Protokoll der Sitzung vom 17.06.2010

(Lebhafter Beifall bei der CDU - Beifall bei der SPD)

Herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident, für die abgegebene Regierungserklärung.

Bevor wir zu der Aussprache zur Regierungserklärung kommen, begrüße ich Gäste in unserem Hause, und zwar die Damen und Herren der Bildungsgesellschaft Magdeburg auf der Südtribüne. Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 3 b:

Aussprache zur Regierungserklärung

Der Ältestenrat hat die Redezeitstruktur E mit einer Debattendauer von 130 Minuten vorgeschlagen. Auf die Fraktion DIE LINKE entfallen 24 Minuten, auf die SPD 23 Minuten, auf die FDP zehn Minuten und auf die CDU 37 Minuten. Als erstem Redner erteile ich Herrn Gallert von der Fraktion DIE LINKE das Wort. Bitte schön.

Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit dieser Regierungserklärung ein weiteres Datum in dem Reigen der vielen 20-jährigen Jubiläen, die wir seit einigen Monaten absolvieren. Allerdings - das sage ich mit aller Deutlichkeit - ist der Gegenstand dieser Regierungserklärung, nämlich die Neugründung des Landes Sachsen-Anhalt vor etwa 20 Jahren, tatsächlich etwas Besonderes. Zumindest für uns sollte es etwas Besonderes sein, denn es begründet die Existenz dieses Landes, damit seiner Institutionen und damit auch dieses Landtages. Im Grunde genommen ist es also die Geburtsstunde unserer eigenen Institution. Deswegen ist es völlig richtig, dieses Datum in diesem Landtag noch einmal in besonderer Weise zu würdigen.

Ich will dann doch etwas tun, was vielleicht nicht jedem in den Sinn kommt, wenn er zu einer solchen Debatte - 20 Jahre Sachsen-Anhalt - spricht. Ich will einmal versuchen, etwas tiefer in die Geschichte zu gehen.

Es ist tatsächlich ein etwas eigenartiges Gebilde, mit dem wir es zu tun haben, nämlich ein Land Sachsen

Anhalt, das eine Tradition hat, die tatsächlich, zumindest was die Verwaltungsstruktur anbelangt, sage und schreibe fast 200 Jahre zurückreicht: Im Jahr 1815 ist die preußische Provinz Sachsen gegründet worden. Sie ist in den verschiedensten Variationen bis heute in der Form des Landes Sachsen-Anhalt erhalten. Es handelte sich um eine Verwaltungseinheit, die nie so wie die anderen ostdeutschen Flächenländer eine wirkliche landsmannschaftliche Identität ausgeprägt hat, aber trotzdem immerhin 200 Jahre lang existiert hat, obwohl 200 Jahre lang darüber diskutiert worden ist, sie aufzulösen.

Es ist schon ein eigenartiges Spannungsverhältnis, auf das wir hier zurückblicken können und das im Grunde genommen auch ein bisschen die Ambivalenz unseres Landes Sachsen-Anhalt in der Geschichte reflektiert.

Nun gut. Schauen wir uns allerdings die etwas kürzere Geschichte an, dann ist es, glaube ich, wichtig, noch einmal auf das Datum der Neugründung der Bundesländer nach 1945 insgesamt zu schauen.

Im Juli 1945 ist das Land Sachsen-Anhalt auf einen Befehl der sowjetischen Militäradministration hin gegründet worden und es ist dann einige Jahre später, wiederum im Juli 1952, damals auf Beschluss der Volkskammer, abgeschafft worden.

Dass es 1990 die Neugründung dieses Landes Sachsen-Anhalt gab, ist natürlich - das sage ich mit aller Deutlichkeit - substanziell dadurch veranlasst worden, dass diese Länderstruktur damals in den westlichen Besatzungszonen nicht nur eingeführt worden ist, sondern sich in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen bewährt hat und dort auch weiterhin existiert hat. Deshalb ist auch bei uns im Osten eine entsprechende Länderstruktur übernommen worden, und wir haben sie angenommen, obwohl es - das ist auch schon gesagt worden - die letzte Volkskammer der DDR gewesen ist, die wiederum im Juli ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat, um die Länder einzuführen.

