Es gibt auch andere Fälle. Jetzt kommen wir zu dem Problem, das ich auch deutlich zu machen versucht habe, dass Frauen eine Schwangerschaft gezielt verheimlichen und nichts für die Fürsorge und Vorsorge für das zu erwartende Kind tun, also nicht alles das anschaffen, was üblicherweise in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft angeschafft wird, weil sie offensichtlich wissen, dass sie das nicht brauchen werden. Das sind die Fälle, in denen die Kinder unmittelbar nach der Geburt getötet worden sind. Diese Fälle gibt es auch immer wieder. Mit diesen Fällen umzugehen ist schwierig, und dabei muss auch die Frage erlaubt sein, weshalb in solchen Einzelfällen die Hemmschwelle so niedrig ist.
Ich habe jetzt nicht vor, Ihnen solche Einzelfälle vorzutragen. Ich bin gern bereit, das in einem anderen Zusammenhang, meinetwegen in einem Ausschuss zu tun. Aber das hängt dann damit zusammen, dass die Wertschätzung werdenden menschlichen Lebens sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Deutschland - ich will später noch einmal darauf zurückkommen -, sondern fast weltweit geändert hat und - auch das sage ich - weiter ändern wird.
Bei uns hängt das auch mit der Gesetzgebung von 1972 zusammen. Ich habe nicht die Absicht, das jetzt länger auszuführen, aber in diesem Gesetz steht, dass die Möglichkeit geschaffen wird, das Leben nicht von biologischen Zufällen beeinflussen zu lassen. Das können Sie in der Einbringungsrede von Professor Mecklinger lesen, die damals protokolliert wurde. Wer den § 1 dieses Gesetzes liest, weiß, dass der Schwangerschaftsabbruch zum Instrument der Familienplanung gemacht wurde. - Das sind die Probleme.
Da ich das alles mitgemacht habe, kann ich nur von mir sagen, dass ich persönlich bei mir zuerst gemerkt habe, wie das zu einem Wertewandel geführt hat, wenn man das, was früher selten war, jeden Tag mehrfach machen muss. Das ist einfach so. Das ist überall auf dieser Welt so. Ich sage, diese Entwicklung wird weiter gehen, aus ganz anderen Gründen. Darüber muss man auch reden dürfen.
Das alles ist - das ist leider eine Tatsache, die ich nicht vermeiden konnte oder nicht vermieden habe - in einer Kurzfassung so dargestellt worden, wie Sie das vorgetragen haben. Das ist aus dem Text, den Sie vorgelesen haben, so autorisiert worden; und ich muss jetzt damit leben.
Nun kommen Frauen zu mir und sagen mir - dafür bin ich dankbar -: So geht das aber nicht! - Sie sagen: Ich bin Mutter, habe drei oder vier Kinder groß gezogen und habe mir Mühe gegeben, dass sie anständige Menschen werden, und nun muss ich mir von Ihnen so etwas sagen lassen.
Dazu sage ich: Das kann ich verstehen. So sehr sich diese Kritik gegen mich richtet, sage ich auch: Da eine
solche pauschalierende Aussage nicht gerechtfertigt ist, entschuldige ich mich von dieser Stelle aus bei jenen Frauen und Müttern mit DDR-Biografie, für die das alles nicht zutrifft; denn eine solche pauschalierende Aussage haben sie nicht verdient.
Ich sage noch einen Satz dazu: So schwierig gelegentlich manche Kritiken für mich sind, weil sie auch sehr unfreundlich formuliert sind, betrachte ich das sogar als ein ermutigendes Zeichen; denn das ist eine Art Aufruhr des Gewissens und ein Beweis dafür, dass es in dieser Region Deutschlands eben keine sittliche Verwahrlosung gibt.
Trotzdem müssen wir jetzt ordentlich damit umgehen. Ich will das auch nutzen, mich nicht etwa in die Ecke zu verkriechen, einzuigeln oder sonst etwas, sondern bewusst und offensiv damit umzugehen und dies auch weiter zu sagen, weil ich merke, dass diese Problematik, was ich gar nicht so vermutet hatte, in der innerdeutschen Debatte eine nicht geringe Rolle spielt.
Es gibt auch Gesprächspartner, die nahezu begierig darauf sind, endlich einen Satz zu bekommen, den sie gegen die DDR-Mentalität verwenden können. Dazu wüsste ich auch allerhand zu sagen, aber nicht in einem so unsachlichen Zusammenhang. Deswegen möchte ich an diesem Thema noch ein bisschen bleiben, weil es eine Bedeutung bekommen hat, die weit über die eigentliche Sache hinausgeht.
