Protokoll der Sitzung vom 20.10.2006

Die Debatte wird in folgender Reihenfolge durchgeführt: CDU, FDP, SPD, Linkspartei.PDS. Herr Kurze, Sie haben für die CDU-Fraktion das Wort.

Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! In den letzten Tagen, ja Wochen sind wir nahezu täglich mit neuen Schreckensmeldungen über Kindesmisshandlungen und sogar Kindestötungen konfrontiert worden. Die Kette derartiger verabscheuungswürdiger Taten scheint gar nicht mehr abzureißen. Auch in Sachsen-Anhalt wurden wir leider davon nicht verschont.

Diese schrecklichen Ereignisse müssen uns aufrütteln, mehr zum Schutz unserer Kinder zu tun, als wir dies in der Vergangenheit schon getan haben. Wir alle wollen ein kinder- und familienfreundliches Sachsen-Anhalt und dies eint uns alle in diesem Hohen Hause. Daran mitzuwirken ist aber nicht nur unsere Aufgabe, sondern Aufgabe der gesamten Gesellschaft.

Unterstützung brauchen neben den Kindern insbesondere junge Familien mit kleinen Kindern und Familien in besonderen Belastungssituationen.

Unabhängig vom Ausgang der juristischen Würdigung dieser Straftaten soll die heutige Aktuelle Debatte zu diesem Thema der Auftakt sein, um Möglichkeiten zum besseren Schutz der Kinder und zur Verhinderung dieser Straftaten zu entwickeln.

Die Zukunft unseres Landes sind nun einmal unsere Kinder. Aber die Realität sieht manchmal doch ganz anders aus. Immer wieder hören wir davon, dass Kinder verwahrlosen, weil sich die Eltern nicht um ihre Kinder kümmern und weil sie mit deren Erziehung überfordert sind. Oft kommen diese Kinder nach dem Besuch der Kindertagesstätte oder der Schule nach Hause, keiner kümmert sich um sie und der Fernseher ist ihr einziger Ansprechpartner.

Ich glaube nicht, dass diese Entwicklung sich auf die in den letzten Tagen viel zitierte so genannte Unterschicht reduzieren lässt. Der Deutsche Kinderschutzbund schätzt zum Beispiel ein, dass Verwahrlosung keine Folge der Armut, sondern der Verantwortung ist.

(Zustimmung von Frau Feußner, CDU, und von Herrn Rotter, CDU)

Ich will auch ganz offen sagen, dass mich die Diskussion der letzten Tage über die Studie der Friedrich-EbertStiftung, die in der vorherigen Aktuellen Debatte der Gegenstand war, beunruhigt. Wenn es aus der Politik als Konsequenz nur eine wechselseitige Schuldzuweisung gibt, wer diese Entwicklung zu verantworten hat, und man meint, dass es in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland keine Schichten gebe, dann kann man eigentlich nur mit dem Kopf schütteln.

Für mich ist es nicht die Frage, ob Kinder aus derartigen Haushalten hiervon betroffen sind. Das Ziel muss es sein, für alle Kinder die Chance zu eröffnen, nicht in solchen Verhältnissen aufwachsen zu müssen, in denen sie nicht angemessen behütet und beschützt werden und vor Straftaten geschützt werden.

Unabhängig davon sind die kinderbezogenen Leistungen im Zuge von Hartz IV umfangreicher, als allgemein angenommen wird. Das Problem liegt wohl eher darin, dass diese Mittel oftmals nicht bei den Kindern ankommen, sondern von den Eltern zu deren ureigensten Zwecken verwendet werden.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Programm „Bildung elementar“ sowie mit dem Familienfördergesetz haben wir in der letzten Legislaturperiode begonnen, die Stellung von Kindern, Jugendlichen und Familien zu stärken. Wir haben uns darauf verständigt, die vorhandenen Angebote auszubauen bzw. zu stärken.

Eltern sollen bereits von der Schwangerschaft an begleitet und durch spezielle Bildungsangebote in ihrer Elternkompetenz und in der Bewältigung von besonderen Belastungssituationen gestärkt werden. Wir brauchen auch zukünftig Angebote von Schwangerschafts-, Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung.

