Wir müssen uns auch fragen, wie effizient Sozialpolitik im Sinne der Betroffenen ist. Es ist doch bedenklich, wenn eine Studie der Böckler-Stiftung aufzeigt, dass der Mitteleinsatz in Deutschland im sozialen Bereich äußerst uneffektiv ist. Zwar geben wir in Deutschland extrem viel Geld für Sozialausgaben aus, nämlich ca. 30 % des Bruttoinlandsproduktes. Damit liegen wir fast an der Spitze der europäischen Länder. Aber im Vergleich zu anderen Staaten sind bei uns die Verhältnisse extrem schlecht. In einem Vergleich zwischen 24 Ländern finden wir uns lediglich auf Platz 21 wieder. Das sollte uns zu denken geben.
Sozialpolitik kann sich eben nicht in der flächendeckenden Alimentierung von Arbeitslosigkeit erschöpfen, sondern muss in Verknüpfung mit anderen Politikfeldern Perspektiven dafür schaffen, der Situation zu entkommen. Da möchte ich sagen: Dazu brauchen wir einen Systemwechsel. Wir müssen uns auch nicht zu lange, aber ausreichend Zeit dafür nehmen, über diesen zu diskutieren. Wir brauchen ergänzend ein Instrument für eine aktivierende Arbeitsmarkpolitik. Wir halten daher eine öffentlich finanzierte gemeinwohlorientierte Bürgerarbeit für dringend notwendig.
Das schafft zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten jenseits des ersten Arbeitsmarktes. Wir bekommen die 20 % nicht in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist illusorisch. Es werden gemeinnützige Aufgaben übernommen, die sonst nicht mehr erfüllt werden können, weil auch bei den Trägern für gemeinnützige Aufgaben Finanzprobleme vorhanden sind. Es schafft Lebensperspektiven für die betroffenen Menschen, und zwar nicht kurzfristig, sondern zumindest mittelfristig und für einige vielleicht sogar langfristig. Die Alternative ist zudem nicht einmal teuer, da sie Leistungen kombiniert, die wir als Staat eh aufbringen müssen. Wir müssen aber wirklich darüber reden, ob wir einen solchen Systemwechsel wollen. Ich sage: Wir brauchen ihn. Mit den Kurzfristmaßnahmen werden wir nicht mehr alle Zielgruppen erreichen.
Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts - das erzählen wir uns gegenseitig schon sehr lange, aber die Schere geht immer weiter auseinander.
Deshalb müssen wir den Kindern derjenigen, die in Armut leben, Möglichkeiten der Teilhabe vor allem an Bildung eröffnen. Das halte ich für den entscheidenden Schlüssel zur Verbesserung ihrer Situation. Kinder und Jugendliche müssen entsprechend ihrem individuellen Vermögen bessere Chancen für ihre Ausbildung und damit auch für ihre Zukunft haben. Das fängt nicht erst in der Schule an und hört auch nicht mit der Schule auf. Ich werbe sehr dafür, dass wir auch dieses Thema im Bildungskonvent behandeln; denn das ist ein sehr zentrales Thema für unser Land.
Im Übrigen können wir es uns auch wirtschaftlich nicht länger leisten, einen großen Teil unserer Bevölkerung ohne Ausbildung zu lassen; denn es fehlen uns ja heute schon ausgebildete Fachkräfte. Es ist also auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft.
Ich möchte zum Schluss noch einige Worte zu denen sagen, die trotz geregelter Arbeit in Armut leben. Die Aussagen der Studie zeigen wieder einmal, wie wichtig es ist, für Mindestlöhne zu kämpfen.
Wer Vollzeit arbeitet, der muss dafür einen Lohn bekommen, von dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Wenn nicht einmal mehr Arbeit vor Armut schützt, dann ist der soziale Frieden in einer ganz anderen Art und Weise in Gefahr, und brennende Vorstädte wie in Frankreich möchte ich eigentlich in Deutschland nicht erleben.
