Protokoll der Sitzung vom 15.11.2012

Meine Damen und Herren! Ich verstehe durchaus den Impuls, wenn manche Menschen sagen, angesichts der geringen Zahl von Migrantinnen und Migranten sowie von Asylsuchenden in SachsenAnhalt könne die Frage der Unterbringung doch kein so wichtiges Thema sein. Diesen Impuls verstehe ich.

Abgesehen davon, dass es um Menschenwürde geht, die für jeden Einzelnen gilt, sagen wir: Im Gegenteil - eben weil es so wenige sind, ist es eine Frage des politischen Willens, hierfür eine gute Lösung zu finden.

Der politische Wille ist auch Ausdruck und Impetus der Äußerungen des Innenministers und des angekündigten Erlasses des Innenministers, den ich prinzipiell sehr begrüße. Es ist gut, dass Familien und Alleinerziehende mit Kindern aus den Gemeinschafsunterkünften herausgeholt werden sollen. Es ist gut, dass Standards definiert werden sollen. Es ist gut und es ist lange überfällig.

Unter Berücksichtigung dessen, was ich vorhin zur Großen Anfrage der GRÜNEN sagte, habe ich aber erhebliche Zweifel daran, dass das mit Blick auf die zahlreichen Kann-Bestimmungen des Entwurfs tatsächlich stattfinden wird.

Über diese Frage und zahlreiche andere Fragen würden wir mit Ihnen gern im Innenausschuss und im Sozialausschuss diskutieren. Ist eine Erhöhung des Anspruchs auf eine Wohnfläche von 5 auf 6 m² pro Person tatsächlich der große Wurf? Sind 200 Menschen als Maximalgröße für eine Gemeinschaftsunterkunft angemessen? Ist ein Maximalaufenthalt von vier Jahren adäquat? - Darüber würden wir vor allem gern mit Expertinnen und Experten diskutieren. Ich werbe deshalb um Zustimmung zu unserem Antrag. - Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Es gibt eine Anfrage von Herrn Striegel, Frau Quade. - Bitte.

Es ist weniger eine Anfrage an Frau Quade, sondern vielmehr eine Wortmeldung als Parlamentarischer Geschäftsführer meiner Fraktion. Bevor wir jetzt in die Diskussion zu dem Antrag und zu dem Alternativantrag der Koalitionsfraktionen einsteigen, möchte ich auf einen Sachverhalt aufmerksam machen, der unter Punkt 1 des Alternativantrags der Koalitionsfraktionen in der Drs. 6/1607 auftaucht. Darin wird dem Landtag der folgende Beschlussvorschlag unterbreitet:

„Der Landtag begrüßt die durch die Landesregierung im Entwurf vorgelegten Leitlinien für die Aufnahme und Unterbringung von um Asyl bittenden Menschen.“

Das klingt zunächst unproblematisch. Allerdings sind dem Landtag als Organ diese Leitlinien nicht bekannt. Insofern stelle ich zumindest für meine Fraktion fest, dass es problematisch ist, etwas zu begrüßen, das man selbst nicht kennt.

Die Frage an das Innenministerium, ob denn die Leitlinien vor der Landtagsdebatte an uns verschickt werden könnten, ist negativ beschieden worden. Deshalb möchte ich die Präsidentin bitten nachzufragen, wer von den hier im Plenum Anwesenden die Möglichkeit hatte, diese Leitlinien zu lesen, sie zur Kenntnis zu nehmen, damit er im nächsten Schritt entscheiden kann, ob er sie begrüßen möchte.

Sofern es Mitglieder dieses Hohen Hauses gibt, die das nicht tun konnten, möchte ich beantragen - das ist ein Änderungsantrag, den ich mündlich stelle -, Punkt 1 des Alternativantrags der Koalitionsfraktionen zu streichen, sodass sich das Plenum lediglich mit den Punkten 2 und 3 des Alternativantrags befassen wird. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Danke sehr, Herr Striegel. Was man nicht kennt, das kann man nicht begrüßen; darin stimme ich mit Ihnen überein.

(Herr Gallert, DIE LINKE: Oh!)

Vielleicht legt uns die Landesregierung in Ihrem Redebeitrag jetzt ihre Position dazu dar, weshalb die Leitlinien noch nicht an das gesamte Haus gegangen sind und es trotzdem begrüßt werden soll. - Herr Minister, Sie möchten das Wort ergreifen. Bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich vor, auf einen Redebeitrag zu verzichten, weil ich unter dem Tagesordnungspunkt 5 schon all das gesagt habe, was ich auch unter diesem Tagesordnungspunkt ausführen würde. Das wollte ich uns ersparen.

