Protokoll der Sitzung vom 07.05.2004

Auch im Ausschuss der Regionen sind sehr verschiedene Regionen vertreten. Es reicht von föderalen Ländern bis zu kleinen Gebietskörperschaften. Das kann eine spannende Debatte auch im Zusammenhang mit dem Thema Föderalismus werden.

Finanzierbar ist das; denn die Erweiterung wird uns nicht ärmer, sondern reicher machen - so der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung. Ich bin nicht so optimistisch wie EU-Kommissar Verheugen, der meint, die Ost

erweiterung kostet den deutschen Steuerzahler gegenwärtig nicht einmal 1 Milliarde € pro Jahr. Der Aufbau Ost sollte auch aus der Portokasse bezahlt werden. Für die Zeit nach dem Jahr 2006 hat das Hauen und Stechen auf jeden Fall schon eingesetzt.

Meine Damen und Herren! Ich halte auch die Debatte um das Steuerdumping für regelrecht europafeindlich und falsch.

(Herr Tullner, CDU: Warum denn?)

Der Steuerwettlauf hat doch schon vor Jahren begonnen.

(Herr Tullner, CDU: Eben!)

Die Ungarn haben Investoren ins Land geholt mit dem Angebot, dass sie dort zehn Jahre steuerfrei produzieren können. Auch in der alten EU gibt es große Unterschiede. Ich nenne nur Irland.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist eine Irreführung der Öffentlichkeit. Zum einen müssen die neuen Mitgliedsländer ab sofort ihren vollen Beitrag zum EU-Haushalt leisten, obwohl sie bis zum Jahr 2006 sogar weniger Fördergelder zur Verfügung haben, als ihnen eigentlich zustehen würden. Zum anderen müssen sie die Fördergelder genauso kofinanzieren wie wir. Wir wissen, wie schwierig es ist, wenn die öffentliche Hand keine Einnahmen hat.

(Zustimmung bei der PDS)

Insofern ist die Steuersenkung in Estland oder in der Slowakei für die betroffenen Länder eigentlich nur ein Bumerang,

(Herr Tullner, CDU: Das ist doch Quatsch!)

der zur weiteren Vertiefung der Widersprüche beitragen wird.

(Starker Beifall bei der PDS - Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

- Natürlich, Herr Kosmehl.

(Herr Kosmehl, FDP: Was ist denn in Irland?)

- Dann nehmen Sie einmal 19 % Steuern von armen Menschen und schauen, wie viel das am Ende ergibt.

(Zustimmung bei der PDS - Oh! bei der FDP - Herr Kosmehl, FDP: Hören Sie doch auf! - Herr Tullner, CDU: Ach! Sie wissen genau, dass es nicht so war! Das ist die Spitze des Eisberges! Sie wissen doch genau, wie es war!)

- Die durch das Militär niedergeschlagenen Hungerrevolten der slowakischen Roma sind in dem Zusammenhang hoffentlich nicht nur die Spitze eines Eisbergs.

(Starker Beifall bei der PDS)

Gerade hieran zeigt sich - diese Diskussionen haben wir auch nicht geführt -, wie schlecht die Erweiterung vorbereitet ist. Steuerharmonisierung, Mindestlöhne, Sozialstandards waren bis jetzt keine Themen für die Regierung. Die wohl größte Befürchtung vieler Bürgerinnen und Bürger ist, dass osteuropäische Arbeitskräfte nun in Massen in die Bundesrepublik und in Sachsen-Anhalt einfallen.

(Zuruf von der CDU)

Ich stimme zu: Diese Sorge ist relativ unbegründet; denn die, die hier arbeiten wollen, sind schon hier. Polnische Saisonarbeiterinnen und -arbeiter bei der Spargelernte in der Altmark

(Zuruf von Herrn Ernst, FDP)

oder am Süßen See sind bei uns seit Jahren auch ohne eine EU-Mitgliedschaft herzlich willkommen.

Aber die Einschränkung der Freizügigkeit von Arbeitskräften kann auch für uns sehr nachhaltige Auswirkungen haben; denn die Beitrittsländer werden mit Niedriglöhnen und niedrigen Sozialstandards zu geschützten Zonen. Kapital wird, wie bereits angekündigt, weiter dorthin abwandern und zusätzliche Arbeitslosigkeit bei uns hinterlassen.