Kindertageseinrichtungen sollen nicht nur den Bildungsauftrag konsequent und zügig umsetzen, sondern auch ergänzende Angebote wie Bewegungsförderung, Ernährungs- und Gesundheitsprogramme schaffen und sich als Orte für die gesamte Familie, zu Kinder-Eltern-Zentren, entwickeln.

Kindertagesstätte und Grundschule müssen enger zusammenarbeiten, um im letzten Kindergartenjahr die Kinder auf die Schule vorzubereiten, gleiche Startchancen zu ermöglichen und vorhandene Defizite auszugleichen.

Bei all diesen Unterstützungsangeboten dürfen wir aber auch nicht müde werden, die Rolle der Familie immer wieder deutlich zu machen.

(Zustimmung von Herrn Schwenke, CDU)

Damit meine ich nicht die Diskussion um die Definition von Familie, sondern den Wert und die Funktion der Familie. Mir geht es vor allem darum, deutlich zu machen, dass bei allen staatlichen Hilfsangeboten staatliche Einrichtungen nicht die Familie ersetzen können.

Hierzu brauchen wir aber die Unterstützung vieler. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass dieses Thema bereits in der Schule aufgegriffen wird. Neben der sexuellen Aufklärung könnte in diesem Zusammenhang dargestellt werden, was es bedeutet, eine Familie zu gründen, was es bedeutet, Kinder zu haben, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen, und welche Unterstützungsangebote in unserer Gesellschaft existieren.

Welches junge Mädchen weiß denn heute, dass die Einnahme eines Vitamins wie Folsäure die frühkindliche Entwicklung in der Schwangerschaft besonders positiv beeinflusst? Anfang der 90er-Jahre gab es schon einmal eine Präventionskampagne in diesem Land, und ich habe die Ministerin bereits angesprochen, dass wir hier etwas tun müssen.

Die Schule könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, zukünftige Überforderungssituationen bei Kindern und Jugendlichen zu vermeiden. Auch vor dem Hintergrund, dass Sachsen-Anhalt zu den Bundesländern mit der höchsten Zahl minderjähriger Schwangerer gehört, halte ich dies für wichtig.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Früher als die Bundesebene hat sich Sachsen-Anhalt bereits auf den Weg gemacht, den Schutz von Kindern zu verbessern. Das Sozialministerium hat bereits in der letzten Legislaturperiode mit dem Modell der Familienhebammen begonnen, ein Frühwarnsystem zum besseren Schutz der Kinder vor Vernachlässigung zu entwickeln. Frau Ministerin Dr. Kuppe ist dabei, dieses Projekt umzusetzen und es auszubauen.

Die Familienhebammen sollen sich vor allen Dingen um Familien kümmern, deren Erziehungskompetenzen gestärkt werden müssen. Die Erfahrung lehrt - das kann ich als Vater auch sagen -, dass werdende Eltern und Eltern mit Kleinstkindern die Hilfe und Beratung von Hebammen leichter annehmen als etwa von Behörden. Das Angebot von derzeit landesweit zehn Familienhebammen soll auf mindestens 28 erweitert werden, sodass in jedem künftigen Landkreis und jeder kreisfreien Stadt jeweils zwei Familienhebammen tätig sein können.

Die derzeit auf der Bundesebene angestoßene Diskussion um eine bessere Vernetzung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ist in Sachsen-Anhalt ebenfalls in Vorbereitung. Unter der Überschrift „Allianz für Kinder“ soll die Zusammenarbeit zwischen den Behörden vor Ort verbessert werden.

Wir sollten die Vernetzung zu einem echten Frühwarnsystem ausbauen. Geburtskliniken, Hebammen, Kinderärzte, Kitas, Schulen, Polizei, Justiz, Jugend- und Gesundheitsämter, Familienberatungsstellen gehören dazu.

Sie sollen zusammenarbeiten, voneinander wissen, was sie tun, und qualifiziert Informationen untereinander austauschen. Rechtliche Hürden sollten dazu ausgeräumt werden. Die Kompetenzen müssen so vernetzt werden, dass gefährdete Kinder nicht mehr der Verantwortungslosigkeit zum Opfer fallen.

