Für Mitglieder rechtsextremistischer Parteien und Organisationen spielte der Erlass so gut wie keine Rolle. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, wie in der alten BRD mit Nazigrößen umgegangen wurde. Denn viele von ihnen bekleideten jahrelang bis zu ihrer Pensionierung hohe Posten im öffentlichen Dienst. An dieser Stelle hätte der Radikalenerlass gestört.
Wenn man das Interview des Innenministers in der „Mitteldeutschen Zeitung“ vom 25. Juni 2011 liest, dann gehen die Überlegungen auch in diese Richtung. So erklärte er im Interview Folgendes:
„Was ist denn, wenn sich Salafisten - radikale Islamisten - oder linksautonome Zellen, die inzwischen Terror ohne Ende machen, zu einer Partei zusammenschließen?“
Nun stellt sich für uns die Frage, welchen Verfassungsschutzbericht der Herr Innenminister für diese Behauptung zugrunde gelegt hat. Sowohl der bundesdeutsche Verfassungsschutzbericht als auch der des Landes Sachsen-Anhalt sprechen diesbezüglich eine ganz andere Sprache. Es steht eindeutig fest: Die Gefahr für die Demokratie in unserem Land geht vom Rechtsextremismus aus.
„Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“
Ungeachtet dieses Verfassungsgrundsatzes wurden durch den Radikalenerlass 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue durchleuchtet. Es wurden 11 000 Berufsverbotsverfahren durchgeführt und ca. 1 500 Bewerberinnen und Bewerber abgelehnt oder aus dem Staatsdienst entfernt.
Regelanfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Bayern schaffte diese Regelanfrage erst im Jahr 1991 ab. An Stelle dessen wurde aber ein Fragebogen eingeführt, der die Gesinnungskontrolle sogar noch verschärfte. Dies geschah mit der Begründung, dass man kaum etwas über die Bewerberinnen und Bewerber aus dem Osten wüsste.
Der Unterschied zur Regelanfrage bestand nun darin, dass der Bewerber oder die Bewerberin selbst Auskunft geben musste, ob er oder sie bei radikalen Gruppen tätig waren. Auf dieser schwarzen Liste standen und stehen aber nicht nur die Mitgliedschaft in der SED, sondern auch die in den Blockparteien, der FDJ oder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Welche Blüten das trieb und treibt, zeigt auch, dass auch die Mitgliedschaft im Kulturbund und dem Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Zweifel an der Verfassungstreue begründeten; wahrscheinlich wegen des Anbaus von rotem Gemüse.
Meine Damen und Herren! Zur Rechtfertigung für den Radikalenerlass wurde das Prinzip der wehrhaften Demokratie herangezogen, und der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Kühn von der SPD, erklärte dazu:
Wir stimmen ihm uneingeschränkt zu: Ja, das geht nicht, wohl wissend, dass beide aufgrund der von ihnen begangenen schweren Straftaten niemals nach dem Beamtenrecht hätten Beamte werden können bzw. bleiben können.
„Der Radikalenerlass führte zum Berufsverbot für Tausende von Lehrern, Lehramtsanwärtern, Sozialarbeitern, Briefträgern, Lokführern und Juristen. Bis weit in die 80erJahre vergiftete die staatlich betriebene Jagd auf vermeintlich „Radikale“ das politische Klima. Der Radikalenerlass führte zur Einschüchterung nicht nur der aktiven Linken. Die existenzielle Bedrohung durch die Verweigerung des erlernten oder bereits ausgeübten Berufes diente der Unterdrückung und Einschüchterung von außerparlamentarischen Bewegungen insgesamt. Statt Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert.
Eine politische Auseinandersetzung über die schwerwiegende Beschädigung der demokratischen Kultur durch die Berufsverbotspolitik steht bis heute aus. Sie wäre heute dringlicher denn je. Die derzeit geschnürten „Sicherheitspakete“ beinhalten die Gefahr, dass erneut unter einem Vorwand - dieses Mal der Bekämpfung des Terrorismus - wesentliche demokratische Rechte einge
schränkt werden. Erneut können kritische Personen und Bewegungen ausgegrenzt und an den Rand der Legalität gedrängt werden.
