Protokoll der Sitzung vom 15.12.2011

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Schluss der Regierungserklärung kommen.

Das Ziel der Regierungserklärung ist es, Freiheit und Demokratie, auch im Rückblick auf unsere eigene deutsche Geschichte, in diesem Hohen Haus als unverhandelbaren, unveräußerlichen Wert zu würdigen. Molière hat gesagt: „Die Dinge haben nur den Wert, den man ihnen verleiht.“ Der Wert unserer demokratischen Freiheit ist eben nicht die Macht einiger weniger, die uns führen und verführen wollen, sondern unsere Freiheit ist neben der individuellen auch politische Gestaltungskraft, geteilt in kleine Stücke. Diesen Wert haben wir mit unseren Grundrechten jedem Einzelnen in den kodifizierten Bürger- und Menschenrechten verliehen.

Deshalb möchte ich die Regierungserklärung unter Bezug auf Artikel 4 unserer Landesverfassung, der im Übrigen identisch ist mit Artikel 1 des Grundgesetzes, der besten Verfassung, die wir Deutsche je hatten, schließen, meine Damen und Herren:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Volk von Sachsen-Anhalt bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der LINKEN)

Herr Minister, es gibt zwei Wortmeldungen bzw. Anfragen aus dem Hause.

Bitte.

Die möchten Sie beantworten. - Zunächst Herr Abgeordneter Herbst.

Herr Minister Stahlknecht, Sie sind in Ihrer Erklärung unter anderem auf die Chancen und Möglichkeiten eines NPD-Verbotes eingegangen. Sie haben sich dabei auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bezogen, haben es in einer Richtung interpretiert und ausgelegt, dass es vorschreiben würde, dass V-Männer oder V-Frauen nicht Mitglied im Bundes- und Landesvorstand sein dürften, dass die Partei nicht von einem V-Mann gesteuert werden dürfe.

Meine Frage, die sich daran schließt, wäre, ob das nicht eine etwas zu weitgehende Interpretation des Urteils wäre, ob nicht gerade die aktuellen Ermittlungsergebnisse im Fall der Terrorserie der NSU zeigen, dass die V-Leute durchaus eher weniger ertragreiche Informationen zutage gebracht haben und ob es nicht angesichts einer Entschlossenheit bezüglich eines NPD-Verbotes - Sie haben ja gesagt, dass Sie dabei entschlossen vorgehen und den Beschluss der Innenministerkonferenz unterstützen wollen - angezeigt wäre, zu diesem Zeitpunkt diese Entschlossenheit zu unterstützen - nicht durch Interpretation des Urteils, sondern indem wir sagen, wir ziehen ganz klar und eindeutig die V-Leute aus dieser neonazistischen Partei ab, um uns überhaupt nicht erst in die Situation zu begeben, dass das Verfassungsgericht bezüglich der V-Leute erneut eine Entscheidung treffen könnte, die bedeutet, dass das Verfahren erneut scheitert.

Wäre es hierbei nicht geboten, diese Entschlossenheit zu unterstreichen, auch durch eine entschlossene Handlung und eine entschlossene Aussage in Richtung Abzug aller V-Leute, auch in Sachsen-Anhalt? Könnten Sie nicht - auch in Hinsicht auf die anderen Innenminister - hier im Land in Vorlage gehen, Herr Minister?

Herr Minister.

Herr Herbst, ich habe zunächst einmal das juristisch zu bewerten gehabt, was das Bundesverfassungsgericht uns aufgeschrieben hat. Das ist weniger eine Frage der Interpretation. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, entscheidend ist, dass V-Leute nicht in den entscheidenden Gremien vertreten sein dürfen; ich nenne das jetzt einmal etwas holzschnittartig. Das ist nur die Widergabe dessen, was sie gesagt haben. Das ist noch nicht einmal Interpretation oder theleologische Reduktion. Ich habe das einfach nur wiedergegeben.

Wenn Sie aufgrund der Erfahrungen, die das Bundesverfassungsgericht damals gar nicht kennen konnte, die wir jetzt vermeintlich haben, dass V-Leute versagt haben, die Frage stellen, ob es sinnvoll wäre, alle V-Leute abzuschalten, dann wäre das eine politische Aussage, die man juristisch nicht zwingend braucht. Ich bin mir aus zweierlei Gründen auch nicht sicher, ob das die richtige Vorgehensweise wäre:

Erstens. Wenn man ein NPD-Verbot will, dann brauchen wir Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat - alle Länder. Politik ist immer die Kunst des Machbaren. Ich glaube nicht, dass alle Bundesländer bereit wären, ihre V-Leute komplett abzuziehen. Das ist die Frage der politischen Gestaltungskunst.

Zweitens. Über die NPD in Sachsen-Anhalt will ich gar nicht so viel reden. Das sind 250 Leute. Aber was die 800, die die Gewalttaten begehen, vorhaben, das würde mich als einer, der für die innere Sicherheit in diesem Land Verantwortung tragen darf, interessieren, um den Menschen auch präventiv Schutz geben zu können. Darüber müssen wir in Ruhe reden.