Aber nun haben Sie mich gefragt - aus diesem Grund bin ich jetzt doch nach vorn gegangen -, was mit den Leitlinien sei. Es ist so, dass es in der Tat erst einmal exekutives Handeln ist, das wir in Abstimmung mit den anderen Ministerien vornehmen. Dabei ist es guter Brauch, dass wir solche Dinge während des Abstimmungsverfahrens noch nicht vorlegen, sondern erst dann weitergeben, wenn das mit den anderen Ressorts abgestimmt wurde. Das ist unser gutes Recht - ohne dass das arrogant klingen soll.

Ich vermute - wir als Juristen haben gelernt, das Recht auszulegen -, dass der Antrag vielleicht so auszulegen ist - möglicherweise handelt es sich nur um einen Schreibfehler -, dass Sie es begrüßen, dass wir das vorlegen.

(Lachen bei der LINKEN)

Vielleicht kann man das so interpretieren; das wäre zumindest ein Vorschlag.

(Frau Bull, DIE LINKE: Brücken bauen! - Frau von Angern, DIE LINKE: Wie haben Sie denn das jetzt ausgelegt? - Weitere Zurufe von der LINKEN)

- Genau, Brücken bauen, Frau Kollegin. - Mehr wollte ich jetzt gar nicht sagen, Frau Präsidentin.

Für die SPD-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Wanzek.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Striegel, es ist oft so, dass manches um verschiedene Ecken herum ankommt. Ihre Fraktion hätte die Leitlinien beim Runden Tisch erhalten können; bei dieser Gelegenheit wurden sie mit verschickt und wir haben darüber diskutiert.

(Unruhe bei den GRÜNEN)

Aber weil - Sie haben Recht - nicht das ganze Haus diese Leitlinien bekommen hat, werden wir Punkt 1 des Alternativantrages streichen. Punkt 2 wird dann zu Punkt 1 und Punkt 3 zu Punkt 2. Damit ist das geheilt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Unruhe)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie gesagt, es war schon etwas irritierend, dass man nach der Sommerpause von einigen Verbänden Anfragen erhielt und unter anderem zu dem Runden Tisch eingeladen wurde, wo man über die Leitlinien diskutieren sollte, obwohl man diese Leitlinien noch nicht bekommen hatte. Deswegen wird es Zeit, dass wir sie in Gänze im Innenausschuss behandeln und dort auch erfahren, was denn die Anhörung gebracht hat und inwiefern der Entwurf dieses Erlasses noch geändert werden sollte.

Ich begrüße ausdrücklich, wie es auch in den vielen Stellungnahmen zu diesen Leitlinien stand, zum Beispiel von der Liga der Freien Wohlfahrtspflege, vom Runden Tisch und von der Integrationshilfe Sachsen-Anhalt, dass die Leitlinien erarbeitet wurden und dass dieser Erlass demnächst kommen soll.

Natürlich kann man trefflich über die Verbindlichkeit der Leitlinien streiten. Der Minister hat uns aber schon zugesagt, es sollen nicht nur schöne Worte sein, sondern die Leitlinien sollen auch realisiert werden. Wir werden sehen.

Ich denke, es besteht über die Fraktionen hinaus Konsens dazu, dass es gut und richtig ist, Familien generell dezentral unterzubringen, dass Gemeinschaftsunterkünfte nicht weit ab vom Schuss liegen sollten, sondern innerhalb von Ortschaften, um den Bewohnerinnen und Bewohnern eine akti

ve Teilnahme am gesellschaftlichen und sozialen Leben und einen Bezug zu ihrem sozialen Umfeld zu ermöglichen.

Kritisch kann man sehen, dass auch noch im Leitbild eine Größe von bis zu 200 Personen für Gemeinschaftsunterkünfte vorgegeben wird. Die Zahl ist viel zu groß; dies sagte ich schon in meinem anderen Redebeitrag vorhin. Ich plädiere für maximal 50. Auch ist eine vierjährige Unterbringungszeit viel zu lang.

