Ihre Äußerungen, Herr Ministerpräsident, haben viele Menschen und bei Weitem nicht nur Frauen tief empört. Dass es mir genauso geht, wissen Sie.
Ich will die drei Punkte nennen, über die es aus meiner Sicht zu reden gilt, die klarzustellen sind und zu denen ich ganz deutlich unsere Meinung sagen will.
Zum Ersten steht die Behauptung im Raum, Frauen wären schon zu DDR-Zeiten hier bei uns in den heutigen neuen Bundesländern leichtfertiger mit werdendem Leben umgegangen als in der damaligen Bundesrepublik, und dies aufgrund der vereinfachten Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch.
Ich bezweifle nicht die von Ihnen, Herr Ministerpräsident, genannten Fälle. Aber dies sind Einzelfälle. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Ich hätte erwartet, dass Sie dies hier und heute noch stärker klarstellen. Es gibt keine Gruppenmentalität der Frauen im Osten, die heißt, wir gingen leichtfertiger mit werdendem Leben um.
Ich hätte erwartet, dass Sie sich auch bei den Frauen entschuldigen, die zu DDR-Zeiten die Fristenregelung in Anspruch genommen haben,
und nicht nur bei Frauen mit drei oder vier Kindern, die dies vielleicht nicht getan haben. Denn ich gehe davon aus, dass jeder dieser Entscheidungen, egal ob zu DDRZeiten oder heute, eine sehr individuelle persönliche Situation zugrunde liegt.
Die zweite Behauptung, die im Raum steht, ist der Verdacht, bei manchen wären Kindstötungen ein Mittel der Familienplanung. Jetzt muss auch ich ganz vorsichtig sein bei dem, was ich sage. Aber wenn überhaupt, nur als logischer Zusammenhang, wären Abbrüche als Mittel einer Familienplanung möglich, ohne dass ich auch nur - das will ich deutlich dazu sagen - irgendeiner Frau, einer Familie dies unterstellen würde, aber Kindstötungen ganz sicher nicht als Planungsmittel.
Aus den bekannt gewordenen Fällen hätte jeder wissen können, dass es in der Regel psychische, Partnerschafts- oder soziale Probleme waren und es keinesfalls - das haben Sie gesagt - immer nur die Frauen sind, die in solche Situationen treiben.
Die dritte Behauptung: Es wird eine zwangsläufige Verbindung geschlagen zwischen Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR über eine unterstellte leichtfertigere Einstellung zum werdenden Leben im Osten und der Anzahl an Kindstötungen in den ostdeutschen Ländern heute. Das ist einfach falsch. Das ist nicht nur falsch, das ist aus meiner Sicht wirklich eine dreifache Beleidigung der Frauen in Ostdeutschland, und nicht nur der Frauen, sondern auch der Familien.
Wenn dies so wäre, dann käme das aus meiner Sicht der Unterstellung gleich, wir wären hier ethisch und moralisch unterentwickelt. Der Ministerpräsident hat aus meiner Sicht nach dem, was ich den Zeitungsinterviews heute entnehmen konnte, klargestellt, dass er dies nicht so meint. Ich hatte heute ein deutlicheres Wort erhofft.
Ich will aber jenseits der aktuellen Diskussion, die wir heute im Landtag führen, fragen, wem wir die Diskussion eigentlich zu verdanken haben. Da kommt es aus meiner Sicht zu einer ganz grundsätzlichen Fragestellung.
Mir fallen spontan drei Namen ein. Ich will mich gar nicht davor drücken zu sagen, dass mir natürlich zuerst auch Manfred Stolpe einfällt, dessen Aussagen missverständlich sind.
Heftiger wird es dann bei Herrn Schönbohm, der sagt, die von der SED erzwungene Proletarisierung in ländlich strukturierten Räumen im Osten Deutschlands ist eine der wesentlichen Ursachen für die Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft.
