Protokoll der Sitzung vom 12.10.2007

Ich möchte einen zweiten Aspekt in die Debatte einbringen. Dieser ist besonders wichtig, weil in der Debatte unwissentlich oder vielleicht wissentlich zum Teil Äpfel mit Birnen verglichen werden. Wir können nicht auf der einen Seite pauschal einen gesetzlichen Mindestlohn über alle Branchen hinweg und für alle gleich fordern, und zwar mit dem Hinweis, dass andere Länder so etwas hätten, aber in der Debatte total außen vor lassen, unter welchen Bedingungen diese Mindestlöhne zu rechnen und zu sehen sind.

Wenn wir die in Großbritannien geltenden Mindestlöhne wollen, dann sollten wir uns auch zu den Bedingungen in Großbritannien bekennen. Wenn wir die in Italien oder Skandinavien geltenden Mindestlöhne wollen, dann sollten wir uns zu den dort bestehenden Bedingungen bekennen.

Aber das, was hier in Deutschland geschieht - das ist mittlerweile beinahe unredlich -, ist Cherry-Picking, das ist das Herauspicken von sozialen Wohltaten, die in der Bevölkerung gut ankommen. Überall wird das Beste von der Torte heruntergeklaubt und zu einem neuen Kuchen zusammengebacken - und das soll dann allen schmecken. Das funktioniert nicht. Wir müssen alles im Kontext sehen.

Wenn wir all diese Forderungen realisieren würden, dann würde das bedeuten, dass die Mindestlöhne im Raum stehen blieben und niemand etwas davon hätte, weil die Arbeitsplätze - denn nur dort kann dieser

Lohn gezahlt werden - in Deutschland nicht mehr existierten.

Ich greife fünf Punkte heraus: Jahresarbeitszeit, Urlaubs- und Feiertage, Kündigungsschutz, Steuer- und Abgabenlasten und sonstige Arbeitsschutzbedingungen, bei denen Deutschland auf den allermeisten Gebieten weltweit führend ist. Wenn wir das einmal zusammenrechnen, dann können wir über die Forderung, wie sie von der PDS aufgemacht worden ist, überhaupt nicht so weiterdiskutieren, weil das nicht zusammenpasst.

(Zustimmung von Herrn Tullner, CDU)

Das Entscheidende ist, ob überhaupt noch jemand eine Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in einem Unternehmen hat, ob sich dieser Arbeitsplatz mit einem Mehrwert am Markt rechnet. Wenn ein Unternehmen nicht mehr fähig ist, im Wettbewerb mit anderen Unternehmen in Polen, Tschechien, Frankreich oder Italien zu bestehen, dann existiert das Unternehmen nicht mehr und dann existiert auch der Arbeitsplatz nicht mehr.

Wenn wir, ohne das zu bedenken, die Forderung, so einseitig wie sie hier von der LINKEN aufgemacht wird, umsetzen würden, wenn wir sozusagen das Maximum dessen, was die LINKE fordert, umsetzen würden, dann würde das bedeuten, dass wir Tausende Arbeitsplätze verlieren würden.

Es gibt zwei ernstzunehmende Wissenschaftler, deren Seriosität in ihrem Aufgabenbereich, in dem sie wissenschaftlich arbeiten, von niemandem bestritten wird. Das ist Professor Ragnitz vom IWH und Professor Thum vom Ifo-Institut Dresden, der sich mit dem Thema Mindestlöhne ebenfalls sehr intensiv beschäftigt hat.

Diese haben gesagt: Wenn wir uns vorstellen, wir würden hier in Deutschland - sie haben sich auf die neuen Bundesländer konzentriert, auf die speziellen Arbeitsbedingungen bei uns - einen Mindestlohn in Höhe von 6,50 € einführen, dann würde das zu dem Verlust von ca. 88 700 Arbeitsplätzen führen. Bei einem Mindestlohn in Höhe von 7,50 € würde dem Osten Deutschlands ein Verlust von mehr als 120 000 Arbeitsplätzen drohen.

(Frau Budde, SPD: Das ist doch Schwachsinn! Die haben doch nur im Verhältnis 1 : 1 die Höhe des Mindestlohns genommen und gesagt, alle darunter fallen dann weg!)