Ich möchte keine Zwangsadoptionen wie in der DDR, aber wir dürfen uns nicht hinter den Akten verstecken und die kleinen Babys und Kinder in Familien belassen, bloß weil wir an das Gute im Menschen glauben oder weil ein Gutachter eine angeblich positive Persönlichkeitsbescheinigung ausgestellt hat.

Es geht nicht um das Wohl des Vaters, wie es in einem Fall in der letzten Woche gewesen ist, sondern es geht um das Wohl des Kindes. Das müssen wir uns vor Augen halten. Die schrecklichen Beispiele sind für uns kaum noch nachzuvollziehen, schon gar nicht, wenn man selber Kinder hat.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir brauchen ein Klima in unserer Gesellschaft, in dem alle mehr auf die Geschehnisse in ihrem Umfeld achten. So sollten zum Beispiel Ärzte sofort die staatlichen Institutionen informieren, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass untersuchte Kinder vernachlässigt oder, schlimmer noch, misshandelt werden. Gleiches sollte natürlich auch für den Kindergarten und für die Schule gelten.

Zur Sicherung des Kindswohls wird die Landesregierung den Beschluss des Landtages zur gesundheitlichen Vorsorge bei Kindern umsetzen, der unter anderem die Pflicht zur Vorlage eines Nachweises über die dem Alter entsprechenden Vorsorgeuntersuchungen bei der Aufnahme von Kindern in staatlich geförderte Kindertageseinrichtungen vorsieht.

Dies haben wir in Kenntnis der Tatsache, dass Mädchen und Jungen aus sozial benachteiligten Verhältnissen weitaus seltener zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen als Kinder aus der so genannten Mittelschicht, in diesem Hohen Hause bereits beschlossen. Es darf nicht sein, dass sich Eltern auf das Recht, ihr Kind keinem Arzt vorstellen zu müssen, berufen können. Das Recht des Kindes - das möchte ich betonen - auf eine optimale Gesundheitsvorsorge muss höher bewertet werden als ein vermeintliches Recht der Eltern.

Auch zur Verhütung könnte man noch einige Beispiele bringen. Es kann nicht sein, dass junge Mädchen oder junge Männer zu bequem sind, zum Arzt zu gehen und sich über Verhütung aufklären zu lassen. Es kann auch nicht sein, dass die Kosten für die Pille von 30 € im Quartal als zu hoch kritisiert werden, die Krankenkassen aber die Kosten für die Abtreibung bezahlen. Das kann einfach nicht sein. Auch bei diesem Thema müssen wir an das Verantwortungsbewusstsein der jungen Menschen und der Familien appellieren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle sind gefordert, diesen Schutzfunktionen verstärkt nachzukommen. Auch wenn wir, wie ausgeführt wurde, vieles auf den Weg gebracht haben, bleibt noch viel zu tun.

Nicht zuletzt aufgrund der in den letzten Tagen bekannt gewordenen Fälle werden wir in den Haushaltsberatungen gemeinsam mit der SPD-Fraktion einen Antrag einbringen, der die beabsichtigte Kürzung der Mittel für die Ehe-, Lebens-, Familien- und Erziehungsberatungsstellen sowie für die Schwangerschaftsberatungsstellen im Haushaltsjahr 2007 zurücknimmt.

Wir müssen die Diskussion im Landtag über die Einführung der anonymen Geburt zum Abschluss bringen. Ob dies ein Beitrag sein kann, Leben zu retten, muss der Landtag entscheiden. Ich glaube aber, es ist für das junge Leben besser, anonym in einem Krankenhaus geboren zu werden, als tot in einem Müllbeutel zu enden.

