Protokoll der Sitzung vom 15.12.2006

Es geht um Rechte und Pflichten für alle. Die Pflicht der Regierung ist es zu gewährleisten, dass allen Bürgern der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, Bildung und sozialem Schutz offen steht und die politischen, staatsbürgerlichen, sozialen und Arbeitsrechte gewährleistet sind.

Investieren in die Menschen: Die Europäische Union muss sich darauf konzentrieren, Bildung und Ausbildung in das Herz der Lissabon-Strategie zu rücken.

Integrierende Gesellschaften: Diejenigen mit einem hohen Risiko, ausgegrenzt zu werden - ältere Menschen, Langzeitarbeitslose, Frauen, Jugendliche, ethnische Minderheiten, unqualifizierte Arbeitnehmer, Menschen aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen und diejenigen, die unter mehrfacher Benachteiligung leiden -, fordern ein neues Engagement von Gesellschaft und Regierung, um Armut zu bekämpfen und eine neue Aussicht auf Integration und Beteiligung zu gewährleisten.

Universelle Kinderbetreuung: Die europäischen Länder sollten auf eine Kinderbetreuung für alle, die es wünschen, hinarbeiten. Eine erschwingliche und zugängliche Kinderbetreuung von hoher Qualität ist sowohl kurz- wie auch langfristig eine enorm positive Investition.

(Zustimmung bei der SPD)

Gleiche Rechte für Frauen und Männer: Trotz aller Fortschritte besteht noch immer eine große Ungleichheit zwischen Frauen und Männern. Wir müssen daran etwas ändern. Frauen sind die größte Gruppe, die aufgrund von Diskriminierung, unzureichenden Zugangsmöglichkeiten und ungleichen Bedingungen am Arbeitsmarkt benachteiligt ist.

(Unruhe)

Gleiche Rechte für Männer und Frauen sind nicht nur ein moralisches Muss, sie sind auch der Schlüssel zur Lösung der demografischen Herausforderungen.

(Zustimmung von Herrn Czeke, Linkspartei.PDS)

Sozialdialog: Der Sozialdialog muss auf allen Ebenen gestärkt werden, an den Arbeitsplätzen, in Tarifverhandlungen, auf der nationalen sowie der Branchen- und

Sektorenebene und in den europäischen Angelegenheiten, damit arbeitenden Menschen bei der Gestaltung

(Unruhe)

Ich bitte doch, den Schallpegel ein bisschen zu senken.

eines progressiven, neuen Gesellschaftsvertrages eine stärkere Stimme verliehen wird.

Verschiedenartigkeit und Integration zur Stärke machen: Eine nachhaltige und effiziente Migrationspolitik wird erforderlich sein, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu sichern und einen Beitrag zu wirtschaftlichem Fortschritt und Beschäftigung zu leisten.

Nachhaltige Gesellschaften, den Klimawandel in den Griff bekommen: Die Auswirkungen der Erderwärmung werden sowohl innerhalb Europas als auch in den Entwicklungsländern die Ungleichheiten verstärken, was die ärmeren, älteren und verletzlichsten Menschen am härtesten treffen wird. Es ist lebenswichtig, der wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeit für einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt Gewicht zu verleihen. Ohne sie hat unser Planet, unsere Heimat, keine Zukunft.

(Zustimmung bei der SPD)

Ein aktives Europa für die Menschen: Die EU ist mehr als nur ein Marktplatz. Die EU ist ein unabdingbarer Bestandteil des neuen sozialen Europas. Sie hilft den Regionen, zusammen mehr zu erreichen, als sie es allein könnten. In der neuen globalen Wirtschaft kann unser neues soziales Europa schrittweise verwirklicht werden, wenn wir weiterhin auf einer ausgewogenen Basis aufbauen, die aus Wettbewerb, der stimuliert, Zusammenarbeit, die stärkt, und Solidarität, die vereint, besteht. - So weit Auszüge aus dem Beschluss des SPE-Kongresses der letzten Wochen.

Neben diesem sozialen Punkt ist mir - wie eben schon kurz angeklungen - das Thema Entwicklungszusammenarbeit sehr wichtig. Mir scheint dieses Thema in dem Programm der deutschen Präsidentschaft etwas unterbelichtet zu sein. Wer einmal in das Programm hineingeguckt hat: Das Thema Entwicklungszusammenarbeit ist unter, ich glaube, 25 aufgelisteten Punkten der letzte. Das ist mir deutlich zu wenig.