- Verehrte Kollegin Budde, eine solche Aussage von Wissenschaftlern, die wirklich ernst zu nehmen sind, einfach als Blödsinn zu bezeichnen, halte ich nicht für angemessen. Wenn wir hier Forderungen aufstellen, dann sollten wir als Politiker auch verantwortlich bedenken, was die Umsetzung der Forderungen in der Praxis bedeuten würde.

Wenn wir im Land Sachsen-Anhalt immer noch 200 000 Arbeitslose haben, dann muss ich, wenn ich mit einer solchen Forderung schwanger gehe, auch den 200 000 Arbeitsuchenden erklären, dass die Umsetzung der Forderung bedeutete, dass wir in den neuen Ländern zusätzlich 120 000 Arbeitsplätze verlieren würden.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Das dürfen wir nicht ausklammern.

Ich möchte auf einen Punkt eingehen, der mir besonders wichtig ist. Das ist das - ich finde das nahezu verhee

rend und sogar skandalös -, was jüngst bei den Postdienstleistungen geschehen ist. Was die Deutsche Post AG gemacht hat, ist ein riesengroßer Skandal.

(Zustimmung bei der CDU - Beifall bei der FDP)

Ich kann nur hoffen, dass dies in Deutschland nicht Schule macht. Wenn das so wäre, könnten wir die Tarifvertragsfreiheit und die Seriosität von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen und die Seriosität im Umgang zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beerdigen.

Wenn sich ein Monopolist, der sich jetzt irgendwann einmal dem Wettbewerb stellen muss, dem wir zweimal die Frist verlängert, eine Schonzeit vor dem Wettbewerb gegönnt haben, mit ein, zwei Tochterunternehmen zusammenschließt, um dann mit der Gewerkschaft zu schauen: Welche Bedingungen habe ich jetzt am Markt; die Bedingungen, die für mein Unternehmen gelten, werde ich jetzt für allgemeinverbindlich erklären, um alle Wettbewerber aus dem Markt zu drängen - das betrifft mittlerweile mehr als 400 000 Beschäftigte -, dann ist das eine riesengroße Sauerei. Das ist unseriös und darf nicht geduldet werden.

(Zustimmung bei der CDU - Beifall bei der FDP - Herr Tullner, CDU: Genau so ist das!)

Deswegen bin ich - ich sage es noch einmal - für einen fairen Arbeitsmarkt, für starke Gewerkschaften und für starke Arbeitgeberverbände. Aber das Ganze kann von der Politik nicht geduldet und schon gar nicht unterstützt werden, wenn es den Rahmen der Fairness verlässt.

(Herr Tullner, CDU: Aber zum Glück haben wir Florian Gerster!)

Abschließend möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der mir auch besonders wichtig ist. Die CDU-Fraktion hat nach wie vor ein Ziel, das vor allen anderen steht. Das ist die Frage: Wie können wir hier bei uns, in den neuen Ländern, insbesondere in Sachsen-Anhalt mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schaffen, damit Menschen, die arbeiten wollen, eine Chance haben, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen? Dies ist nicht nur mit Blick auf das Einkommen von Bedeutung, sondern auch hinsichtlich der Frage, wie viel ein Mensch in dieser Gesellschaft wert ist.

Kann ich mit meinen Fähigkeiten, mit meiner Ausbildung, die ich auf dem Arbeitsmarkt anbiete, Beschäftigung finden? Kann ich mich damit einbringen? Wird das, was ich kann, anerkannt? Habe ich eine Chance, meine Leistungsbereitschaft auch mit anderen auf dem Markt zu messen? Deswegen ist die Schaffung von Arbeitsplätzen das Thema Nummer 1 bei uns. Das ist die wichtigste Prämisse.

Ich glaube, dass die Politisierung der Lohnfrage, wie sie von der LINKEN gefordert wird, ein gefährlicher Weg in eine Sackgasse ist. Wenn Politiker über Lohnhöhen entscheiden, wie das zu DDR-Zeiten passiert ist - -

(Herr Gallert, DIE LINKE: Stasi! Mauer! Stachel- draht!)

Damals hat der Parteitag der SED beschlossen, es gibt 10 Pfennig mehr.

(Herr Henke, DIE LINKE: Das waren die Gewerk- schaften!)

- Na ja, das war ja fast dasselbe. Gewerkschaften und SED - wo war denn da der Unterschied?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Nennen Sie mir einmal die Nicht-SED-Mitglieder in führender Position im Gewerkschaftsbund. Das war doch kein Dutzend. Das war noch nicht einmal eine Skatrunde. So viele haben sie doch gar nicht zusammenbekommen.