Und dann Töpfchen-Pfeiffer - natürlich, wem würde dieser Name nicht einfallen? -, der indirekt sagt, der gemeinsame Gang zum Töpfchen und die Ausgrenzung alles Fremden seien verantwortlich für den Rechtsradikalismus, und heute schlussfolgert: Babys leben im Osten gefährlicher. Da muss ich mich fragen - und das jenseits der aktuell geführten Debatte -: Welches Weltbild steht eigentlich hinter diesem Ost-West-Vergleich?
Es reicht nicht, dass die ostdeutschen Bundesländer aufgrund des extremen wirtschaftlichen Strukturwandels zum Experimentierfeld für Deregulierung, für Entindustriealisierung, für extreme Arbeitslosigkeit und zum Experimentierfeld für besondere Formen des demografischen Wandels geworden sind. Es kann schon der Eindruck entstehen, als wären wir hier im Osten eine besondere Spezies der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, deren Verhalten es zu erforschen gilt, als hätte das Aufwachsen in der DDR sozusagen einen Gendefekt verursacht, der sich über die Generationen fortsetzt.
Deshalb müssen wir mit dem Thema ganz besonders vorsichtig umgehen. Der Blick zurück reicht nicht als Antwort, sondern wir müssen uns mit den aktuellen sozialen und gesellschaftlichen Problemen befassen. Das ist eine Daueraufgabe. Wir können diese Diskussion heute mit Sicherheit nicht erschöpfend führen. Sie wird für uns alle, die wir politisch gestalten, eine politische Daueraufgabe bleiben.
Es wird Bausteine geben, mit denen wir versuchen, schwierigen sozialen Problemen vorzubeugen und diese aufzufangen. Dazu gehört das im Werden befindliche Gesetz zum Kinderschutz und dazu gehören auch andere Maßnahmen.
Ich werde hier heute auch nicht die ethische Grundsatzdiskussion führen; auch sie braucht mehr Raum. Dass sich unsere Gesellschaft verändert, wissen wir alle. Dass eine Wertediskussion - und zwar nicht getrennt nach Ost und West, sondern insgesamt - dringend notwendig ist und dass wir sie hier noch intensiver führen müssen, auch das ist richtig. Aber der Platz heute reicht dafür nicht aus.
Sie wissen, meine Damen und Herren, dass im Ausschuss für Recht und Verfassung eine intensive Diskussion zur Legalisierung der anonymen Geburt geführt wird. Wenn man in die Protokolle schaut, sieht man, wie schwierig es ist, sich der Problemlage zu nähern. Auch die Frage der Reduzierung der Zahl von Kindstötungen bei einer Legalisierung ist ein Teil dieser Diskussion. Auch wenn ich mir persönlich noch nicht sicher bin, ob die Legalisierung der anonymen Geburt ein Teil der Lösung sein kann, werbe ich doch dafür, dass diese Diskussion sehr konstruktiv zu Ende geführt wird.
Vor dem Hintergrund dieser Diskussion ist aber die einzige Schlussfolgerung, die man aus den statistischen Erhebungen zu den bekannten Fällen von Kindstötungen
ziehen kann, die, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt, bei der jeder für sich aus der persönlichen, individuellen sozialen und psychischen Situation der Täter resultiert. Denn so tragisch jeder Einzelfall ist und so sehr wir alles dafür tun müssen, dass kein Kind getötet, misshandelt oder missbraucht wird, so wenig sind wir im Osten oder im Westen - ich will diese Trennung überhaupt nicht vornehmen - ein Land, in dem massenhaft Kinder getötet werden.
Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident! Wenn es um die Befindlichkeiten von Menschen geht, um ihre Würde und ihre persönliche Integrität, ihre Einstellung zu existenziellen Fragen wie Leben und Tod oder zum Umgang mit ungeborenem Leben, dann verbieten sich pauschale Aussagen. Einen leichtfertigen Umgang mit Antworten zu diesem Thema sollte sich kein politisch Verantwortlicher leisten. Das ist dem Ernst der Thematik und den Menschen in diesem Lande nicht angemessen und sollte in Zukunft nicht wieder Eingang in die politische Debatte in diesem Land finden. All jene, die sich berufen fühlen, die Debatte im Sinne der Wochenendäußerung zu vertiefen - ich habe heute einiges dazu lesen dürfen -, täten gut daran, sich zurückzuhalten. Das gilt für sächsische Kulturminister genauso wie für Erzbischöfe. Das sage ich ganz bewusst auch als Katholikin in diesem Raum.
Ein Satz noch zum Schluss. Im Gedenken daran, dass sich überwiegend Männer berufen fühlen, das Thema Schwangerschaft zu diskutieren - auch an den Erzbischof - ein Satz von Lore Lorenz: „Wenn Männer Kinder bekämen, wäre Abtreibung längst ein Sakrament.“
Frau Budde, es gibt eine Nachfrage der Abgeordneten Frau Brakebusch. Sie wollen sie beantworten. - Frau Brakebusch, Sie haben das Wort. Bitte schön.
Frau Budde, Sie haben sich sehr intensiv für die Frauen in der DDR-Zeit ausgesprochen. Ich muss natürlich gestehen, Sie sind etliche Jahre jünger als ich. Vielleicht haben Sie viele Dinge nicht so wahrgenommen. Aber ich muss schon sagen: Man muss differenziert an die Sache herangehen.
Es gibt viele Frauen, die tatsächlich sehr bewusst darüber nachgedacht haben: Kann ich jetzt ein Kind bekommen oder nicht? - Aber es gab auch viele Frauen, die einfach gesagt haben: Jetzt passt mir das Kind nicht. Ich lasse es mir abnehmen oder lasse die Schwangerschaft unterbrechen. - Nein, „unterbrechen“ - das habe ich eben gehört - ist nicht richtig. Eine Schwangerschaft kann man nicht unterbrechen; vielmehr ist es ein Schwangerschaftsabbruch.
Ich selber bin mit meinem zweiten Kind lange Zeit im Krankenhaus gewesen, weil ich der Gefahr ausgesetzt war, dieses Kind zu verlieren. Ich habe während dieser Zeit viele Frauen bei mir im Zimmer gehabt, die gesagt haben: Mein Gott, jetzt muss ich doch erleben, dass ich wieder ein Kind hinnehmen muss, weil das Vierteljahr noch nicht um ist. - Ich denke also schon, da muss man differenzieren und sagen: Zu DDR-Zeiten haben es sich tatsächlich sehr viele Frauen - nicht alle, aber sehr viele Frauen - mit dem ungeborenen Leben sehr leicht gemacht. - Mehr wollte ich an dieser Stelle nicht sagen.
(Beifall bei der LINKEN - Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: Sie machen es doch genauso, die Pauscha- lisierung!)
Ich bin auch dagegen, dass man einen Unterschied zwischen der DDR und der Bundesrepublik macht. Dieser ist ja implizit gemacht worden, indem Sie gesagt haben, hier sei es besonders schlimm gewesen. Dann muss es ja woanders nicht so besonders schlimm gewesen sein. Ich wende mich gegen eine solche Unterscheidung, weil man statistisch überhaupt nichts vergleichen kann.
Es gab eine vereinfachte Fristenregelung in der DDR und es gab einen Tourismus nach Holland; das meine ich nur in dem Sinne negativ, weil den Frauen in der Bundesrepublik Deutschland alt nicht die Möglichkeit offen gestanden hat wie in der DDR. Es sind viele über die Grenze gegangen.