Ich will doch noch einmal auf dieses Kriterium Länder insgesamt eingehen. Wir hatten damals, 1945, die Situation, dass von den vier Siegermächten eigentlich nur eine einzige Siegermacht eine richtige föderale Struktur, eine entsprechende vertikale Gewaltenteilung hatte. Trotzdem gab es damals unter allen vier Siegermächten einen Konsens, eine solche Struktur in Deutschland einzuführen, und zwar auch von Ländern wie Großbritannien und Frankreich, die zumindest damals, 1945, übrigens auch noch 1990, wirklich zentralisierte Länder, Zentralstaaten waren. Die Sowjetunion war zwar pro forma ein föderaler Staat, aber sie war es in Wahrheit nicht, sonst wäre sie 1990/1991 nicht strukturell auseinandergefallen.

Was war die Grundidee einer zusätzlichen vertikalen Gewaltenteilung, die bei Weitem nicht bei allen Siegermächten als Vorbild vorlag? Die Grundidee war, neben der Anknüpfung an historische Prozesse, eine zusätzliche Demokratieebene einzuführen, die verhindert, dass aus diesem Deutschland wieder ein aggressiver, ja faschistischer Zentralstaat wird. Es wurde also bewusst eine Konstruktion, eine Ebene eingeführt, mit der versucht worden ist, eine neue Demokratieebene, eine neue, zusätzliche Gewaltenteilungsebene, zumindest im Verhältnis zur jüngsten Geschichte Deutschlands, 1933 bis 1945, einzuführen, um eine überwiegende Zentralisierung von Gewalt, um eine überwiegende Zentralisierung von Macht zu verhindern.

Ich glaube, es ist unwahrscheinlich wichtig, sich dieses Motiv heute noch einmal vor Augen zu führen, das dazu geführt hat, dass es in dieser Bundesrepublik Deutschland eine föderale Struktur gibt. Beabsichtigt war ausdrücklich eine zusätzliche Demokratieebene, eine zusätzliche Ebene, die Machtballung und Machtkonzentration und damit Machtmissbrauch verhindern soll.

Ich beschreibe das heute deshalb so ausführlich, weil diese vertikale Gewaltenteilung, wenn wir ehrlich sind in diesem Haus, kein gesellschaftlicher Konsens mehr in dieser Bundesrepublik und in Wahrheit auch nicht mehr in der Bevölkerung Sachsen-Anhalts ist.

Schauen wir uns einmal die Diskussionen an, wenn es um Länderkompetenzen geht: die Kleinstaatlichkeit, die überall bejammert wird und als das große Wachstumshemmnis herausgestellt wird. Es ist ein ewiger Prozess der politischen Entscheidungsfindung. Der Bundestag trifft eine Entscheidung, aber der Bundesrat blockiert sie auf der Bundesebene. Es gab ja in der jüngsten Geschichte schon einige Experten, die jedes Mal in einer solchen Situation meinten, man sollte den Bundesrat abschaffen, damit eine solche Blockadehaltung, wie sie dann genannt worden ist, nicht funktioniert.

Es gibt übrigens - das muss man ganz deutlich sagen - in allen Bevölkerungsschichten, auch in allen Parteianhängerschaften ein ausgesprochenes Prä hin zu den vermeintlich einfachen, vermeintlich schnellen zentralstaatlichen Lösungen, die doch so gut wären für uns, die doch die Probleme so einfach lösen könnten. Dabei störten doch die Länder eigentlich nur, zumindest in dem Augenblick, in dem sie wirklich politische Gestaltungskompetenz haben und nicht nur als Verwaltungseinheiten dienen.

Das, glaube ich, sollte man sich vor Augen führen, wenn man heute über dieses Land Sachsen-Anhalt redet. Das, glaube ich, sollte man sich auch vor Augen führen, wenn man heute an den 17. Juni 1953 erinnert. Denn zumindest der unmittelbare Anlass für den 17. Juni 1953 wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht ein Jahr vorher damals in der DDR die Länder abgeschafft worden wären, nämlich die zentralistische Bestimmung einer zentralen Plankommission über die Normen, die im ganzen Land zu gelten hätten.