Weil mir dauernd das Ende der Redezeit angedeutet wird, vielleicht noch ein paar wenige andere Sätze. Diese Entwicklung wird weiter gehen und wird uns noch vor manche schwierige Frage stellen. Ich kann mich erinnern, dass noch bis in die ersten 60er-Jahre hinein auch in der Fachliteratur die Würde des Menschen mit der Unbeeinflussbarkeit der Weitergabe menschlichen Lebens begründet wurde. Dieser Satz ist seit Langem nicht mehr zu verwenden. Wir werden damit leben müssen, dass wir immer mehr Möglichkeiten haben, mit biologischem Material nicht nur zu experimentieren, sondern über die Weitergabe menschlichen Lebens bewusst zu entscheiden.
Das ist eine der wichtigsten ethischen Veränderungen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Ich bin sehr dafür, dass wir uns verdeutlichen, dass mit diesen gestiegenen Möglichkeiten auch der verantwortliche Um
gang mit ihnen und die Missbrauchseindämmung steigen müssen. Das wird eine öffentliche Diskussion werden, das ist es sogar schon.
Für diejenigen, die überregionale Zeitungen lesen: Wir streiten uns zurzeit ein wenig über die Besetzung einer frei gewordenen Richterstelle am Bundesverfassungsgericht. Dabei handelt es sich um die Diskussion über einen Richter, der solche Fragen gestellt hat. Nur weil er solche aus meiner Sicht richtigen Fragen gestellt hat, soll er jetzt für dieses Amt nicht geeignet sein.
Über diese Diskussion werden wir auch an anderer Stelle noch reden müssen. Je mehr auch bei der Stammzellenforschung möglich wird, umso mehr werden wir mit solchen Diskussionen konfrontiert. - Das ist heute nicht mein Thema.
Aber eines ist wichtig, und das will ich wenigstens zum Schluss noch sagen: Mit den gestiegenen Möglichkeiten - eine solche Entwicklung war auch die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs, die in allen Ländern zu ähnlichen Auswirkungen geführt hat, was den Umgang mit werdendem Leben betrifft - muss auch der verantwortliche Umgang mit werdendem menschlichen Leben verbunden sein. Dieses Problem wird uns erhalten bleiben.
Aber ich muss bedauern, dass diese Äußerungen zu einer solchen überhaupt nicht induzierten und gewollten Interpretation geführt haben, und ich will wenigstens jetzt versuchen, den Schaden dadurch zu beseitigen, dass ich diese Diskussion offen begleite; denn wir müssen uns ihr stellen. Damit sind die Probleme der höheren Zahl von Tötungsdelikten noch nicht erklärt. Das muss ich ganz klar sagen. Aber in Einzelfällen gibt es solche Sachen. Ich bin gern bereit, denjenigen, die das näher wissen wollen, solche Fälle zu erzählen. Aber das ist alles keine Lösung, die man pauschalieren kann.
Eines will ich auch noch sagen, weil Herr Gallert darauf abgestellt hat: Es gibt auch dabei „Alles-Erklärer“. Dabei gibt es zwei Varianten. Die einen erklären alles mit sozialen Zusammenhängen, mit dem Bezug auf den sozialen Hintergrund. Außerdem gibt es noch die Psychoanalysten, die alles im Konjunktiv erklären. Dabei ist man hinterher auch nicht schlauer. Aber das hilft uns nicht weiter bei der Lösung dieser Probleme.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns zunächst differenziert damit befassen und wenigstens die Fälle herausziehen, die durch gesetzliche fürsorgerische Maßnahmen und eine besser als bisher ausgebaute fürsorgerische Betreuung einer eventuellen Vermeidung zugänglich sind. Das haben wir in der nächsten Zeit vor, und damit werden wir Sie dann auch beschäftigen müssen. - Vielen Dank.
Herr Ministerpräsident, es gab von Frau von Angern den Wunsch zu einer Frage, die Sie beantworten möchten. Frau von Angern, Sie haben das Wort. Es gibt auch noch weitere Nachfragen. - Zwei Fragen wollen Sie beantworten, Herr Ministerpräsident.
Herr Ministerpräsident, ich denke, es ist gut und angemessen, dass Sie sich Zeit für dieses Interview genommen haben, dass Sie es nicht nur am Telefon abgehan
delt haben. Umso ernster nehme ich die Aussagen, die Sie in dem Interview getroffen haben, auch vor dem Hintergrund, dass Sie beide Interviews, sowohl die Kurz- als auch die Langfassung, autorisiert haben und natürlich dafür auch die politische Verantwortung übernehmen müssen.
Ich werde mich nicht an der Interpretation beteiligen, sondern ich werde mich an Ihren Wortlaut halten.
Sie sprachen von einer leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern infolge der DDR-Regelungen von 1972, nach denen die Frauen entschieden hätten, ohne sich auch nur einmal zu erklären. Ich frage Sie deshalb: Steht für Sie der Abbruch einer Schwangerschaft einer Kindstötung in rechtlicher wie in ethisch-moralischer Hinsicht gleich? Und falls ja, erklären Sie das bitte.