Deshalb kann man die Statistiken in Ost und West überhaupt nicht vergleichen und man kann daraus auch nicht den Schluss ziehen, ob es vermehrt so gewesen ist, dass die vereinfachte Fristenregelung in der DDR zu mehr Schwangerschaftsabbrüchen geführt hat, oder ob vergleichsweise mehr Frauen und Familien durch die Strafverschärfung im Westen dazu gebracht worden sind, nach Holland zu gehen und dort abtreiben zu lassen. Deshalb werde ich mich an solchen Vergleichen nicht beteiligen.
Vielen Dank für Ihren Beitrag, Frau Budde. - Jetzt kommen wir zu dem Debattenbeitrag der FDP. Frau Dr. Hüskens, ich erteile Ihnen das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es macht keinen Sinn, darum herumzureden: Die Aussagen des Ministerpräsidenten im „Focus“ waren schlicht Mist, und das gleich in zweierlei Hinsicht: erstens inhaltlich; denn Sie haben versucht, Herr Ministerpräsident, die Abtreibungspraxis in der DDR und Kindstötungen in einen inneren Zusammenhang zu stellen. Ich halte es für unverantwortlich, legale Abtreibungen als Ursache für die Tötung von Kindern heranzuziehen.
Einer Abtreibung geht immer eine Entscheidung voraus, in vielen Fällen die Entscheidung beider Partner. Es geht auch eine Beratung voraus, und es bedarf heute mehr als eines Termins beim Arzt.
Im Rahmen unserer - allerdings ergebnislosen - Diskussion über die Schwangerschaftsberatungsstellen habe ich eine ganze Reihe von Gesprächen mit dem dortigen Fachpersonal geführt. Dabei berichteten die Damen, dass es so ziemlich in allen Einrichtungen üblich ist, dass die eine oder andere von den Frauen, die zur Beratung erscheinen, den Eindruck vermittelt, sie hätte ganz
cool eine Entscheidung getroffen. In den Gesprächen würden aber sehr oft all die Zweifel und Probleme zutage treten, die Frauen zu einer solchen Beratung mitbringen und die diesen schwierigen Entscheidungen zugrunde liegen.
Abtreibung war und ist immer die Reaktion von Männern und Frauen auf partnerschaftlich schwierige Situationen, vor allem aber auf eine subjektiv wahrgenommene aussichtslose soziale und ökonomische Perspektive. Abtreibungen sind, egal wie man das moralisch bewertet, in einem bestimmten Rahmen und nach einem bestimmten Verfahren in Deutschland legal.
Meine Damen und Herren! Kindstötungen finden in einem völlig anderen Kontext und auch in ganz anderer Zahl statt, als dies bei Abtreibungen der Fall ist. Die Zahl der Abtreibungen liegt in Deutschland nach wie vor bei etwa 120 000 im Jahr. Die Zahl der Kindstötungen in Deutschland schwankt jährlich zwischen 17 und 34. Die Tötung eines Neugeborenen resultiert in der Regel aus einer Paniksituation der Mutter, aus einer psychischen Überforderung. Manche Frauen haben sogar ihre Schwangerschaft verdrängt, nicht nur vor ihrem Umfeld verheimlicht, und die Geburt konfrontiert sie, so ungewöhnlich das klingen mag, unvorbereitet mit dem Kind und mit der Verantwortung für das Kind.
Diese Reaktion lässt sich meiner Meinung nach in keiner Weise mit gesellschaftspolitischen Hintergründen erklären. Das gilt auch für einige Fälle der vorsätzlichen Tötung, etwa wenn Kinder bei einem Selbstmord der Eltern mit getötet werden oder wenn Eltern aufgrund seelischer oder geistiger Beeinträchtigung ihre Kinder töten.
Die verbleibenden wenigen Fälle werden von den Gerichten in Deutschland als Totschlag oder als Mord verurteilt. Es handelt sich um Verbrechen. In keinem Fall eignen sich diese Vorgänge, um den jungen Frauen in unserem Bundesland einen laxen Umgang mit menschlichem Leben zu unterstellen.