Protokoll der Sitzung vom 21.06.2002

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 4. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der vierten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, verehrte Anwesende, sehr herzlich.

Ich begrüße ebenfalls - auch in Ihrem Namen - auf der Tribüne Damen und Herren des Regierungspräsidiums Halle.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Wir treten nun wieder in die dritte Sitzungsperiode ein. Vereinbarungsgemäß beginnen wir die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 2 - Aktuelle Debatte. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 8 und 9.

Da wir, wie Sie gestern Abend schmerzlich erfahren mussten, die Tagesordnungspunkte 16 und 17 bereits abgearbeitet haben, gehen wir danach zu Tagesordnungspunkt 10 über und arbeiten die Tagesordnung dann bis zum Schluss - wie vereinbart ohne Mittagspause - ab.

Daraus ergibt sich folgender veränderter Zeitplan für die Behandlung der Tagesordnungspunkte: Tagesordnungspunkt 10 wird voraussichtlich von 11.50 bis 12.50 Uhr behandelt werden, Tagesordnungspunkt 18 von 12.50 bis 13.25 Uhr und Tagesordnungspunkt 19 von 13.25 bis 14 Uhr. Somit werden wir die heutige Sitzung voraussichtlich um 14 Uhr schließen können.

Meine Damen und Herren! Wir treten nun in die Behandlung des Tagesordnungspunktes 2 ein:

Aktuelle Debatte

Der Antisemitismus als eine Gefahr für die politische Kultur und die Demokratie in Deutschland - Positionen der im Landtag vertretenen Parteien

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/40

Ich darf darauf hinweisen, dass die Redezeit je Fraktion zehn Minuten beträgt. Der Landesregierung steht ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten zu; sie hat allerdings auf einen Redebeitrag verzichtet.

Für die Debatte ist folgende Reihenfolge der Redebeiträge vorgeschlagen worden: PDS, FDP, SPD und CDU. Zunächst erteile ich dem Antragsteller, der PDS, das Wort. Frau Dr. Sitte, bitte, Sie haben die Möglichkeit zu sprechen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehöre einer Generation an, deren politisches Denken und Werten in Bezug auf den Nahost-Konflikt bis 1989 sehr einseitig geprägt wurde. Meine Parteinahme richtete sich damals gegen die Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Ich hielt diese solidarische Haltung auch gegenüber der PLO als politischer Organisation dieses Freiheitskampfes für richtig.

Die antiisraelische Haltung der offiziellen DDR-Außenpolitik habe ich zur Kenntnis genommen. Ich habe sie nicht infrage gestellt und ich war, wenn ich mich recht

erinnere, auch nicht wirklich an Aufklärung über die Situation in Israel interessiert. Ich meinte schlicht und ergreifend genügend zu wissen.

Für jüdische Kultur und Tradition interessierte ich mich dagegen schon immer außerordentlich. Ich stellte immer wieder fest, dass viele meiner Lieblingsschriftsteller Juden waren, die größtenteils Deutschland um 1933 verlassen mussten, viele Jahre in der Emigration verbrachten und durchaus nicht alle die Kraft aufbrachten oder aufbringen wollten, nach Deutschland zurückzukehren.

Mein Fachgebiet Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität in Halle kam und kommt ohne die Beschäftigung mit der Geschichte der Juden und des Judentums nicht aus. Nur vage wusste ich etwas von Diskriminierungen und Verfolgungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger in der Zeit des Stalinismus.

In den letzten Jahren der DDR erschien eine ganze Reihe von Büchern, die jüdische Geschichte beschrieben. „Der gelbe Fleck“ von Schuder und Hirsch gab einen beklemmenden Exkurs über ein langes düsteres Kapitel deutscher Geschichte. Heinz Knoblochs wunderbare Bücher habe ich, wie viele meiner Freunde, verschlungen, „Meine liebste Mathilde“ und „Herr Moses in Berlin“ beispielsweise - das sollten Sie unbedingt lesen.