Wir wollen keine Gettoisierung. Wir wollen keine Sozialhilfekarrieren in zweiter und dritter Generation. Schon heute ist ja zu erkennen, dass das dauerhafte Abhängen ganzer Bevölkerungsschichten dazu führt, dass es eine Zunahme von Kriminalität gibt, eine Zunahme von legalem und illegalem Drogenkonsum, Unsicherheit auf den Straßen, Vandalismus und Verwahrlosung, innere Emigration, Zunahme physischer und psychischer Krankheiten und - auch das gehört dazu - politische Radikalisierung.
Ich bin mir sicher, dass dieses Szenario auch denjenigen nicht gefällt - dass sie es auch nicht wollen können -, die von der zunehmenden Spaltung, dem Ausein
Deshalb, meine Damen und Herren, sage ich: Wir wollen als SPD erreichen, dass sich Leistung nicht nur für wenige, sondern für alle lohnt. Wir wollen, dass jeder, der Vollzeit arbeitet, davon leben kann. Vor allem wollen wir, dass nicht die Herkunft über die Zukunft der Kinder entscheidet.
Das ist der Weg aus der Armutsfalle. Er ist weit und beschwerlich. Das wissen wir, glaube ich, alle. Aber wir müssen ihn dennoch gehen.
Herr Minister, ein bisschen Leidenschaft und Emotion gehört da einfach dazu. Nur mit trockenen Zahlen und dem Hinweis, da gebe es Programme, werden wir es nicht schaffen. Ich glaube, dass wir damit die noch über 50 % an Gewinnern in der Gesellschaft nicht dazu motivieren können, sich dieser Erkenntnis zu stellen, weil es für sie und auch für uns persönlich abgeben heißt. Das geht nicht einfach nur mit Zahlen und mit flachen Erklärungen - nicht vom Inhalt her, sondern dadurch, dass es einfach nur dahingesagt wird. Dazu gehören auch Leidenschaft, Emotion und ein wenig Dramatik, damit das in der Gesellschaft begriffen wird.
Frau Budde, Sie sprachen jetzt völlig richtigerweise noch einmal die Mindestlohnfrage an. Es würde ja auch einige der großen Probleme lösen, die Herr Haseloff hierzu skizziert hat.
Jetzt gibt es dazu ja eine politische Entwicklung, und zwar eine entsprechende Vereinbarung mit dem SPDGewerkschaftsrat, die der Herr Müntefering, glaube ich, wie folgt interpretiert: Wir versuchen es erst einmal noch mit Tarifverträgen. Wenn das nicht funktioniert, dann versuchen wir es irgendwann einmal mit den AVE. Wenn das dann irgendwann einmal nicht funktionieren sollte, dann legen wir noch viel später einmal einen gesetzlichen Mindestlohn fest.
Jetzt frage ich Sie: Ist das eine Fehlinterpretation? Haben Sie in Ihrer Partei die Zielstellung, auf Bundesebene noch in diesem Jahr einen gesetzlichen Mindestlohn auf den Weg zu bringen? Wenn nicht: Was halten Sie von dem Interpretationsrahmen, den ich gerade dargestellt habe?
Ich halte dieses Dreistufenmodell aus Überzeugung heraus für richtig, Herr Gallert. Ich würde das auch nicht so schlechtreden oder mit so einem Ton unterlegen wollen. Ich halte es für wirklich elementar wichtig, dass der erste Weg die tarifliche Einigung ist.
Denn wir müssen das, was an Mitbestimmung da ist, stärken. Ich finde es richtig, das zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auszuverhandeln.
- Doch, das funktioniert dann, wenn es auch wieder zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz erfährt. Es funktioniert im Übrigen ja auch nicht über die AVE, sondern über das Entsendegesetz, wenn das Modell der Bauindustrie angewendet wird. Dann braucht man vorher keine AVE, sondern es geht über eine Verordnung auf der Bundesebene, so wie es jetzt beim Gebäudereinigerhandwerk gemacht wird.