Wenn Sie mich zur NPD in Sachsen-Anhalt fragen - ich habe schon einmal irgendwo in einem Interview gesagt, egal wie es kommt, ich könnte hier ruhig schlafen -: Ja. Aber das andere ist eine juristische Bewertung.

Es gibt noch eine zweite Frage. Herr Abgeordneter Striegel.

Herr Minister, Sie haben in Ihrer Erklärung ausgeführt, dass es nach derzeitigem Stand keine Straftaten der NSU bzw. keine konkreten Hinweise darauf in Sachsen-Anhalt gebe. Das ist kein neuer Stand. Sie haben aber in der letzten Woche bei einer Pressekonferenz gesagt, dass das Innenminis

terium und die Behörden in Sachsen-Anhalt derzeit eine Verbindung nach Sachsen-Anhalt abprüfen würden, ohne das näher zu spezifizieren. Können Sie auch das Parlament und nicht nur die Presse über entsprechende Dinge informieren?

Lieber Herr Striegel, ich habe der Presse gesagt - genauso apodiktisch und kryptisch, wie Sie das gesagt haben -, dass Verbindungen untersucht werden und dass ich mich zu weiteren Dingen nicht äußere. Da wir nachher in der PKK zusammensitzen, soweit ich weiß, Frau von Angern - - Frau von Angern kennt den Hintergrund. Dafür haben wir eine PKK. Sie werden mir nachsehen, dass ich mich an die Regeln dessen, was ich wo sage, auch in einer Landtagsdebatte halten werde. Dabei bitte ich um Nachsicht, Herr Striegel. Wenn Sie dann die PKK gewählt haben, sind Sie auch dabei. Dann haben Sie es aus erster Hand.

(Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank. - Weitere Anfragen gibt es nicht.

Wir können weitere Gäste bei uns im Haus begrüßen. Es sind Schülerinnen und Schüler der Gemm-Sekundarschule aus Halberstadt. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Der Ältestenrat schlägt eine Debatte mit einer Redezeit von 15 Minuten je Fraktion vor. Wir haben uns auf die Reihenfolge der Fraktionen DIE LINKE, SPD, GRÜNE, CDU verständigt. Als Nächste hat das Wort Frau Angeordnete Tiedge.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „DönerMorde“ titelten bekannte Zeitungen. Was für eine furchtbare Sprache für vielfachen Mord an Menschen - Menschen, die in Deutschland gelebt haben und die nur aus einem einzigen Grund Opfer einer menschenverachtenden, ausländerfeindlichen, rassistischen politischen Einstellung geworden sind: weil sie einen Migrationshintergrund hatten. Nur aus diesem Grund mussten sie sterben. Wir erwarten auch von Journalisten, dass sie bei der Wahl ihrer Worte verantwortungsbewusster handeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Neben dem Entsetzen und der Trauer um die Opfer stellt sich aber auch Wut ein, Wut darüber, dass mitten unter uns über Jahre hinweg eine rechte Terrorzelle unbehelligt ihr Unwesen treiben konnte. Da stellen sich Fragen über Fragen, auf die es auch heute noch keine befriedigenden Antworten gibt.

Meine Damen und Herren! Eine Forderung muss heute mit aller Deutlichkeit aufgemacht werden: Wir erwarten eine schonungslose und öffentliche Aufklärung all der Fehler und Versäumnisse, die in den letzten Jahren passiert sind.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Aber auch die Frage muss gestellt werden: Waren es vielleicht gar keine Fehler und Versäumnisse? - Man soll doch nicht so tun, als sei der Rechtsterrorismus ein völlig neues Phänomen in der Bundesrepublik Deutschland. Bereits Ende der 60erJahre gründeten sich erste bewaffnete Gruppen, deren Mitglieder sich aus radikalisierten NPD-Anhängern und gewaltbereiten Neonazis der nationalrevolutionären Szene rekrutierten.

So war eine der ersten rechtsterroristischen Gruppen die im Jahr 1969 gegründete Europäische Befreiungsfront. Einen Tag, bevor diese Gruppe Anschläge auf die Stromversorgung für das Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph verüben konnte, wurden mehrere Mitglieder der Gruppe verhaftet. Gefunden wurden bei Ihnen eine ganze Reihe von Waffen und Pläne für weitere Anschläge.

Erinnert sei an dieser Stelle aber auch an die Wehrsportgruppe Hoffmann, an die Wehrsportgruppe Rohwer, an die deutschen Aktionsgruppen und an die Volkssozialistische Bewegung Deutschlands. Sie alle waren hochgefährliche rechtsterroristische Gruppierungen, die über Jahre hinweg ihr Unwesen treiben konnten, oftmals von den Sicherheitsbehörden, aber auch von der Politik als politische Wirrköpfe verharmlost.

