen Dingen denjenigen, die trotz nicht gerade guter Qualifikationsabschlüsse in den Arbeitsmarkt hineinzukommen versuchen. Das sind nicht diejenigen, die potenziell in den Westen gehen würden, sondern das sind diejenigen, die im Westen auch keine Chance hätten und denen wir aufgrund unserer Verantwortung eben hier Chancen bieten müssen.

Würden mehr gute Leute hier bleiben, hätten möglicherweise mehr aus diesem Bereich zusätzliche Schwierigkeiten. Auch das ist ein Argument, bei dem man sagen muss: Jawohl, diesbezüglich müssen wir etwas tun im Blick auf die Perspektive junger Leute. Direkt mit der Abwanderung hat dieses Thema aber auch nichts zu tun.

(Widerspruch bei der FDVP)

Meine Damen und Herren! Sie können sich darauf verlassen, dass wir als Landesregierung diese Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen werden. Sie können sich darauf verlassen - ich habe das öffentlich gesagt, ich will das hier wiederholen -, dass ich von Mobilitätshilfen von Ost nach West überhaupt nichts halte. Ich habe darüber auch mit den Arbeitsämtern geredet. Ich glaube, das ist das falsche Signal. Das hat sozusagen eine wenig effektive Wirkung, wenn man sich vor Augen hält, wie viel Leute aufgrund von Mobilitätshilfen von Ost nach West gehen. Das ist eine verschwindend kleine Zahl. Das ist nicht das Thema, rein zahlenmäßig gesehen. Aber die psychologische Wirkung, wenn sozusagen Abwanderungsprämien gezahlt werden,

(Zuruf von Frau Feußner, CDU)

ist meiner Ansicht nach eine verheerende. Deswegen bin ich energisch dagegen, dass solche Abwanderungsprämien gezahlt werden.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS und von der Regierungsbank)

Meine Damen und Herren! Wir werden uns darauf einstellen müssen - das sei meine letzte Bewerkung, weil meine Redezeit vorbei ist -,

(Herr Dr. Daehre, CDU: Gott sei Dank!)

dass es in Zukunft in dem größer werdenden Europa noch mehr Wanderungsbewegung geben wird. Das heißt, wenn wir auf die Wanderungsbewegungen schauen, dürfen wir nicht nur die zwischen dem Osten Deutschlands und dem Westen Deutschlands in den Blick nehmen,

(Unruhe bei der CDU - Herr Gürth, CDU: Am meisten wird hier gewandert!)

sondern dann kann man sich beispielsweise auch einmal die Wanderungsbewegung zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands ansehen. Aber noch wichtiger werden im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union die Wanderungsbewegungen in Europa insgesamt werden.

(Zurufe von Herrn Dr. Daehre, CDU, und von Herrn Wolf, FDVP)

Sie werden spannend werden, sie werden die Debatte, die wir heute führen, noch einmal wesentlich verändern.

(Unruhe bei der CDU - Herr Gürth, CDU: Wo ist Ihr Konzept zur Lösung der Probleme?)

Sie können sich darauf verlassen, dass auch dieses Feld in Zukunft von uns aufmerksam in den Blick genommen wird. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS und von der Regierungsbank - Herr Dr. Daehre, CDU: Aufmerksam in den Blick genommen wird!)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Nach der Geschäftsordnung heißt es, dass Sie, wenn die Landesregierung länger spricht als vereinbart, auch länger reden dürfen. Sie können insgesamt drei Minuten länger sprechen.

Ich erteile nun für die FDVP-Fraktion der Abgeordneten Frau Helmecke das Wort. Bitte, Frau Helmecke.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wandern ist im eigentlichen Sinne eine begrüßenswerte Art sportlicher Betätigung und menschlicher Fortbewegung. Tragisch wird diese Bewegung erst dann, wenn der Ausgangsort nicht wieder erreicht und angestrebt wird. So verhält es sich auch mit den Wanderungsbewegungen aus Sachsen-Anhalt.

Es ist doch ein Vorteil der Jugend, beweglich und mobil zu sein und nicht von der Wiege bis zur Bahre an einem Ort in einer Region zu verweilen. Verkennen wir bitte nicht, dass ein Großteil beruflicher Erfahrung erst dann zustande kommt, wenn unterschiedliche Betriebe, Meister- und auch Unternehmensphilosophien erlebt wurden. Das aber setzt Bedingungen voraus, die in Sachsen-Anhalt nicht gegeben sind, sodass die Wanderung, die Mobilität nicht Ausdruck jugendlichen persönlichen Strebens nach Bereicherung der Erfahrungen und Fertigkeiten, sondern eine Notlösung ist und sich als eine Flucht aus diesem Land darstellt. Die Aktion Notausgang funktioniert also anders als vorgegeben.