(Zustimmung von Frau Budde, SPD)

Ich würde mir wünschen, dass Deutschland in diesem Bereich auch neue Akzente setzt.

Ähnlich wie Gerhard Schröder damals hält sich Angela Merkel derzeit bei europakritischen Bemerkungen deutlich zurück. Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb gestern dazu: „Nie redete sie so europafreundlich wie heute.“ Das lässt hoffen. Das sage ich jetzt dazu, nicht die „Frankfurter Rundschau“.

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 13. Vorsitz für Deutschland beginnt übrigens am 1. Juli 2020. Wer sich den Termin vormerken will: Es ist ein Mittwoch. Wer weiß, wer dann von uns wo was macht? Wer dann allerdings Kanzler sein wird und die Ratspräsidentschaft für Deutschland übernehmen wird, das ist jetzt noch offen. Personalvorschläge dazu erspare ich mir. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksam

keit und wünsche auch dem Thema weiter hohe Bedeutung.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU)

Herzlichen Dank für den Beitrag. - Ich rufe jetzt den nächsten Debattenredner auf, Herrn Czeke von der Linkspartei.PDS. Bitte, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mindestens 18 Monate lang müsste das erste Halbjahr 2007 dauern. Vom 1. Januar bis zum 30. Juni kommenden Jahres übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft in der EU. Im Präsidentschaftsprogramm sind so viele Ziele und Absichten genannt, dass sechs Monate beim besten Willen nicht ausreichen. Die Möglichkeiten der halbjährlich rotierenden Ratspräsidentschaften werden überschätzt. Die deutsche Ratspräsidentschaft überschätzt sich dabei erst recht.

(Frau Weiß, CDU, und Herr Tullner, CDU: Na, na, na!)

Schon jetzt gibt es im EU-Musterland Bundesrepublik Umsetzungsprobleme beim Emissionshandel, bei der Preisgestaltung auf dem Strommarkt, bei den Antidiskriminierungsrichtlinien, bei einer Bodenschutzrichtlinie. Oder ich sage nur: Tabakwerbeverbot und Nichtraucherschutz.

Während des nächsten halben Jahres werden die innenpolitischen Probleme übertüncht und einfach liegen gelassen. Dazu kommt noch die parallele deutsche Präsidentschaft bei der G 8, wie es auch schon im Jahr 1999 der Fall war.

Das 25-seitige Präsidentschaftsprogramm ist überfrachtet mit Themen, die unkonkret untersetzt sind: die EUVerfassung, Klimaschutz, Energiepolitik, die Gestaltung der sozialen Zukunft, Kulturpolitik - wir hörten es eben schon.

Neben diesen nicht untersetzten Schwerpunkten finden sich noch „Schmankerl“ wie der Ausbau des europäischen Sicherheitsraumes und der Bürokratieabbau. Dabei hätte sich die Bundesregierung, die für ihre Programmgestaltung keine transparente und öffentliche Debatte brauchte, einfach auf die drei größten Baustellen konzentrieren müssen:

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

die Demokratisierung der EU, das Errichten einer sozialen EU und die Friedens-EU.

Die EU-Verfassung - dies hörten wir bereits - soll erst gegen Ende der Deutschen Ratspräsidentschaft aus der Versenkung geholt werden. Wesentliche Fragen wie die des Verfassungsvertrages werden eher nach den Wahlen in Frankreich zu entscheiden sein - das betonte Frau Merkel in der vergangenen Woche in der „Süddeutschen Zeitung“. - Hört, hört!

Nach ihrem Verständnis trägt die Bundesregierung mit der Fortführung des gescheiterten EU-Verfassungsprozesses zur Demokratisierung der EU bei. Sie negiert dabei die ablehnenden Referenden in Frankreich und in den Niederlanden. Nötig ist aber ein neuer Alternativvertrag mit öffentlicher Debatte und Referendum.

Der Bundespräsident selbst hat das Gesetz mit Rücksicht auf ausstehende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht ausgefertigt und damit das Verfahren unterbrochen. Dennoch wird die Bundesregierung nach eigenen Angaben alles unternehmen, um die Vorzüge des Verfassungsvertrages öffentlich zu diskutieren, also um ihn irgendwie doch durchzukriegen.

Folgende Grundsatzregelungen gehören unserer Meinung nach in einen alternativen Verfassungsvertrag: Neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss gleichrangig und analog zum Grundgesetz die Sozialstaatlichkeit stehen. Für die Menschen in Sachsen-Anhalt und anderswo ist es wichtig, ein Recht auf menschenwürdige und existenzsichernde Arbeit und das Recht auf soziale Sicherheit einschließlich des Rechts auf Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung zu haben. Der Verfassungsprozess muss unter demokratischer Legitimation und Zusammensetzung neu begonnen werden.

