In Wahrheit - das gestehe ich mir jedenfalls ein - stehen die erzielten Kompromisse in einem krassen Missverhältnis zu den ursprünglichen Zielen der Gesundheitsreform.
Auch wenn es heute schon einige Male erwähnt worden ist: Nach der bestehenden Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und CDU/CSU sollte ein leistungsfähiges, solidarisches und demografiefestes Gesundheitswesen installiert, ein fairer Wettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Krankenkassen geschaffen und die nachhaltige und gerechte Finanzierung des Systems sichergestellt werden. Nicht zu vergessen - davon spricht niemand mehr - sind die Reduzierung der Lohnnebenkosten und die Verminderung des bürokratischen Aufwandes.
Als Fazit muss man sagen: Nichts ist davon übrig geblieben. Es gibt keine finanzielle Entlastung der Versicherten, sondern perspektivisch eine Belastung der Versicherten ohne eine Verbesserung der Versorgungssituation. Es wird keinen gerechten Wettbewerb der gesetzlichen Krankenversicherungen untereinander oder gar mit der privaten Krankenversicherung geben.
In der Zeit, in der sich die Koalition misstrauisch gegenseitig kontrollierte, gelang es den Krankenkassen, den Krankenhäusern, den Ärzten, den Apotheken und vor allem den Pharmazieunternehmen, viele der Einspar- und Effizienzvorschläge entscheidend abzuschwächen bzw. herauszuverhandeln.
Besonders gravierend ist aber - das ist heute überhaupt noch nicht angesprochen worden -, dass der gefundene Kompromiss keine Regelung von Dauer sein wird. Das wird am Herzstück der Gesundheitsreform, dem Gesundheitsfonds, deutlich. Selbst wenn das Reformwerk am 1. April 2007 in Kraft treten sollte - davon ist auszugehen -, wird der Gesundheitsfonds zusammen mit dem Krankheitslastenausgleich bzw. dem Risikostrukturausgleich erst im Jahr 2009 in Kraft treten. Im Jahr 2008 soll erst endgültig über die Ausgestaltung des Fonds beraten und entschieden werden. Dies ist die Zeit nach der Landtagswahl in Bayern und unmittelbar vor der Bundestagswahl.
Die CDU/CSU - das hat sie schon mehrfach angesprochen - will den Krankheitslastenausgleich auf gar keinen Fall. Man wird sich also Ende 2008 über den Fonds entweder nicht in allen Einzelheiten oder überhaupt nicht einigen können und ihn zum Wahlkampfthema machen.
Da aber bereits ab 2007 zwischen den Krankenkassen ein heftiger Wettbewerb toben wird, ohne dass es einen Morbiditätsrisikostrukturausgleich gibt, werden die Krankenkassen mit einem hohen Anteil an alten und chronisch kranken Versicherten schon vorher sehr hohe Beiträge erheben müssen. Darüber hinaus wird der Wettbewerb der Krankenkassen um Gesunde dazu führen, dass notwendige Versorgungsstrukturen für chronisch Kranke nur halbherzig entwickelt oder gar nicht angeboten werden.
Erschwerend kommt für die Krankenkassen hinzu, insbesondere für AOKs, dass sie sich bis Ende 2007, spätestens bis 2008 entschuldet haben sollen. Das wird sich erst dann so richtig verheerend auswirken, wenn die Beitragsunterschiede durch Zusatzbeiträge ausgeglichen werden müssen. Eine AOK muss dann möglicherweise Beträge von 20 € bis 30 € monatlich zusätzlich zum
Durchschnittsbeitrag einfordern, während zum Beispiel eine Ersatzkrankenkasse ihren Mitgliedern monatlich 30 € erstatten kann.
Spätestens dann ist Schluss mit der Geduld vieler noch freiwillig Versicherter. Es ist zu befürchten, dass diese in die private Versicherung wechseln oder zumindest in eine Krankenkasse mit vielen gesunden Mitgliedern, die Beiträge rückerstatten kann. So wird das, worauf wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer noch stolz sein können, nämlich unsere solidarische gesetzliche Krankenversicherung, an die Wand gefahren und dereguliert. Auf der Strecke bleiben diejenigen, die keiner will und die deshalb unserer Solidarität am meisten bedürfen: die Armen und die chronisch Kranken.
Darauf haben auch alle Sozialverbände aufmerksam gemacht. Der Erhalt der solidarischen Krankenversicherung - deswegen habe ich gesagt: wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - ist eines unserer wichtigsten politischen Ziele. Diese bekräftigen wir gerade wieder im Entwurf unseres neuen Grundsatzprogramms.
So eklatant wie Theorie und Praxis an dieser Stelle auseinander klaffen, ist es nicht verwunderlich, dass einer Umfrage des Forsa-Instituts zufolge - sie ist schon erwähnt worden - nur jeder fünfte Bundesbürger begreift, was die Bundesregierung mit der Gesundheitsreform vorhat. 79 % verstehen hingegen nichts. Des Weiteren sehen 86 % nur noch ein Hickhack, aber kein erkennbares Konzept mehr.