All diese Dinge wären unter einer solchen sozusagen politischen Gestaltungskraft von Ländern überhaupt nicht möglich gewesen. Sie haben zum Ausdruck gebracht, was passieren kann, welche Risiken zusätzlich existieren, wenn man diese zusätzliche Ebene der Gewaltenteilung und der möglichen Gestaltung von Demokratie abschafft.

Das will ich an dieser Stelle voranstellen, denn es ist heute eben kein gesellschaftlicher Konsens mehr. Ich weiß, dass auch in meiner eigenen Partei gern einmal zentralstaatliche Lösungen diskutiert werden.

Ich sage aber auch mit aller Deutlichkeit: Wir als Landtagsfraktion, wir als Landespartei stehen ausdrücklich zur föderalen Gewaltenteilung, stehen ausdrücklich dazu, diese Demokratieebene auch als politische Gestaltungsebene zu begreifen, ihre Potenzen zu nutzen, und nicht dafür, sie als Störkraft für möglichst bequeme, möglichst zentralistische Entscheidungen anzusehen.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von Frau Weiß, CDU, und von Herrn Weigelt, CDU)

Allerdings sage ich auch mit aller Deutlichkeit: Es gibt natürlich berechtigte Ängste, berechtigte Befürchtungen, die sich mit der föderalen Struktur in der Bundesrepublik auseinandersetzen. Da ist es natürlich so, dass wir vor dem Hintergrund oder angesichts des Leitbildes eines Wettbewerbsföderalismus bezüglich der Länder, die mit schlechteren Ausgangsbedingungen und mit absehbar schlechteren Ergebnissen in einen solchen Wettbewerbsföderalismus hineingehen, eine deutlich höhere Skepsis gegenüber der Gestaltungskompetenz haben.

Wir wissen, wie die Dinge gerade im Ergebnis der Föderalismuskommission I gelaufen sind. Wir wissen, dass gerade die ostdeutschen Länder zum Beispiel die Zerlegung des Beamtenrechtes in die Länderhoheit mit außerordentlichem Argwohn, auch mit Ablehnung beobachtet haben, weil sie wussten, was dadurch passieren kann, dass nämlich eine solche Ausdifferenzierung des öffentlichen Dienstrechts dazu führen wird, dass die starken Bundesländer im Wettbewerb um die besten Köpfe ihre materiellen Ressourcen ausspielen, währenddessen diejenigen, die in der Perspektive eher schlechter dastehen, bei diesem Wettrennen verlieren werden.

Deshalb ist es ganz klar, dass die Akzeptanz der politischen Gestaltungsebene des Landes zuallererst dort abnimmt, wo man genau weiß, dass man einen solchen Wettbewerbsföderalismus verlieren wird. Deswegen diskutieren auch die Menschen in Bayern nicht so sehr darüber, dass sie einen Landtag haben, der noch den ganzen Tag sitzen muss. Deswegen haben wir in Sachsen-Anhalt die Debatte, ob wir dieses Land SachsenAnhalt noch brauchen und ob das Landesparlament den ganzen Tag da sein muss, da man dabei doch eine ganze Menge einsparen könnte.

Wir - das sage ich Ihnen ganz deutlich - wollen etwas anderes. Wir wollen einen solidarischen Föderalismus, der sehr wohl darauf ausgerichtet ist, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse mit politischer Gestaltungskompetenz vor Ort und einem entsprechenden Ausgleich der dafür benötigten Ressourcen zu verbinden. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir die politische Gestaltungsebene und einen Landtag, übrigens auch noch heute Nachmittag.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)

Wir haben bei dieser Situation, die Sie geschildert haben, ja eine Reihe von durchaus existenziellen Problemen, Herr Böhmer. Sie haben zwei genannt. Das ist die demografische Entwicklung in diesem Land SachsenAnhalt. Die haben Sie ausführlich umschrieben. Sie haben ein zweites Problem genannt, und zwar die Frage der haushalterischen Perspektive in diesem Land. Auch diese haben Sie ausreichend beschrieben.