Spätestens jetzt muss allen klar geworden sein, dass endlich Schluss sein muss mit der Verharmlosung des Rechtsterrorismus in diesem Land.

(Beifall bei der LINKEN)

Es muss Schluss sein mit der Auffassung: Wir handeln nach dem Motto „Es gibt keinen Rechtsterrorismus, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Stets werden auch damals bereits V-Leute des Verfassungsschutzes involviert gewesen sein, so wie sie es auch bei den jüngsten Ereignissen gewesen sind.

Nach neuesten Medienberichten haben die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden derzeit mehr als 130 aktive Informanten in der NPD, mehr als zehn davon berichten aus Führungsgremien.

Meine Damen und Herren! Nun fragen wir uns: Was haben diese V-Leute all die Jahre nicht berichtet? Oder haben sie berichtet und es wurde nicht verfolgt oder nicht für ernst genommen? - Das alles wurde dann auch noch staatlich finanziert. Wir müssen uns die Frage stellen: Wer hat da eigentlich wen geführt, der Verfassungsschutz die V-Leute oder die V-Leute den Verfassungsschutz?

Es muss sich für jeden auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Einsatzes von V-Leuten stellen. Da gehen Neonazis in den Untergrund und bleiben fast 14 Jahre lang verschwunden, und das nicht etwa im Ausland, nein, mitten in Deutschland, mitten unter uns. Sie rauben in diesen Jahren Banken aus, ermorden zehn Menschen und niemand konnte sie angeblich stoppen.

Sehr schnell waren die Ermittlungsbehörden nach den einzelnen Morden mit scheinbar plausiblen Erklärungen zur Stelle. Es seien Morde gewesen im Zusammenhang mit der Türken-Mafia, Schutzgelderpressung spielte eine Rolle und Ähnliches. Was nicht in Erwägung gezogen wurde bzw. gar nicht erst in Erwägung gezogen werden sollte, war die Frage, ob hinter all dem nicht ein rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher Hintergrund stehen könnte.

Niemand wurde stutzig, als festgestellt wurde, dass in allen Fällen dieselbe Waffe benutzt wurde. Niemand machte Anstalten zu fragen, ob es zwischen all den Morden einen Zusammenhang geben könnte - und das, obwohl es seit 1992 eine Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer, terroristischer, insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte gibt, die sich aus Vertretern des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes, der Generalbundesanwaltschaft, des Militärischen Abschirmdienstes, des BMI, des BMJ sowie aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der jeweils zuständigen Landesbehörden zusammensetzt.

Meine Damen und Herren! Da stellt sich natürlich unweigerlich die Frage, was hat die Gruppe all die Jahre gemacht?

Auf die Anfrage einer Fraktionskollegin im Deutschen Bundestag hinsichtlich der gerade genannten Informationsgruppe antwortete die Bundesregierung, dass die Themenschwerpunkte Lagedarstellungen, spezifische Entwicklungen, insbesondere der neonazistischen Szene, Möglichkeiten der Optimierung der Zusammenarbeit, insbesondere im Hinblick auf die Initialisierung von Auswerteprojekten, wie beispielsweise zur Kameradschaftsszene, umfassten.

Da fragt man sich schon, was man in diesem Gremium unter „Optimierung der Zusammenarbeit“ versteht bzw. verstanden hat; denn die letzte Sitzung fand im Jahr 2007 statt. Und sonderlich gravierende Ergebnisse können auch nicht aufgetaucht sein. Entweder hat in diesem Gremium jeder jedem misstraut, oder es gab Erkenntnisse, die dann nicht weiter verfolgt wurden oder nicht weiter verfolgt werden durften. Jeder mag an dieser Stelle für sich selbst entscheiden, was wohl folgenschwerer war und ist.

Dass sich prinzipiell nicht viel verbessert hat, zeigt die gemeinsame Pressekonferenz von BKA und

Bundesanwaltschaft in der vergangenen Woche. Auf die Frage, ob es Zusammenhänge zwischen dem Raub von Sprengstoff bei der Bundeswehr und Sprengstoffanschlägen rechter Gruppierungen gäbe, wurde geantwortet, das wisse man nicht, man möge doch den MAD fragen. - Nichts, rein gar nichts hat sich verändert.

Ich erinnere an die Fragestunde im Deutschen Bundestag am 30. November 2011. Fragen führten prinzipiell ins Nichts, und die Antworten, die gegeben wurden, waren keine. Ein Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellte zum Beispiel folgende Frage an den Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesinnenminister:

„Herr Staatssekretär, ich habe eine Frage zum September 1980. Sie erinnern sich: Das Oktoberfestattentat wurde zuerst als die Tat eines Einzelnen niedergebügelt. Meine Frage ist: Kommt es jetzt zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens und wird der Generalbundesanwalt die Ermittlungen führen?“