Protokoll der Sitzung vom 17.05.2001

(Unruhe - Herr Metke, SPD: Die Zeit ist tatsäch- lich abgelaufen! - Zuruf von Frau Lindemann, SPD)

Das ist eben der Unterschied zu Kärnten. - Danke schön.

(Beifall bei der FDVP)

Meine Damen und Herren! Bevor ich der Ministerin Frau Dr. Kuppe das Wort erteile, begrüßen wir Schülerinnen und Schüler der Helmholtz-Schule für Blinde und Sehbehinderte in Halle.

(Beifall im ganzen Hause)

Ministerin Frau Dr. Kuppe, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Herren und Damen Abgeordneten! Semantisch ist die Äußerung des Bundeskanzlers unmissverständlich. Aus dem Interview lassen sich all die Mutmaßungen und Unterstellungen nicht herauslesen, die Teile der öffentlichen Meinung in Erregung versetzt haben.

Es scheint wohl so zu sein, dass einige etwas heraushören wollten, was sie schon vermutet haben. Böswillig gewendet lautet das: All die Arbeitslosen in Deutschland sind eigentlich glückliche Menschen, die auf Kosten der Solidargemeinschaft das Leben führen können, wovon all die anderen träumen, die jeden Tag zur Arbeit gehen.

Eine solche populistische Debatte ist nicht neu. Zwischen der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1883 und der Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 lagen immerhin 44 Jahre. Es drängt sich schon die Frage auf, warum das Entstehen dieses Zweiges der Sozialversicherung so lange gedauert hat. Auch um die Jahrhundertwende gab es schließlich Arbeitslosigkeit in Deutschland. Aber anders als Krankheit, Invalidität und Alter wurde der Verlust des Arbeitsplatzes nicht als unabwendbares Schicksal angesehen, das alle Menschen ereilen kann; er galt vielmehr lange Zeit als individuelles und selbst verschuldetes Phänomen, wofür sich die Gesellschaft nicht verantwortlich fühlen müsste.

Damals war nicht die Rede von Faulheit, sondern von Müßiggang. Dieser Müßiggang sollte nicht durch eine kollektiv finanzierte Versicherung gefördert werden. Deshalb wurde die Arbeitslosenversicherung von 1927 mit Kontrollvorschriften versehen, Wartezeiten, Sperrzeiten, Disqualifikationsbestimmungen. Was bei der Einführung dieses Sicherungssystems galt, gilt auch heute, also 74 Jahre später, in den Grundzügen noch immer. Das ist im Dritten Buch des Sozialgesetzbuches nachzulesen.

Grundlegend verändert hat sich aber seit 1927 die gesellschaftspolitische Analyse und die Bewertung der Arbeitslosigkeit. In den seltensten Fällen provoziert der oder die Einzelne den Verlust des Arbeitsplatzes, sondern strukturelle Verwerfungen oder historische Einschnitte oder betriebswirtschaftliche Zwänge bestimmen wesentlich die Arbeitsmarktsituation.

Wenn nun der Bundeskanzler betont, dass es in unserer Gesellschaft kein Recht auf Faulheit gibt, verweist er damit auf die funktionierenden Mechanismen der Kontrollsysteme innerhalb der Arbeitsverwaltung.

Ein Kernpunkt des gesetzlichen Maßnahmenpakets im Sozialgesetzbuch III sind die so genannten Sperrzeiten. Wer eine zumutbare Arbeit, eine Ausbildungs- oder Weiterbildungsmaßnahme ablehnt, dem kann bis zu drei Monate lang das Arbeitslosengeld gestrichen werden. Dasselbe droht auch den Arbeitslosen, die eine Schulung vorzeitig abbrechen. Wer die Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes wiederholt boykottiert,

verliert dauerhaft den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe. Der Vollzug liegt in den Händen der Bundesanstalt für Arbeit.

Für Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger gilt übrigens ein ähnliches System von Kontrollen und Sanktionen. Wer sich weigert, eine zumutbare Arbeit oder Arbeitsgelegenheit anzunehmen, muss damit rechnen, dass das Sozialamt den Regelsatz kürzt, und zwar mindestens um 25 %. Für diese Verfahren tragen die Landkreise und die kreisfreien Städte die Verantwortung.

Im vergangenen Jahr, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben die Arbeitsämter bundesweit in etwa 91 000 Fällen Sperrzeiten verhängt. In Sachsen-Anhalt waren es 2 709 Fälle. Die gesetzlichen Instrumente existieren also nicht nur in der Theorie, sie werden tatsächlich angewendet. Allerdings war nur ein sehr kleiner Teil der durchschnittlichen Zahl der registrierten Arbeitslosen von den Sperrzeiten betroffen, in Sachsen-Anhalt 1 %, bundesweit 2,9 %.

Das zeigt zunächst, dass die meisten arbeitslosen Männer und Frauen, also 99 % bei uns, so schnell wie möglich wieder im Berufsleben stehen wollen und dass es überhaupt kein Massenphänomen von Drückebergerei gibt. Das gilt insbesondere für die ostdeutschen Bundesländer.

Unser Hauptproblem ist, dass wir zu wenig Arbeitsplätze haben. Laut Arbeitsmarktzahlen des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt/Thüringen waren im April 2001 in Sachsen-Anhalt rund 274 000 Menschen ohne Arbeit. Dem stehen nur etwas mehr als 14 400 offene Stellen gegenüber. Allein schon deshalb ist der vielleicht zu lasche Umgang einiger weniger ein marginales Problem, zumal bei uns.