Sie haben leider ein drittes Problem nicht genannt, und zwar das Problem der zunehmenden sozialen Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, die wir vor zwei Tagen statistisch noch mal belegt bekommen haben, und der besonders scharfen Auswirkungen dieser sozialen Polarisierung hier im Land Sachsen-Anhalt. Es ist eine soziale Polarisierung, die sich übrigens auch in der Polarisierung zwischen ostdeutschen, wirtschaftlich schwächeren Bundesländern auf der einen Seite und wirtschaftlich stärkeren Bundesländern vor allen Dingen im Südwesten dieser Bundesrepublik auf der anderen Seite darstellt.

Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wenn wir die Risiken und Probleme dieses Landes wirklich bewältigen wollen,

(Zuruf von Herrn Weigelt, CDU)

dann müssen wir alle drei Dinge im Kopf haben: die demografische Entwicklung, die finanzielle Entwicklung, aber auch die soziale Entwicklung in diesem Land Sachsen-Anhalt. Dafür stehen wir als Partei. Diese drei Dinge müssen im Kontext behandelt werden.

Jetzt haben wir ein Problem.

(Beifall bei der LINKEN - Herr Tullner, CDU: So wie Berlin! - Frau Dr. Hüskens, FDP: Ja, ganz genau! - Herr Tullner, CDU: So wie in Berlin und in Brandenburg! Das werden Sie sehen! Hören Sie mal auf!)

- Ich höre noch nicht auf, Herr Tullner. Sie werden meine Ausführungen schon noch ein bisschen erleiden müssen. Und auch von Ihnen sind zumindest noch keine Alternativvorschläge gekommen, die mich sprachlos hätten machen müssen.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN - Zuruf von Frau Dr. Hüskens, FDP)

Wir haben bei diesen drei Problemen einen Zielkonflikt.

(Zuruf: Ach was!)

Das will ich mit aller Deutlichkeit sagen.

(Beifall bei der LINKEN - Herr Wolpert, FDP: Das ist schön!)

Es ist übrigens interessant gewesen, dass dieser Zielkonflikt in Ihrer Rede, Herr Böhmer, sogar ein paar Mal aufgeschienen ist. Ich sage Ihnen nur eines: Sie haben gesagt, um die demografische Entwicklung wirklich zu beeinflussen, um die Situation der Geburten zu verbessern, also das Kinderkriegen in den Familien wirklich zu fördern, müssen wir - so haben Sie sich ausgedrückt - eine gesellschaftliche Absicherung finden, um die individuellen Lebensrisiken abzumildern. Das ist völlig richtig.

(Zuruf von Frau Dr. Hüskens, FDP - Herr Tullner, CDU, lacht)

Nur: Dafür brauchen Sie eine Menge Geld. Dafür brauchen Sie eine Menge öffentlicher Mittel. Da merken Sie ganz schnell, dass sich die Situation bei der Bewältigung der strukturellen Krise auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung an der Forderung nach der Haushaltskonsolidierung brechen wird.

Dann haben wir natürlich die Situation der Zuspitzung der sozialen Probleme, was sich in Sachsen-Anhalt übrigens vor allem aufgrund der älter werdenden Bevölkerung in dem Problem der Altersarmut zeigen wird, weil wir neben dem allgemein abgesenkten Rentenniveau in dieser Bundesrepublik über die nächsten Jahre zusätzlich das Problem haben werden, dass massenhaft Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiographien in das Rentenalter hineinkommen.

Also haben wir hier einen Zielkonflikt. Wir müssen zum Beispiel gerade das machen, was Sie beschrieben haben, nämlich individuelle Lebensrisiken mit gesellschaftlicher Verantwortung ausgleichen, damit die Menschen mehr Kinder bekommen. Dazu brauchen wir aber öffentliches Geld, das wir wegen der Haushaltskonsolidierung gerade nicht mehr ausgeben wollen. Das sind die Zielkonflikte, in denen wir uns befinden.

Das Mindeste ist, diese Zielkonflikte zu begreifen,

(Zuruf von der LINKEN: Richtig!)