Im Gegenzug aber können die Arbeitskräfte diesen Niedriglohnzonen nicht entkommen, da woanders ebenfalls bereits Arbeitsplätze abgebaut werden. Damit werden Zustände zementiert, die hierzulande negative wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Auswirkungen haben. Es ist janusköpfig, dem Kapital von Anfang an Freizügigkeit zu gewähren, wohl wissend, dass es gerade dorthin geht, wo billige Arbeitskräfte sind.

Sachsen-Anhalt könnte im Bund initiativ werden und Gesetze einbringen, die die Verlagerung von Unternehmen in Billiglohnländer erschweren, indem sie diesen die wahren Kosten der Verlagerung in Rechnung stellen. In Frankreich wird dies übrigens bereits mit Erfolg praktiziert. Die Unternehmer müssen dort die im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit ihrer ehemaligen Beschäftigten anfallenden Kosten tragen, wenn sie deren Arbeitslosigkeit direkt verschuldet haben. Dies wäre auch auf bundesdeutscher Ebene selbst notwendig, um dem Subventionswettstreit zwischen den Bundesländern Grenzen zu setzen.

(Herr Tullner, CDU: Sie wollen alles vereinheit- lichen oder was? Es lebe der Einheitsstaat! - Frau Dr. Sitte, PDS: So ein Quatsch! - Frau Budde, SPD: So ein Schwachsinn! - Zurufe von Herrn Gallert, PDS, und von Frau Dr. Hein, PDS)

- Nicht: Es lebe der Einheitsstaat. Aber, Herr Tullner, man kann - wir diskutieren hier doch darüber, warum die Klemme AG nach Thüringen geht; dort werden nämlich in größerem Umfang Fördermittel eingesetzt - doch wohl einmal darüber nachdenken, dass auch Unternehmen nach dem Motto „Eigentum verpflichtet zum Gemeinwohl“ verpflichtet werden sollten, hier bestimmte Standards einzuhalten.

(Zustimmung bei der PDS - Zuruf von Herrn Gal- lert, PDS - Herr Tullner, CDU: Wir sind föderalis- tisch! - Frau Dr. Sitte, PDS: Sie bestimmt!)

In der Regierungserklärung geht es auch um SachsenAnhalt in einem neu verfassten Europa. Wir haben hier schon mehrfach über den Verfassungsentwurf debattiert. Trotz gemeinsamer euphorischer Beschlüsse, die, wie der Entwurf, immer nur ein Kompromiss waren, ist die künftige EU-Verfassung nicht besser geworden. Die Debatte ist zwar wieder eröffnet worden, aber man hört kaum etwas darüber.

Wir haben uns eindeutig gegen eine Militarisierung der EU und das, was im Verfassungsentwurf festgeschrieben ist, ausgesprochen. Wir sehen mit ähnlicher Sorge die aktuelle Entwicklung in der künftigen Innenpolitik. Wir

nehmen die Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor Kriminalität ernst und unterstützen die Bemühungen um eine Länder übergreifende Kriminalitätsbekämpfung. Es sind eine parlamentarische und gerichtliche Kontrolle der europäischen Strafverfolgungsbehörden wie Europol und der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte in ganz Europa sowie eine entsprechende Prävention notwendig. Darum geht es den Bürgerinnen und Bürgern.

Doch unter dem Stichwort „Innere Sicherheit“ sollen unter der Überschrift „Terrorbekämpfung“ Bürgerrechte abgebaut und Geheimdienste ausgebaut werden. Wir können von Glück sagen, dass das EU-Parlament vor einigen Tagen mit knapper Mehrheit den bisher größten Datenaustausch, den die Geschichte der Neuzeit zu verzeichnen gehabt hätte, abgelehnt hat.

Aus diesen Gründen, aber nicht nur deshalb, bleibt die PDS bei ihrer Forderung nach einer Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf. Wir werden in diesem Zusammenhang wieder mit der FDP stimmen.

(Zustimmung bei der PDS)

Gerade weil es um grundsätzliche Fragen geht, die weit in die nationale Politik der einzelnen Staaten hineinreichen, muss darüber nicht nur von Politikerinnen und Politikern debattiert werden; vielmehr müssen sie auch von einer Mehrheit der Menschen in Europa getragen werden.