Das hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede am 1. Mai unmissverständlich so dargelegt. Ich hatte aber das Gefühl, dass zu diesem Zeitpunkt schon niemand mehr zugehört hat.

(Herr Dr. Daehre, CDU: Nee, da waren nur weni- ge da!)

Unabhängig davon haben die Arbeitsämter in der Diskussion der vergangenen Wochen tatsächlich auf Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die bei der Durchführung von Sanktionsmaßnahmen nach dem Sozialgesetzbuch III auftreten können.

Ein Punkt betrifft beispielsweise die mangelnde Bereitschaft von Arbeitgebern, offensichtlich Arbeitsunwillige den Arbeitsämtern zu melden, wenn sich bei einem Vorstellungsgespräch herausgestellt hat, dass der Bewerber oder die Bewerberin gar kein Interesse an einer Beschäftigung hat. Es ist legitim, darüber nachzudenken, wie man hierbei zu besseren Lösungen kommt. Genau das hat der Bundeskanzler in seinem Interview angesprochen.

Für mich besteht nach wie vor das zentrale Problem in der Arbeitsmarktpolitik in den fehlenden bzw. in den zu schaffenden Arbeitsplätzen. Darauf müssen wir das Augenmerk richten, denn es geht um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und nicht der Arbeitslosen.

(Beifall bei der SPD)

Danke sehr. - Für die Fraktion der CDU hat jetzt Professor Böhmer das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe freimütig zu, ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dieses Thema zum Thema einer Aktuellen Debatte in unserem Landtag zu machen.

(Zuruf von Herrn Wolf, FDVP)

Aber da dieses Thema nun einmal auf der Tagesordnung steht und da es, wie ich denke, für eine Fraktion keinen guten Eindruck macht zu kneifen, möchte ich sagen, was mir dazu eingefallen ist. Ich bitte um Nachsicht, dass ich das nur mit einer gewissen Gelassenheit tun kann, die sich manchmal vielleicht anhören mag wie Nachsicht mit dem Bundeskanzler.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Büchner, DVU, und von Herrn Kanne- gießer, DVU)

Meine Damen und Herren! Ich widerspreche: Es gibt ein Recht auf Faulheit. Ich lasse mir von niemandem, auch nicht vom Bundeskanzler, das Recht auf Faulheit absprechen, wenn ich sonntags keine Lust habe aufzustehen.

(Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU und bei der PDS)

Das ist ein altes Thema. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Paul Lafaque, der Schwiegersohn von Karl Marx, ein Buch über das Thema „Recht auf Faulheit“ geschrieben.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Krause, PDS)

Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, bin mir aber ziemlich sicher, dass er damit etwas völlig anderes gemeint hat. Seitdem gibt es diesen Begriff. Gerhard Schröder hat diesen Begriff in einem Zusammenhang gebraucht, den ich dann verstehen könnte, wenn er gesagt hätte, es gebe kein Recht auf fremdfinanzierte Faulheit. Dieses Recht gibt es natürlich nicht.

(Zustimmung bei der CDU und bei der DVU)

Das ist ein Thema, das uns nichts angehen muss, eine Jacke, die wir uns nicht anziehen.

Wenn in Sachsen-Anhalt auf einen freien Arbeitsplatz 18 bis 25 Arbeitslose kommen, dann ist das für uns kein Thema. Wenn uns die Arbeitsverwaltung sagt, es dauere höchstens drei Wochen, bis eine freie Stelle wieder besetzt ist, dann ist das für uns kein Thema. Wenn bei weniger als 1 % der Arbeitslosen von den Maßnahmen, die eben angesprochen worden sind, Gebrauch gemacht werden musste, weil sie eine zumutbare Arbeit nicht angenommen haben, dann ist das für uns kein Thema.

Deswegen kann ich das nicht so ernst nehmen. Wer den Bundeskanzler kennt, der tut ihm Unrecht, wenn er versucht, jedes seiner Worte ernst zu nehmen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU)

Er hat schließlich auch schon einmal gesagt, Frau Kauerauf, die Lehrer seien alles faule Säcke. Da ging auch kein Aufschrei durch die Gesellschaft. Jetzt hat er gesagt: Es gibt kein Recht auf Faulheit. - Wir fühlen uns dadurch nicht angesprochen.

Wir hätten es ahnen können. Er hat schon im Jahre 1990 gesagt: Die Leute in der ehemaligen DDR müs

sen sich für ihren Aufbau selbst krumm legen. - Seitdem, Herr Bundeskanzler, machen wir das.

(Herr Scharf, CDU: Er macht es noch heute so!)

Er hat 1996 in einer Debatte, die ihm scheinbar lästig war, gesagt: Wir können die - damit meinte er uns in den neuen Bundesländern - schließlich nicht an Polen abtreten. - Nein, das können wir nicht. Aber seitdem wissen wir, worüber so ein Bundeskanzler nachdenkt, wenn er jetzt Probleme hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Miksch, fraktionslos)

Er hat die ganze Problematik des Aufbaus in den neuen Bundesländern zur Chefsache gemacht. Das hätte ich auch gemacht, wenn ich Ruhe haben will, damit nicht allzu viel Bewegung hineinkommt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU)

Er hat jemanden mit der Aufgabe beauftragt, sich um uns in den neuen Bundesländern zu kümmern, der ihm diesen Wunsch erfüllt und dieses Thema möglichst nicht allzu häufig öffentlich thematisiert.

(Heiterkeit bei der CDU)

Wenn man weiß, dass Gerhard Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen einer der wenigen war, die im Bundesrat im Jahre 1990 dem Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der ehemaligen DDR nicht zugestimmt haben,

(Zustimmung von Frau Liebrecht, CDU)