Die Brücke nach Israel baute sich mir erst in der intensiven Vorbereitung des ersten Besuchs von Vertreterinnen und Vertretern dieses Landtages in Israel, zustande gekommen auf Drängen des damaligen Landtagspräsidenten Dr. Keitel.

Das heißt, mein ohnehin vorhandenes Interesse für jüdische Kultur und Geschichte kam in der Gegenwart an. Mit der Ergründung von Geschichte, von Ursachen und Hintergründen politischer und religiöser Konfrontation im Brennpunkt Nahost öffnete sich mir auch der Blick für die andere Seite. So oder ähnlich wird es wohl auch vielen anderen Ostdeutschen ergangen sein.

Heute ist mir als Erfahrung wichtig, dass einseitige Parteiname zwangsläufig ein Verständnis für den Gesamtkonflikt blockiert. Das muss man erst recht von Politikerinnen und Politikern erwarten, die immer schon die Chance hatten, beide Seiten zu erkennen und beide Seiten auch zu werten.

Ich gehöre aber auch zu der Generation, deren antifaschistische Haltung nicht beendet war, als die so genannte Verordnung von oben aufhörte. Diese Haltung ist mir nie nur Ratio; Humanismus hat für mich auch eine ganz starke emotionale Seite.

Antifaschismus gehört und gehörte zum politischen Grundkonsens beider deutscher Staaten. Auch wenn Antifaschismus immer noch nicht als Wert in das Grundgesetz aufgenommen worden ist, so wissen wir doch alle, die dafür stehen, dass weder Antifaschismus noch der Kampf gegen Antisemitismus, dass weder Antirassismus noch der Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit per Deklaration durchgesetzt und verwirklicht werden können.

Dennoch entsetzt mich immer wieder, wie lebendig fremdenfeindliche und antisemitische Grundstimmungen unter der Bevölkerung sind. Das Wahlergebnis der DVU vor vier Jahren hat das nachhaltig belegt.

Unsere Festreden, die eine große Mehrheit der Bevölkerung in Abscheu und Ablehnung im Angesicht fremdenfeindlicher und antisemitischer Gewalt wähnen, stehen

wohl eher für den verzweifelten Wunsch, dass nicht wahr sein möge, was täglich im Land geschieht und was sich täglich auch im Internet abspielt.

Allein 3 473 antisemitische Straftaten zwischen 1998 und 2001 in der Bundesrepublik sind unmissverständliches Indiz dafür, dass sich unterhalb dieser amtlichen statistischen Schwelle der eigentliche Nährboden für solche Exzesse befindet. Auch rückläufige Zahlen sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Nährboden noch sehr stabil ist.

Günter Gaus schrieb von einer arglosen Grenznähe zum gewöhnlichen Antisemitismus, der sich weit verbreite. 20 bis 30 % der deutschen Bevölkerung seien latent antisemitisch. Seit Jahren ergeben Umfragen diese erschreckenden Zahlen.

Die Zustimmung zu einzelnen antisemitischen Stereotypen ist noch höher. Ein Drittel aller Deutschen vertritt die Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in der Welt hätten. Fast die Hälfte der Deutschen ist überzeugt, dass Juden versuchten, aus der Vergangenheit materiellen Vorteil zu ziehen. Unreflektiert werden antisemitische Vorurteile übernommen und von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

Ich halte die Sorge Michel Friedmans, der von einer Kultur der Verharmlosung spricht, für völlig berechtigt. Wir müssen endlich öffentlich zur Kenntnis nehmen, dass wir in einem Klima, in einer kulturellen Realität leben, in der Fremde und Antisemitismus zu einem Feindbild gehören, welches niemanden wirklich noch verwundert und erschüttert.

Weil Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus, nationale und völkische Grundstimmungen so eng beieinander stehen, haben wir uns vor jeder Art von Populismus zu hüten und uns von ihr abzugrenzen. Es macht Angst, dass es Politiker und Politikerinnen von demokratischen Parteien gibt, die um diesen Zusammenhang wissen und ihn um den Preis von mehr Wählerstimmen nicht nur ignorieren, sondern instrumentalisieren.