Ich frage Sie auch hinsichtlich der bewussten Verwendung des Wortes „leichtfertigerer“. Sie haben nicht die Grundform „leichtfertig“ verwendet, sondern die Steigerungsform „leichtfertiger“. Das impliziert, dass an einem anderen Ort - denklogisch die alten Bundesländer - ein leichtfertiger Umgang diesbezüglich vonstatten geht und wir es hier mit einem leichtfertigeren Umgang zu tun haben. Erklären Sie bitte die Verwendung dieses Wortes.
Auf die letzte Frage, die sich auf eine Wortexegese einlässt, sollte ich mich nicht allzu sehr einlassen. Aber ich will versuchen, Ihnen das zu erklären, was mir dabei wichtig ist.
Erstens. Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt. Deswegen gibt es da Unterschiede.
Zweitens. Der strafrechtliche Lebensschutz beginnt mit dem Beginn des vorgeburtlichen menschlichen Lebens.
Das ist Rechtslage. Das sind bewusst gewollte Unterschiede. Aber der Rechtsschutz des menschlichen Lebens beginnt mit der Existenz menschlichen Lebens. Darüber kann man lange diskutieren. Ich habe das jetzt nicht vor. Ganze Gynäkologentagungen haben sich damit befasst, wann dieser Zeitpunkt ist. Darüber können wir in einem anderen Zusammenhang reden.
Was die Frage leichtfertig betrifft: Ich habe in den späten 70er-Jahren einmal einen jungen Kollegen eine Doktorarbeit machen lassen. Ich habe ihm gesagt, er soll so genannte Motivationsanalysen machen bei 1 000 Frauen, die eine Schwangerschaft ausgetragen hatten, und bei 1 000 Frauen, bei denen eine Schwangerschaft abgebrochen wurde, um jeweils die sozialen Hintergründe usw. aufzuhellen.
Allein die Tatsache, dass er, um das Material für seine Doktorarbeit zu sammeln, mit jeder einzelnen Frau ein Gespräch führen musste, hat dazu geführt, dass etwa 10 % der Frauen, die mit dem Begehren eines Schwangerschaftsabbruchs zur stationären Aufnahme gekommen sind, ohne diesen Abbruch nach Hause gegangen sind und die Schwangerschaft ausgetragen haben. Das rechtfertigt für mich die Aussage, dass Beratungsgespräche gefehlt haben und dass es eben in Einzelfällen durchaus - 10 % etwa - leichtfertige Entscheidungen waren.
Frau Bull, die letzte Frage. Mehr Fragen wollte Herr Ministerpräsident Böhmer nicht beantworten. Frau Bull, Sie haben das Wort. Bitte schön.
Herr Ministerpräsident, ich würde die Diskussion gern wieder auf eine politische Ebene nehmen. Sie haben sehr lange und ausführlich über tragische und hier noch länger zu diskutierende Einzelfälle geredet. Ihre Botschaft im Interview, ob interpretiert oder nicht, induziert oder nicht induziert, war eine andere.
Ihre Botschaft war: So etwas kommt dabei herum, wenn es eine liberale Schwangerschaftsregelung gibt. Oder - zweite Botschaft -: So etwas kommt dabei herum, wenn Frauen allein entscheiden. Dazu hätte ich gern eine klare politische Botschaft, eine klare politische Ansicht Ihrerseits, und zwar als Ministerpräsident dieses Landes.
Eines will ich ganz deutlich sagen: Die Tatsache, dass Frauen am Ende diese Entscheidung allein treffen, halte ich für richtig. Ich war jahrelang in einer Kommission, wo ich als Kommissionsmitglied diese Entscheidung mit treffen musste. Ich war fast froh, als ich das nicht mehr machen musste.
Aber die Tatsache, dass man Frauen mit dieser Entscheidung allein lässt, halte ich für falsch. Deswegen bin ich der Meinung - weil Sie mich nach der politischen Wertung gefragt haben -, dass die jetzige Regelung, dass ein Beratungsgespräch vorausgehen muss, wo es auch darum geht, über Möglichkeiten zu informieren, damit möglicherweise eine Notlage behoben werden kann - wozu stellen wir denn die ganzen Gelder für Beratungstätigkeit usw. ein? -, sachgerecht und richtig ist.
Vielen Dank für den Beitrag des Herrn Ministerpräsidenten. - Wir kommen zu den Debattenbeiträgen. Als erster Debattenrednerin erteile ich der Fraktionsvorsitzenden Frau Budde für die Fraktion der SPD das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem Wochenende gibt es eine heftige emotionale, aber in der Folge auch sehr grundsätzliche Debatte über den legalen Schwangerschaftsabbruch und Verbrechen an Kindern.
Ihre Äußerungen, Herr Ministerpräsident, haben viele Menschen und bei Weitem nicht nur Frauen tief empört. Dass es mir genauso geht, wissen Sie.