(Herr Gallert, DIE LINKE: Das waren die von der CDU, das ist wohl wahr!)

Ich will nur einmal sagen, dass die Länder, in denen es so lief, wie Sie es heute schönreden, die sich heute noch sozialistisch nennen, erfahrungsgemäß die schlechtesten Arbeitsbedingungen für ihre Arbeitnehmer haben.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Schauen Sie sich einmal an, unter welchen Bedingungen die Leute leben müssen, die in einem Staat arbeiten, der sich Arbeiter- und Bauernstaat oder kommunistisch oder sozialistisch nennt, ob das Korea oder Kuba ist, ob das die DDR oder andere waren. Ich möchte nie wieder ein solches Gesellschaftsmodell persönlich erleben müssen.

(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Gürth, vielen Dank für Ihren Beitrag. Sie haben jetzt die Gelegenheit, noch weiter zu reden. Es gibt mittlerweile vier Fragen. Herr Gallert, Frau Budde, Herr Henke und Frau Rogée haben Nachfragen. Ich würde vorschlagen, dass zunächst die Fragen gestellt werden und dass Herr Gürth dann im Komplex darauf antwortet, wenn er einverstanden ist. - Er nickt. - Herr Gallert, Ihre Frage bitte.

Herr Gürth, bezüglich Ihrer letzten Äußerung würde ich mir langsam wirklich wünschen, dass auch die Mitglieder der CDU ein bisschen selbstkritischer ihre Verantwortung für all diese von Ihnen so kritisierten Prozesse vor dem Jahr 1989 betrachten würden. Alles andere wird langsam zu einer bodenlosen Heuchelei.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben davon gesprochen, dass es Ihnen vor allen Dingen wichtig wäre, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auszuweiten. Nun hat der Wirtschaftsminister bereits darauf hingewiesen, dass es zurzeit wahrscheinlich eine kritische Entwicklung gibt, nämlich dass die Beschäftigung sehr wohl steigt, aber vor allen Dingen im Bereich der Minijobs. Ist die CDU bereit, für dieses Ziel, nämlich die Steigerung der Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen, endlich der Entwicklung im Bereich der Minijobs entgegenzutreten?

Die zweite Frage stellt Frau Budde.

Lieber Kollege Gürth, es ist vielleicht nicht unbedingt Blödsinn. Aber in der Studie werden die Arbeitsplätze in

drei Größenordnungen - bis zu einem Stundenlohn von 7,50 € - eingeteilt, der Zahl dieser Arbeitsplätze wird dann die Anzahl von Arbeitsplätzen gegenübergestellt, für die in diesem Land weniger als 7,50 € gezahlt werden, und daraus wird dann einfach geschlossen, dass diese Arbeitsplätze bei einer Anhebung des Stundenlohnes auf 7,50 € im Verhältnis 1 : 1 wegfallen würden. Das ist doch zumindest hypothetisch, wenn nicht sogar Blödsinn.

Man kann doch nicht sagen, dass die betreffenden Arbeitsplätze in vollem Umfang wegfallen würden. In der Regel handelt es sich um wohnortnahe Dienstleistungen - ich könnte sie aufzählen -, die sowieso erledigt werden müssen. In diesem Bereich kommt es dann vielleicht zu einer Preissteigerung, aber diese Arbeitsplätze würden erhalten bleiben. Die Feststellung, es käme zu einem Arbeitsplatzverlust im Verhältnis von 1 : 1, ist zumindest hypothetisch.

(Zurufe von der FDP)

- Ich weiß, wir haben schon einmal darüber diskutiert, wie hoch eine angemessene Bezahlung für eine Reinigungskraft sein muss. Dazu haben wir unterschiedliche Auffassungen und das wird auch so bleiben. - Mehr will ich dazu gar nicht sagen.

(Herr Tullner, CDU: Das ist Schwarzarbeit!)

- Das ist keine Schwarzarbeit. Die dort aufgeführten Löhne sind reguläre Tariflöhne, die mit weniger als 7,50 € sehr niedrig sind. Wenn es einen gesetzlichen Mindestlohn geben würde, dann wäre man gezwungen, über diese nachzuverhandeln. Das heißt aber nicht, dass diese Arbeitsplätze einfach wegfallen; das ist lediglich hypothetisch.

Ich würde Sie bitten - -