Fehlende Demokratie und Legitimation zeichnen auch die G 8 aus. Diese Konstruktion der acht wirtschaftlich stärksten Staaten der Erde trifft Absprachen und Beschlüsse von globaler Bedeutung, ohne dass die überwiegende Zahl der von diesen Entscheidungen Betroffenen in irgendeiner Weise repräsentiert wäre. Darüber können die Alibibeschlüsse der G 8 zum Schuldenerlass oder zur angeblichen „Hilfe für Afrika“ nicht hinwegtäuschen. Die G 8 repräsentiert 13 % der Weltbevölkerung, aber 65 % des Welteinkommens. Unter ihrer Wirtschafts-, Energie-, Umwelt- und Sozialpolitik leiden Milliarden Menschen.

Als Feigenblatt liest sich die Gestaltung der sozialen Zukunft Europas im Präsidentschaftsprogramm in folgenden zwei ambitionierten Sätzen so:

„Insbesondere durch eine Intensivierung ihrer Zusammenarbeit sollen die Mitgliedstaaten sowie die EU ihr Engagement für das soziale Europa deutlich machen. Dies ist von wesentlicher Bedeutung für die Akzeptanz der europäischen Integration bei den Bürgerinnen und Bürgern.“

Es findet sich kein Satz zu einem europäischen Mindestlohn, zu der Ausdehnung der Entsenderichtlinie auf alle Branchen, zu dem Schutz der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu Leistungen vor Marktinteressen.

Im europäischen Jahr der Chancengleichheit, das übrigens auch im Jahr 2007 begangen wird, fehlen im deutschen Programm konkrete Initiativen zur Angleichung von Lohnunterschieden von Männern und Frauen - löblich: Herr Tögel sprach davon -, zu der Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen oder zum Ausbau der Antidiskriminierung.

Die Bundesregierung muss aber die sozialen Dimensionen der europäischen Integration zu einem prioritären Ziel machen. Ein Element einer neuen sozialen Politik ist die unbedingte und verbindliche Einführung von sozialen Grundrechten in einer überarbeiteten europäischen Verfassung.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Teilzeit- und Vollbeschäftigung sind im Hinblick auf Karrierechancen, Stundenentgelte, Sozialleistungen und Weiterbildung gleichzustellen. Diese Prinzipien müssen in der Diskussion um das Grünbuch zum Arbeitsrecht und die Grundsätze zur Flexicurity, wie die Europäische Union es zu nennen pflegt, von der Bundesregierung verfolgt werden.

Viel Ehrgeiz wird hingegen beim Schutz der Außengrenzen durch die Stärkung der Grenzkontrollagentur Frontex entwickelt, um die Migrationsabwehr zu sichern. Die von der Europäischen Union seit den 90er-Jahren betriebene Politik der Abschottung gegenüber Armutsflüchtlingen, Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten hat an den EU-Außengrenzen bereits mehr als 10 000 Menschen das Leben gekostet. Darüber spricht niemand gern.

Obwohl die Zahl der Asylbewerber so niedrig ist wie seit zehn Jahren nicht mehr, wird das System der Abschottung weiter perfektioniert. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex soll Löcher in den „Festungsmauern“ der EU schnellstmöglich schließen und eine effektivere Abschiebungspolitik organisieren; sonst muss der Exportweltmeister gerade den erwirtschafteten Reichtum mit Eindringlingen teilen. Ich erinnere an die Bilder von Flüchtlingsschiffen vor Sizilien.

Für die deutsche Ratspräsidentschaft hat die globale Kriegsführungsfähigkeit der EU eine große Priorität. Im Programm der Ratspräsidentschaft heißt es:

„Die Fähigkeit der EU, zivile und militärische Instrumente zur Krisenvorbeugung und -bewältigung einzusetzen, soll unter anderem im Rahmen der Planzielprozesse (Streitkräfteplanziel 2010, zivi- les Planziel 2008) gestärkt werden. Besonderes Augenmerk gilt den schnell verlegbaren europäischen Gefechtsverbänden, die vom 1. Januar 2007 an für Einsätze in Krisengebieten zur Verfügung stehen. Bei der Planung und Durchführung von ESVP-Operationen soll die zivilmilitärische Koordinierung gestärkt werden, um die autonome Handlungsfähigkeit der ESVP“

- „ESVP“ steht für europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik -