Die Debatte hat gezeigt, dass wir bei diesem Thema immer wieder viel Ideologie und wenig Empirie hören. Aber ich habe eine Frage, Herr Professor Paqué, an Sie selber: Sind Sie persönlich nun eigentlich für oder gegen starke Verbände, die schließlich hinterher die Verhandlungen führen? - Das habe ich in den letzten Jahren nicht ganz herausbekommen können.
Ich beginne mit dem letzten Punkt, der sehr wichtig ist. Es gibt zwei Wege, den Arbeitsmarkt zu organisieren. Der eine Weg ist der Weg mit relativ schwachen Verbänden. Das ist übrigens nicht lenkbar. Das ist oft historisch bedingt.
Der andere Weg ist der Weg von Ländern wie Schweden und Deutschland, die traditionell starke Verbände haben. Wenn diese Institutionen vorhanden sind, dann muss man das akzeptieren und ein komplementäres staatliches Umfeld schaffen, das eine sinnvolle Lohnfindung möglich macht. Das haben wir in Deutschland. Wir haben das Tarifvertragsgesetz, das meines Wissens nie substanziell geändert wurde.
- Frau Budde, lassen Sie mich jetzt ausreden. Das sind ernsthafte Themen. Dass wir sie überhaupt in diesem Hause an dieser Stelle besprechen, ist ja Ihr Verdienst. Dann lassen Sie mich bitte das Argument in Ruhe ausführen.
Wir haben ein Tarifvertragsgesetz, das sich im Wesentlichen bewährt hat. Es legt für die Allgemeinverbindlichkeit sehr enge Bedingungen fest und dabei sollten wir bleiben. Es berücksichtigt die legitimen Interessen der Verbände - einschließlich der Gewerkschaften - und ihrer Mitglieder, lässt aber in bestimmten, eng umgrenzten Fällen eine Allgemeinverbindlichkeit zu. Eine Ausweitung dieser Fälle halte ich nicht für sinnvoll. Ich halte dieses Modell in Deutschland für richtig und sinnvoll. Es gibt auch andere Wege. Aber wir können uns nicht aus unterschiedlichen Systemen das Beste herauspicken. Das geht schief.
- Doch, Frau Budde, meine Position gegenüber der Tarifautonomie ist positiv. Das ist ganz eindeutig.
Wenn Menschen sich zusammenschließen, wenn Arbeitgeber sich zu Verbänden zusammenschließen und für ihre Mitglieder die Arbeitsbedingungen aushandeln wollen, dann werden wir Liberale selbstverständlich nichts dagegen haben. Das ist doch ein selbstverständlicher Ausfluss der positiven Koalitionsfreiheit, von Artikel 9.
Aber es gibt auch eine negative Koalitionsfreiheit. Wir stehen vollständig hinter der verfassungsmäßigen Interpretation des Artikels 9, wie sie in einer ganzen Reihe von Urteilen auch des Bundesverfassungsgerichtes geliefert wurde, und zwar sowohl auf der positiven als auch auf der negativen Seite der Koalitionsfreiheit. Das ist die liberale Position und das ist auch meine persönliche Position.
Das ist doch völlig klar: Wenn Unternehmen und Arbeitnehmer sich zu Organisationen zusammenschließen und bestimmte Tarifergebnisse für ihre Mitglieder gemeinsam unterschreiben, dann ist das ihr gutes Recht. Aber es ist eine viel komplexere Frage, unter welchen Umständen diese Bedingungen auf andere übertragen werden können. Wettbewerb heißt auch Außenseiterkonkurrenz. Dahinter stehen wir als FDP. Denn in dieser Außenseiterkonkurrenz stehen gerade in unserem Land, in Ostdeutschland die vielen Arbeitsplätze, die in diesem Bereich geschaffen wurden.
Frau Rogée, was die 68 % betrifft, eine ganz einfache Antwort: Es ist in der Tat so, dass es - das ist bei Ihnen übrigens nicht anders - bei vielen Fragen unterschiedliche Meinungen bei den Wählern gibt. Das liegt übrigens zum Teil natürlich auch daran, dass Menschen, auch die Wähler, sich nicht mit jeder Frage so intensiv
- Meine liebe Frau Budde, so ist das. Ich kann das sehr drastisch formulieren. Wir erleben zum Beispiel immer wieder, dass die Wählerschaft aller Seiten dieses Hauses gerne einen Staat sehen würde, der völlig unangemessen drakonische Strafen auferlegt. Das darf aber weder uns als Liberale noch Sie als Sozialdemokraten oder andere dazu verführen, eine Politik zu betreiben, die dieser populistischen Meinung nachgeht. Wir in diesem Landtag haben auch die Aufgabe, nicht jeder Wählerstimmung und jeder populistischen Stimmung nachzugehen. Vielmehr müssen wir vernünftige Politik für die Zukunft dieses Landes betreiben.
Meine Damen und Herren! Deswegen beunruhigen mich als Parteipolitiker natürlich diese 68 %. Wir müssen sehen, dass wir unsere eigenen Wähler überzeugen. Das ist ganz klar. Aber das ist eine völlig normale Situation, die wir alle in diesem Raum haben.
Nächster Punkt, Frau Rogée: Großbritannien. Ich will jetzt nicht wieder auf den Punkt zurückkommen - den ich eben schon erwähnt habe -, dass es natürlich völlig unterschiedliche Traditionen gibt. Es gibt in Großbritannien - einem sehr demokratischen Land - eine lange Tradition der Royal Commissions, die relativ starke Aufgaben übernehmen, die in Deutschland, in unserer Tradition nicht als Ersatz für parlamentarische Arbeit oder exekutive Aufgaben akzeptiert würden. Das ist eine britische Tradition. Deswegen bin ich generell skeptisch, ob eine solche Kommission in Deutschland entsprechend funktionieren würde.
Ich sage Ihnen ganz klar: Ich bin selber Wissenschaftler, aber ich will nicht, dass die Wissenschaftler die Löhne festlegen. Das halte ich für einen falschen Weg. Wissenschaftler haben in unserer Gesellschaft eine andere Aufgabe. Wenn die Gewerkschaften und die Arbeitgeber dort am Tisch sitzen, dann stellt sich natürlich wieder genau die gleiche Frage, die wir eben behandelt haben. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sich zusammensetzen und Löhne bestimmen - aber bitte nur für ihre Mitglieder.
Sie haben nicht die Funktion, das für die Gesellschaft als Ganzes zu bestimmen. Das ist wirklich eine Grundfrage einer freiheitlichen Organisation.
Frau Rogée, ich habe nicht gesagt, das sei undemokratisch. Die demokratische Tradition umfasst viele Modelle. Europa ist außerordentlich vielfältig. Da gibt es den britischen Weg. Da gibt es aber auch den schwedischen Weg. Schweden hat außerordentlich starke Gewerkschaften, aber keine Mindestlöhne.
Zum letzten Punkt. Herr Miesterfeldt, Sie baten mich, den Tag zu nennen, an dem Sie das formuliert haben. Ich kann mich entsinnen, dass Sie im Zusammenhang mit der Diskussion um die Postdienstleistungen den Weg, der von der Bundesregierung damals avisiert wurde, mir gegenüber als falsch dargestellt haben. Wenn
Sie das korrigieren, wenn Sie das jetzt anders sehen, ist das vollkommen in Ordnung. Jeder kann seine Meinung ändern.
Aber richtig ist natürlich - das will ich deutlich sagen -, dass es in der Vergangenheit in der Sozialdemokratie Leute wie Karl Schiller gab, die die Rolle, die die Tarifautonomie als eine Säule der freiheitlichen Verfassung in Deutschland und in der sozialen Marktwirtschaft spielt, sehr ernst genommen haben. Diesen Ernst vermisse ich bei der Diskussion bei den Sozialdemokraten im Moment in der Tat.
Meine Damen und Herren! Bevor ich Herrn Gürth von der CDU das Wort erteile, begrüße ich Gäste auf der Nord- und der Südtribüne, und zwar Seniorinnen und Senioren aus Cösitz sowie Schülerinnen und Schüler des Winckelmann-Gymnasiums Stendal. Herzlich willkommen!
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will gleich zu Beginn der Debatte sagen: Die CDU ist und bleibt für die grundgesetzlich geschützte Tarifvertragsfreiheit.