(Zustimmung von Herrn Weich, FDVP)

Die Zahlen der Abwanderung sind erschreckend, nicht nur in der Gesamtgröße, sondern vor allem in Bezug auf den Anteil der jungen Menschen. Setzen wir diese Zahlen dann in Beziehung zur weiteren demografischen Entwicklung, das heißt zu erwartenden bzw. nicht zu erwartenden Geburtenraten, dann wird klar sichtbar, welches schreckliche Szenario sich zu entwickeln beginnt.

Die Augen davor zu verschließen, die regierungsamtliche Keule mit den Worten „Augen zu und durch!“ zu schwingen wird keine Veränderung herbeiführen.

Meine Damen und Herren! Die Abwanderung der Menschen, vor allem der jungen Menschen aus SachsenAnhalt ist weder mit Appellen noch mit kurzfristigen Programmen zu verhindern. In diesen Tagen schlugen die Handwerkskammern alarmierende Töne an, weil die Nachwuchsgewinnung für ehrbare Handwerksberufe gefährdet ist, und zwar nicht etwa deshalb, weil Handwerksberufe an Attraktivität einbüßten, sondern weil viele erfahrene Handwerksmeister nicht mehr ausbilden können, weil die Handwerker mit am ehesten von wirtschaftlichen Einbrüchen und Konjunkturschwächen betroffen sind. Wo Industriebetriebe wegbrechen, brechen auch die mit der Wirtschaft verbundenen Handwerksbetriebe mangels Aufträgen weg.

Wenn die wirtschaftliche Entwicklung weiter vermindert wird, wenn keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden, dann bleibt nur die Fluchtweg. Fürst Otto von Bismarck schrieb in seinen Lebenserinnerungen:

„Der Jugend kann ich nur drei Worte des Rates erteilen: Arbeite, arbeite, arbeite!“

(Oh! bei der SPD)

Die heutige Jugend in Sachsen-Anhalt könnte nur antworten: Klug gesprochen, Fürst Bismarck, aber wir wollen ja arbeiten, nur können wir es nicht in diesem Land.

Jugendliche, die dieses Land verlassen müssen, kehren kaum wieder zurück. Sie werden dort, in einem anderen Bundesland oder im Ausland, Familien gründen und verbleiben. Die demografischen Wirkungen sind vorhersehbar und verhängnisvoll.

Meine Damen und Herren! Wer den Finger dann auf die Wunde legt und die Verursacher der Misere benennt, der hat in der Regierung des Dr. Höppner keine Chance, der muss gehen; so läuft das eben in Sachsen-Anhalt. Der Ex-Wirtschaftsminister Gabriel formulierte das mit den Worten:

„Das Tolerierungsmodell hat sich verbraucht. Wir sind doch nur die Stimmenbringer für die PDS, die sich auf Kosten der SPD profiliert. Wenn es nach mir ginge, hätten wir das schon längst beendet.“

Herr Gabriel kann die Wahrheit ungestraft verkünden, weil der Maulkorberlass des Dr. Höppner in der Privatwirtschaft nicht greift.

Heinrich Heine, selbst kühn und unerschrocken in seinen Worten, schrieb über die Jugend - ich zitiere Herr Präsident -:

„Sie ist uneigennützig im Denken und Fühlen. Sie denkt und fühlt deshalb die Wahrheit am tiefsten und geizt nicht, wo es kühne Teilnahme an Bekenntnis und Tat gilt.“

Meine Damen und Herren! Leider sind die Wahrheit und die kühne Teilnahme an Bekenntnis und Tat der Jugend

in Sachsen-Anhalt unter der Regierung des Dr. Höppner nicht gefragt und nicht erwünscht. Daher gilt: Wechseln wir nicht die Jugend aus; wechseln wir die Regierung. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDVP)

Danke sehr. - Die Sicht der CDU-Fraktion zum Thema trägt Professor Böhmer vor. Bitte, Herr Professor.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das statistische Büro Eurostat hat gestern Nachmittag die letzten Berichte veröffentlicht, die auch über die Ticker gegangen sind. Darin heißt es - ich zitiere -:

„Nirgendwo in Europa ist die Bevölkerung in den vergangenen Jahren so stark zurückgegangen wie in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen.“