Davor haben viele Angst. Das weiß ich. Die Betreffenden sagen: Das können wir doch jetzt nicht auf alles Mögliche übertragen. Da muss man ganz genau gucken, wo man es übertragen kann. Da, wo dies möglich ist, sollte man es auch tun.
Wenn es dann immer noch nicht geht, wird es einen Kompromiss geben müssen. Ich glaube nicht - Sie wissen bereits, dass diese Antwort kommt -, dass es noch in diesem Jahr dazu kommt, weil es eine große Koalition im Bund gibt, die das beschließen muss. In diesem Punkt sind die Kollegen von der CDU untereinander noch sehr viel strittiger, als wir das bei uns sind.
Wenn dann nichts mehr geht, dann wird gegebenenfalls auch der gesetzliche Mindestlohn nach dem Vorbild von Großbritannien eingeführt werden müssen.
Im Übrigen: Ich weiß, dass wir uns dafür nicht so viel Zeit lassen können, wie sich Großbritannien dafür genommen hat. Über einen Zeitraum von 15 Jahren hinweg ist das dort diskutiert worden, bevor es endlich diese Low Pay Commission gegeben hat und Jahr für Jahr ein gesetzlicher Mindestlohn ausgehandelt worden ist.
Diese Zeit können wir uns nicht nehmen, das weiß ich auch. Ich habe auch nicht die Illusion, dass wir das am Ende des Jahres auf der Matte stehen haben, dass wir das sozusagen vereinbart haben. Das wird noch ein sehr schwieriger Weg werden. Aber die Position ist klar, und wenn man mit der klaren Position in die Verhandlung geht, dann ist das, glaube ich, einfacher, als wenn die SPD mit einer diffusen Position in die Verhandlungen gehen würde. Ich werte es auch als einen Erfolg, muss ich sagen, dass es unter uns Einigkeit dazu gibt.
Was die Mindestlohndebatte betrifft, die geht nicht erst seit einem Jahr, die läuft auch schon seit zehn Jahren. Nur, wie dies mit einer solchen Debatte eben ist: Sie wächst zunehmend und kriegt irgendwann den Drive, den sie jetzt erhalten hat. Punkt.
Mit dem Dreistufenmodell kann man sicherlich umgehen. Mich interessiert aber, in welchen Zeiträumen das geschehen soll. Denn wenn man auf Tarifverträge und auf Tarifvereinbarungen hofft, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Tarifbindung in den letzten Jahren wieder mehr zurückgegangen ist, dass maximal zwischen 55 und 60 % der Arbeitnehmer unter einen Tarifvertrag fallen. Das heißt, wenn man dem Konzept folgen will, würde das bedeuten, dass man versucht, für die anderen, die keinen Tarifvertrag haben, einen zu machen. Dazu fehlt mir im Moment wirklich die Phantasie. Diese Schrittfolge kann ich zeitlich nicht einordnen. Meine Frage ist, ob es Zeitvorgaben gibt, dass man sagt, dann ist es endlich so weit.
Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir zu denen gehören, die drängeln, dass die Zeit, die verstreicht, nicht so lange ist. Das wird schlichtweg auf der Bundesebene ausgehandelt. Was wir im Land als Sozialdemokraten machen können, das machen wir, um die Behandlung des Themas zu beschleunigen. Das ist sozusagen außerhalb meiner Einflussmöglichkeiten. Aber das, was bei uns gemacht werden kann, tun wir, damit es schnell geht, weil wir tatsächlich glauben, dass es ein Schlüsselproblem ist. Und das muss gelöst werden.
Sie haben Recht: Natürlich geht die Debatte schon länger, aber in dieser Öffentlichkeit und auch mit dieser stärkeren gesellschaftlichen Akzeptanz läuft sie vielleicht seit zwei Jahren. - Vielen Dank.
Danke, Frau Budde. - Damit sind wir am Ende des ersten Themas der Aktuellen Debatte, da wir hierzu keine Beschlüsse fassen.
Die Debatte wird in folgender Reihenfolge durchgeführt: CDU, FDP, SPD, Linkspartei.PDS. Herr Kurze, Sie haben für die CDU-Fraktion das Wort.