Wir sind für starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände. Die CDU ist für einen funktionierenden Arbeitsmarkt, wo durch Angebot und Nachfrage für gute Arbeit auch guter, gerechter Lohn eingefordert und gezahlt wird. Natürlich sind - das ist hier völlig außen vor geblieben; die SPD hat das zur Disposition gestellt - sehr viel mehr ordentliche, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse erforderlich, damit ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herrscht, damit hinreichend qualifizierte Arbeitnehmer hinreichend gute Arbeitsplatzangebote haben, die auch mit entsprechenden Löhnen verbunden sind.
Wenn wir diesen Markt nicht haben, weil die Arbeitsplätze nicht vorhanden sind, dann werden wir diese Mindestlohndebatte noch in 100 Jahren führen, aber sozial wird sich in Deutschland nichts verbessert haben.
Bei den Vorrednern hieß es, wir müssten die Hausaufgaben machen, was den Punkt Mindestlöhne betrifft. Ich sage: Nein, das müssen wir nicht. Denn wir haben schon Mindestlöhne. Das ist eigentlich auch das Falsche an dieser Debatte über Mindestlöhne, die in den Medien und von Politikern zum Teil so platt geführt wird. Wir haben schon längst Mindestlöhne und hatten diese schon viel eher, als sie andere Nationen über gesetzliche Festlegungen hatten.
Wir haben Mindestlöhne durch Tarifverträge definiert, grundgesetzlich geschützt, ausgehandelt, geltend und einklagbar. Wir haben Mindestlöhne für Branchen, zum
Beispiel über das Arbeitnehmerentsendegesetz. Wir haben Mindestlöhne durch die Rechtsprechung definiert - ich meine die Sittenwidrigkeit; das ist festgelegt worden -, deren Höhe zum Teil die Höhe der Mindestlöhne übersteigt, die in anderen Ländern gelten.
Wir haben Mindestlöhne über § 5 des Tarifvertragsgesetzes, über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung festgelegt. Diese Mindestlöhne gelten auch für diejenigen, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind oder die in einem Betrieb arbeiten, der keinem Arbeitgeberverband angehört, der ein Tarifverband ist.
Wir haben schließlich Mindestlöhne - Minister Herr Dr. Haseloff hat es erwähnt - über die Hartz-IV-Regelungen, nämlich über das SGB II. Danach ist ganz klar definiert, wie hoch das Mindesteinkommen sein muss, egal aus welcher Kasse es gezahlt wird. - Insofern stimmt es nicht, dass wir unsere Hausaufgaben in dem Punkt Mindestlöhne erst noch machen müssten.
Ich möchte einmal ein Beispiel aus unserer Nachbarschaft, aus Österreich bringen. Das ist ganz neu und wurde in der letzten Woche von der Hans-BöcklerStiftung veröffentlicht. In Österreich haben die Arbeitgeber und die Gewerkschaften alle, nämlich alle Einzelgewerkschaften und alle Arbeitgeber, aufgefordert, Tarifverträge zu vereinbaren, nach denen mindestens 1 000 € Lohn pro Monat gezahlt wird. Wenn man das Ganze auf die Arbeitsstunde herunterrechnet, entspricht das einem Mindestlohn in Höhe von 5,92 €.
Wenn wir jetzt zusammenrechnen, was ein Leistungsempfänger bekommt, der von Transferleistungen leben muss, weil er keine vernünftig bezahlte Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommt, dann stellen wir fest, dass das eine Verschlechterung wäre. Das muss man ganz klar sagen. Auf die einzelne Arbeitsstunde heruntergerechnet wäre das eine Verschlechterung.
Ich möchte einen zweiten Aspekt in die Debatte einbringen. Dieser ist besonders wichtig, weil in der Debatte unwissentlich oder vielleicht wissentlich zum Teil Äpfel mit Birnen verglichen werden. Wir können nicht auf der einen Seite pauschal einen gesetzlichen Mindestlohn über alle Branchen hinweg und für alle gleich fordern, und zwar mit dem Hinweis, dass andere Länder so etwas hätten, aber in der Debatte total außen vor lassen, unter welchen Bedingungen diese Mindestlöhne zu rechnen und zu sehen sind.