Die politische Bewertung von Konflikten, an welchem Ort der Welt auch immer, schließt immer auch Kritik ein. Das ist zwangsläufig so. Diese Bewertung muss sich aber um Objektivität bemühen, sonst endet sie eben wieder bei einseitiger Parteiname, die eine Konfliktlösungsstrategie mit nachhaltig stabiler Wirkung ausschließt.

Einseitige Wahrnehmung ist Bestandteil von Konfrontation. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Demokratie und Zivilgesellschaft mit der Vorstellungs- und Kulturwelt einer so genannten Volksgemeinschaft nicht vereinbar sind.

Im Westen gibt es eine längere Geschichte der Entwicklung von Zivilgesellschaft und Bürgersinn. Diese Bürgergesellschaft ist in den letzten Wochen auf eine harte Probe gestellt worden und diese Probe hält an.

Im Osten ist diese Bürgergesellschaft noch viel schwächer ausgeprägt, auch weil jüngste Erfahrungen mit ihr problematisch sind. Erinnert sei beispielsweise an soziale Erfahrungen. Gerade weil das so ist, spielen Regierung, Parteien, Verwaltung und Presse eine prägende Rolle. Signale, die aus diesem Raum kommen, sollten frei von diskriminierenden Schuldzuweisungen, von Vorurteilen, von Einseitigkeiten oder von diffusen Ängsten sein.

Meine Damen und Herren! Heute leben 95 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland.

In den Gemeinden hat ein Generationswechsel stattgefunden. Sie sind Teil unserer Bürgergesellschaft, ohne irgendeine Einschränkung an Grundrechten; hier ist ihre Heimat. Es geht also in der Auseinandersetzung nicht nur um Stil- oder Charakterfragen.

„Jeder einzelne Fall von Antisemitismus“

- hierzu zitiere ich aus der Debatte des Bundestages die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast -

„bedeutet nicht nur eine Bedrohung für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, sondern gefährdet zugleich uns selbst, unsere Demokratie und unsere Gesellschaft als Ganzes, weil auch wir betroffen sind.

Das Bekenntnis zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands, aber auch der erklärte Wille, alles daranzusetzen, dass die Erinnerung an den Holocaust nicht verblasst, war bisher unstrittiger Grundkonsens deutscher Politik. Das soll und muss auch so bleiben.“

Ich schließe mich diesem Zitat vollständig an. - Lassen Sie uns also dafür in Zukunft deutlich mehr tun, materiell und ideell.

Die gestrige Regierungserklärung des Ministerpräsidenten trug den Titel „Sachsen-Anhalt im Aufbruch - ein traditionsreiches Land mit Zukunft“. Zu dieser Tradition gehören jüdische Gemeinden, gehören jüdische Bürgerinnen und Bürger und gehören viele Menschen, die hier eine neue Heimat finden wollen und sollen; auch das macht die Zukunft dieses Landes aus.

Um nicht mehr, meine Damen und Herren, aber auch um nicht weniger ging es mir, ging es der PDS-Fraktion bei dem Antrag auf die heutige Debatte. Sie können erkennen, welchen Blickwinkel wir eingenommen haben und wie wir die Frage des Antisemitismus in dieser Gesellschaft zu behandeln und wie wir mit ihr umzugehen gedenken. Ich hoffe sehr, dass Sie diesem Grundanliegen in Inhalt und Form folgen können. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD und von Minister Herrn Prof. Dr. Olbertz)

Danke schön, Frau Dr. Sitte. - Meine Damen und Herren! Als Nächste spricht für die FDP-Fraktion die Abgeordnete Frau Pieper. Bitte sehr, Frau Pieper.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es unter anderem:

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich... Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstimmung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

So von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes im Jahr 1949 beschlossen. Eine Verfassung, die auf diese Grundrechte pocht, ist Grundlage für unseren demokratischen Rechtsstaat.

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt meines Erachtens keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Grundrechte in unserer Gesellschaft ge