Nichtsdestotrotz wird die Reform die notwendigen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat finden, schon allein deshalb, um sie aus dem Medieninteresse zu bekommen und um gegenüber der Bevölkerung ein Ergebnis vorweisen zu können. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass das nicht gelingen wird.
Schon jetzt ist die Diskussion über die notwendige Finanzierung des an Bulimie erkrankten Gesundheitsfonds durch die stellvertretende SPD-Fraktions- und Parteivorsitzende Elke Ferner erneut eröffnet worden, indem sie eine Sozialsteuer bzw. einen Aufschlag auf die Einkommensteuer fordert. Da man auf spürbare Kostensenkungen verzichtet hat, braucht das Gesundheitswesen zusätzliche Haushaltsmittel, wenn die Kassenbeiträge nicht ins Uferlose wachsen sollen.
Es wird sich schnell rächen, dass dem Gesundheitsreformkompromiss kein zukunftsweisendes Finanzierungsmodell zugrunde liegt. Das ist schon angesprochen worden. Das haben auch namhafte Gesundheitsfachleute der SPD wie Karl Lauterbach, Wolfgang Wodarg und Hilde Mattheis zum Ausdruck gebracht. Deshalb ist es für mich unverständlich, dass diese sich am 31. Januar 2007 im Gesundheitsausschuss vertreten lassen, damit die Stellvertreter mit Ja stimmen, anstatt auch dort ihre Ablehnung deutlich zu machen.
Dies hat meiner Meinung nach nichts mit Fraktionsdisziplin zu tun, die es nicht erlaubt, gegen eigene Gesetze zu stimmen. Eine Neinstimme am 2. Februar 2007 im Bundestag in der Gewissheit, dass die Koalition über eine ausreichende Mehrheit verfügt, würde vielleicht dazu beitragen, das schlechte Gewissen zu beruhigen. Die
Frau Abgeordnete Grimm-Benne, es gibt zwei Nachfragen, zum einen vom Abgeordneten Herrn Tullner und zum anderen vom Abgeordneten Herrn Kosmehl. Sind Sie bereit, sie zu beantworten? - Bitte, Herr Tullner.
Frau Kollegin, Sie haben nun sehr ausführlich über die Gesundheitsreform in ihren ganzen Fassetten gesprochen. Dazu möchte ich mich nicht auslassen, weil ich mich auf diesem Gebiet viel zu wenig auskenne.
Ich habe nur eine Frage. Sie sagten: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz auf unser solidarisches Gesundheitssystem. - Nach meiner Erinnerung war es der Reichskanzler Otto von Bismarck, der dieses System in Deutschland eingeführt hat. Meine Frage lautet: Nehmen Sie ihn jetzt als Sozialdemokraten in Anspruch?
Herr Tullner, ich würde jeden zur Hilfe nehmen, der dazu beiträgt, dass wir die solidarische Krankenversicherung beibehalten.
Frau Kollegin, ich habe zwei Fragen. Erste Frage. Sie haben von zusätzlichen Haushaltsmitteln gesprochen. Ich frage Sie ganz konkret: Würden Sie dafür plädieren, Steuererhöhungen oder eine neue Steuer einzuführen, um die Gesundheitsreform zu finanzieren?
Zweite Frage. Viele der Argumente, die Sie heute vorgebracht haben, teile ich durchaus, insbesondere das Plädoyer für das Nebeneinander von GKV und privaten Krankenversicherungen.
- Sie haben gesagt, dass das ein Reformziel war. - Werden Sie oder wird Ihre Fraktion den Bedenken, die Sie hinsichtlich der jetzt zu verabschiedenden Gesundheitsreform gerade vorgetragen haben, dadurch Ausdruck verleihen, dass Sie die Landesregierung bitten, sich im Bundesrat der Stimme zu enthalten?
Ich habe in meiner Rede sehr oft von meinem persönlichen Standpunkt gesprochen. Ich persönlich würde der
Das sehen andere Fraktionsmitglieder aber natürlich ganz anders. - Der zweite Punkt ist mir entfallen.
- Das Problem habe ich deutlich gemacht. Man braucht dann frisches Geld, um diesen Gesundheitsfonds zu füttern, wenn man an allen anderen Stellen nachgegeben hat. Alle Einsparungsmöglichkeiten - deshalb habe ich auch von einem „wässrigen Tee“ gesprochen - sind nach und nach herausverhandelt worden, sowohl die Einsparungen, die man bei den Krankhäusern beabsichtigt hatte, als auch die Einsparungen, die man erzielen wollte, indem man die privaten Krankenversicherungen mit einbezogen hat, damit sich der Gesundheitsfonds füllt.
Wenn auf der einen Seite nichts vorhanden ist, dann muss es woanders hergeholt werden. Das wissen wir auch. Wir wissen, dass dieser Gesundheitsfonds chronisch unterfinanziert ist und dass man tatsächlich noch einmal überlegen muss, wie er zukünftig finanziert werden soll.
Herzlichen Dank für die Beantwortung. - Weitere Fragen sehe ich nicht. Wir sind damit am Ende der Debatte angelangt. Beschlüsse in der Sache werden nicht gefasst.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, begrüße ich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Querfurt und Gäste der Landeszentrale für politische Bildung. Herzlich willkommen!
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