Wir, die PDS - das will ich nachdrücklich betonen -, begrüßen den Beitritt der Länder in die Europäische Union. Die Erweiterung der Europäischen Union, die weitere Entwicklung der Union ist ein gewaltiges Projekt, dem wir uns stellen müssen.

Lassen Sie uns deshalb über die Möglichkeiten zur Nutzung der Chancen und die Strategien zur Bewältigung der Risiken diskutieren und die besten Lösungen suchen.

(Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Dr. Klein. - Die Debatte wird durch den Beitrag der CDU-Fraktion abgeschlossen. Ich erteile Frau Wybrands das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im November 1989 ging der Kalte Krieg zu Ende, die Berliner Mauer fiel. Es hat sich gezeigt, dass das wichtigste historische Projekt, das nach 1945 in Westeuropa begonnen wurde, auch eine Antwort für die Neuordnung Gesamteuropas bereithielt. Dieses Projekt hat viele politische Mütter und Väter. Ohne die Menschen, die in Danzig und auch in Leipzig für Freiheit und Demokratie demonstriert haben, wäre die Überwindung der europäischen Teilung unmöglich gewesen.

Noch vor zehn Jahren standen sich die Rote Armee und die Nato auf dem ersten Schlachtfeld eines drohenden dritten Weltkrieges gegenüber. Vor nicht viel mehr als zehn Jahren waren die Partnerstädte Magdeburg und Braunschweig Garnisonsstädte, in denen Zehntausende Soldaten stationiert waren. Wir wissen heute, dass das nächste Schlachtfeld Deutschland gewesen wäre.

Sehr geehrte Damen und Herren! Die Erweiterung der Europäischen Union liegt im aktuellen Interesse Sach

sen-Anhalts und Deutschlands. Ich möchte kurz auf die Chancen und Herausforderungen eingehen, die sich insbesondere für Sachsen-Anhalt ergeben. Ich möchte allerdings als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt nicht zusätzliche Diskussionsfelder eröffnen; vielmehr ist es mir wichtig, die Diskussion über die vielen Details, die mittlerweile schon genannt wurden, hinaus teilweise anzureichern.

Auch ich möchte zunächst auf den Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten eingehen, die vor vier Jahren in Lissabon beschlossen haben, Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das neue Konzepte verlangt. Dies gilt in besonderem Maße für uns in Deutschland und somit auch für uns in Sachsen-Anhalt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Ausführungen von Herrn Staatsminister Robra eingehen und unterstreichen, dass es auch die CDU-Fraktion für unverzichtbar hält, dass unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen bei einer angestrebten Partizipation an der Osterweiterung stärker unterstützt werden, damit sie ihre natürlichen Standortvorteile ausspielen können, und dass hierbei neue Wege gegangen werden; denn das ist nun einmal unser Spezifikum. 70 % der Unternehmen sind Kleinst- und Kleinunternehmen, denen die Erweiterung in den Osten hinein schwer fällt.

Selbstverständlich muss die Rolle Sachsen-Anhalts im Netzwerk der Chemieregionen weiter ausgebaut werden, um Arbeitsplätze zu sichern, zu halten und neue zu schaffen. Es ist keine Frage: Sachsen-Anhalt muss sich an der Erweiterung des europäischen Forschungs- und Innovationsraumes aktiv beteiligen, um seine Forschung weiter zu internationalisieren.

Nicht umsonst hat unsere Region vor kurzem in Brüssel einen Preis in Empfang nehmen können - in Person hat ihn Herr Staatssekretär Bohn in Empfang genommen. Dieser Innovationspreis wurde dem Fraunhofer Institut und fünf weiteren Firmen übergeben. Dieser Innovationspreis enthält keine finanzielle Auszeichnung; er zeichnet die Region - das ist unsere Region - als innovative Spitzenregion für die Zukunft aus. Das tat man nicht umsonst, meine Damen und Herren; denn unsere Region war einmal eine der kreativsten Europas. Sie hat die meisten Innovationen hervorgebracht. Das soll auch wieder so werden. Da müssen wir hin.

(Zustimmung bei der CDU)