(Zustimmung bei der CDU, bei der Linkspar- tei.PDS und bei der SPD)

Wir sollten auch darüber diskutieren, ob wir den Eltern, die ihren elterlichen Pflichten trotz aller Hilfsangebote nicht nachkommen, mit Sanktionen drohen. Hierzu müssen sich sicherlich Sach- und Fachkundige verständigen. Aber es kann nicht sein, dass Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen und die zum Beispiel das Kindergeld nicht für ihre Kinder, sondern für sich selbst verwenden, nicht daran gehindert werden können.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus meiner Sicht kann die heutige Aktuelle Debatte nur der Beginn einer Diskussion über diese Problematik in diesem Hohen Hause sein. Ich hoffe und ich gehe davon aus, dass die weitere Diskussion hierüber zunächst intensiv im Ausschuss für Soziales geführt werden wird und dann im Plenum über etwaige Initiativen beraten werden wird. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Danke, Herr Kurze. - Für die Landesregierung wird Ministerin Frau Dr. Kuppe sprechen. Bitte sehr.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen Abgeordnete! Kevin, Benjamin, Jessica - das sind drei Namen. Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Tragödie - Kindesmisshandlung und Kindestötung. Leid, Trauer, Schuld, Versagen, die Suche nach den Verantwortlichen - das Drehbuch ist nahezu immer gleich. Medial begleitet uns das Thema aktuell seit dem Tod von Kevin. Die Betroffenheit wird noch einige Tage anhalten. Aber was passiert dann?

Auch in der Vergangenheit sind in Deutschland Kinder verhungert, zu Tode gequält worden, vernachlässigt worden, sie sind verwahrlost und verkümmert. Deshalb muss diese Debatte mehr als eine kurzfristige Betroffenheit auslösen. Mit Appellen allein ist es nicht getan. Wir müssen handeln, und zwar nachhaltig handeln.

Es gilt, das Kindswohl zu stärken und Kinder vor Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch besser zu schützen. Das heißt aber auch: Wir müssen die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stärken. Das heißt, der Staat und die Kommunen müssen Eltern bei der Bewältigung ihres Lebens mit Kindern unterstützen. Jedes Kind braucht gute Bedingungen zum Aufwachsen. Das heißt für mich: Wir brauchen auf allen Ebenen eine Allianz für Kinder.

(Zustimmung bei der SPD)

Das heißt, alle Einrichtungen, alle Behörden und alle Institutionen vor Ort müssen besser als bisher zusammenarbeiten; sie müssen miteinander arbeiten. Das bedeutet aber auch, dass sie voneinander wissen. Das betrifft die kommunalen Behörden, das Jugend-, das Sozial- und das Gesundheitsamt, die gesamte Beratungs

landschaft, die Ärzteschaft und die Hebammen, das betrifft die Kitas genauso wie die Schulen, aber auch die Polizei und die Justiz.

So hat die Polizei gelegentlich Informationen, die für die polizeiliche Arbeit selbst zweitrangig erscheinen, die aber für die Jugendhilfe durchaus von großer Bedeutung sein könnten. Deswegen ist es wichtig, dass solche Informationen zeitnah und unaufgefordert an die entsprechenden Stellen gelangen.

Das heißt, wir müssen die bisweilen starre Abgrenzung zwischen den Institutionen aufbrechen. Die Fachwelt spricht von einer Versäulung. Genau diese Versäulung gilt es zu überwinden. Wir kennen das aus dem Bereich der gesundheitlichen Versorgung. Für die Versorgung von Familien, von Kindern und Jugendlichen gilt dasselbe. Wir müssen näher an die Menschen und an ihre Probleme herankommen und dürfen nicht in Schubkastendenken verharren.

Gute Ansätze gibt es. Ich nenne die Stadt Magdeburg. Die Landeshauptstadt hat in den Stadtteilen regionale Sozialzentren eingerichtet. Dort werden soziale Angebote gebündelt. Hilfe wird aus einer Hand angeboten.

Zusätzlich hat das Jugendamt mit allen Trägern von Einrichtungen und Diensten Vereinbarungen nach § 8a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zum besseren Schutz vor Vernachlässigung abgeschlossen. Es gibt eindeutige Festlegungen. Seit Anfang 2006 gibt es auch ein monatliches Fortbildungsangebot.

Das Jugendamt der Landeshauptstadt beabsichtigt ferner, mit der Ärzteschaft und mit den Schulen Kooperationsvereinbarungen abzuschließen, um sie als Partner in die Sorge für Kinder einzubinden.