Nun dazu, warum die Koalitionsfraktionen sich nicht zu den Punkten 1 und 2 des Antrags der LINKEN einigen konnten. Bei der Fachtagung „Perspektiven der Unterbringung von Flüchtlingen“ am 22. Oktober 2012 gab es unter anderem einen Workshop, der sich mit dem Thema Heimunterbringung und Wohnungsunterbringung beschäftigt hat.

Die Resultate dieses Workshops waren überraschend, vor allem auch für mich; denn darin ist deutlich gemacht worden, dass viele Dienste der Meinung sind, dass eine Gemeinschaftsunterkunft als Erstorientierung für eine kurze Zeit - man hat sich auf maximal sechs Monate verständigt - benötigt wird, um zu prüfen, welche Wohnform für wen am besten geeignet ist und wem welche Angebote in welcher Art und Weise unterbreitet werden sollen. Die SPD-Fraktion und ich sind lernfähig; deswegen würden wir sagen: Wenn es von den Beteiligten dort so festgestellt wurde, sollte man dagegen nicht unbedingt vorgehen.

Angesichts der steigenden Zahl scheint es aktuell nicht ratsam zu sein, Gemeinschaftsunterkünfte sofort zu schließen. Ich denke, dass uns in Sachsen-Anhalt im nächsten Schritt geholfen wäre, wenn wir verschiedene Unterbringungsformen gleichwertig nebeneinander stellen und sagen: In jeder Kommune muss die im Hinblick auf die örtlichen Gegebenheiten und auf die Interessen der Flüchtlinge angemessene Wohnform gefunden werden. Damit könnte man auch den Kommunen entgegenkommen, die gern selbst entscheiden wollen.

Aber - das habe ich vorhin schon gesagt - es müssen verbindliche Standards im Bereich der Ausstattung, der Größe, der Hygiene, aber auch des Fachpersonals vorhanden sein; diese müssen für alle verbindlich sein.

(Zustimmung)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte um Zustimmung zu dem Alternativantrag der Koalitionsfraktionen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Wanzek, habe ich Sie richtig verstanden, dass Punkt 1 des Alternativantrages gestrichen wird?

Dann wird Punkt 2 zu Punkt 1 und Punkt 3 zu Punkt 2. Das haben wir nun so vernommen. - Als nächster Redner wird Herr Herbst für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprechen.

Ich teile an dieser Stelle schon einmal mit, dass sich die parlamentarischen Geschäftsführer gegenwärtig in einer Abstimmung darüber befinden, welche Punkte in der heutigen Sitzung noch behandelt werden. - Herr Herbst, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist zu diesem Thema heute schon sehr viel Wichtiges und Richtiges gesagt worden. Wir haben verschiedene Fassetten beleuchtet. Ich möchte mich auf einen mir wichtigen Punkt konzentrieren. Das ist auch der Kernpunkt des Antrages der Linksfraktion, nämlich das Ziel der dezentralen Unterbringung für alle.

Herr Ministerpräsident, Sie sprechen immer wieder davon - das ist richtig -, dass Sachsen-Anhalt ein Einwanderungsland ist. Der Innenminister - den ich gerade nicht mehr sehe, aber vermutlich ist er noch hier - spricht immer wieder davon, dass wir in Sachsen-Anhalt eine neue Willkommenskultur brauchen. Diese beiden Zielvorstellungen unterstützen wir ausdrücklich. Aber wir bitten Sie auch: Ziehen Sie konsequent die richtigen Schlüsse aus diesen Zielformulierungen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

In den Verhältnissen, die wir heute beschrieben haben, und unter den Zuständen, die auch in sachsen-anhaltischen Gemeinschaftsunterkünften herrschen, wo Menschen mehr oder weniger verwahrt werden, in die Perspektivlosigkeit geraten, wo sie ihr Leben nicht selbstbestimmt und selbstorientiert in die Hand nehmen können, wo sie teilweise nicht die deutsche Sprache erlernen können, wo sie keine beruflichen Qualifikationen erwerben können, wo sie sich nicht weiterbilden können, werden sie sozusagen nur noch verwahrt und auf die Perspektivlosigkeit vorbereitet.

Diese Zustände über Jahre hinweg zu behalten ist ein unverantwortliches Verhalten. Meine Damen und Herren! Deswegen vertrete ich die Auffassung, dass wir uns mit dieser Form der Gemeinschaftsunterbringung die Desintegration organisieren. Gemeinschaftsunterbringung über mehrere Jahre bedeutet organisierte verfestigte Desintegration,

(Beifall bei den GRÜNEN)