Der Radikalenerlass und die ihn stützende Rechtsprechung bleiben juristisches, politisches und menschliches Unrecht. Wir, Betroffene des Radikalenerlasses der 70erJahre und 80er-Jahre, fordern von den Verantwortlichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und Ländern unsere vollständige Rehabilitierung. Wir fordern die Herausgabe und Vernichtung der Verfassungsschutzakten, wir verlangen die Aufhebung der diskriminierenden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen.“
Was die Unterzeichner zum Zeitpunkt des Aufrufes sicher niemals gedacht hätten, ist die Tatsache, dass ein erneuter Radikalenerlass im Gespräch ist.
Meine Damen und Herren! Nun zu einigen rechtlichen Aspekten. Wenn man den Begriff des Radikalenerlasses in den Mund nimmt, dann muss man, gerade als Volljurist, die Verfassungsfeindlichkeit der damaligen Regelung im Auge haben. Umso mehr verwundert dann das Vorpreschen des Innenministers.
Mit dem Radikalenerlass wurden mittels eines Verwaltungsabkommens zwischen den Ministerpräsidenten der Länder verfassungsmäßige Grundrechte außer Kraft gesetzt. Weder wurde das Grundgesetz geändert - denn dazu hätte es der Zweidrittelmehrheit des Bundestages bedurft - noch wurde überhaupt eine gesetzliche Regelung geschaffen. Das Abkommen hatte streng genommen noch nicht einmal den Charakter einer Verordnung. So wurde die Verfassungsfeindlichkeit von Parteien, die nicht verboten waren, von einer Behörde festgelegt.
Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes schreibt aber vor, dass über die Frage der Verfassungswidrigkeit nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden darf. Artikel 33 des Grundgesetzes habe ich bereits zitiert. Verletzt wurde auch Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Hierbei handelt es sich um eines der wichtigsten Grundrechte. Die damals amtierenden Ministerpräsidenten setzen sich einfach darüber hinweg. So wie wir heute vernehmen müssen, soll es auch in Zukunft so geschehen.
Folglich konnten Menschen als verfassungsfeindlich eingestuft werden, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierten oder sich gegen die Atomkraft positionierten. Ich will an dieser Stelle gar
nicht weiterdenken, wer heute dann alles verfassungsfeindlich wäre. Ich frage Sie: Warum darf ein Beamter nicht gegen Kriegseinsätze eintreten?
Gerard Braunthal, einer der renommiertesten amerikanischen Kenner der deutschen Geschichte nach 1945, kam in seinem Buch mit dem Titel „Politische Loyalität und öffentlicher Dienst“ zu folgenden Schlussfolgerungen:
„Im Namen des Schutzes der inneren Sicherheit haben die meisten Regierungen in aller Welt, unabhängig von politischen Systemen oder Ideologien, politischen Widerspruch, der den Status quo bedrohte, unterdrückt. Totalitäre und autoritäre Systeme tragen die meiste Schuld, aber auch liberale westliche Demokratien sind nicht frei davon. Zweifellos wird die Unterdrückung in einer Diktatur härter sein, wo die Opponenten des Regimes wahrscheinlich eher verhaftet, gefoltert und getötet werden, als in einer Demokratie, wo man Opponenten nur einschüchtert. Es gibt aber fatale Analogien zwischen den verschieden politischen Systemen, was die Übergriffe der Geheimdienste, die staatliche Überwachung und Gewaltanwendung angeht.“
Meine Damen und Herren! Meine Fraktion wird alles unterstützen, was an ehrlichen Bemühungen unternommen wird, um rechtsextremes Gedankengut zu verhindern, um ein NPD-Verbotsverfahren zu ermöglichen und um ein Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt zu erarbeiten. Das halten wir für den richtigen Ansatz. Eine Neuauflage des Radikalenerlasses lehnen wir jedoch konsequent ab.
Meine Damen und Herren! Eine Gesellschaft, die geprägt ist von einem tiefen Misstrauen gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern, verwirkt ihre Existenzberechtigung. Das hat uns insbesondere die Geschichte der DDR sehr deutlich vor Augen geführt. Sie sollten daraus lernen.
Frau Tiedge, nehmen Sie aus Ihrer Wahrnehmung heraus auch zur Kenntnis, dass es in diesem Land auch linksextremistisches Gedankengut gibt?
Es wird nicht gewünscht, die Frage zu beantworten. Weitere Nachfragen gibt es nicht. - Als Nächster spricht für die SPD-Fraktion der Abgeordnete Dr. Brachmann. - Wir können Seniorinnen und Senioren aus Köthen begrüßen. Herzlich willkommen!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Demokratie ist ein hohes Gut; sie zu schützen ist unser aller Aufgabe. Wer die Demokratie missbrauchen will, um sie zu bekämpfen oder gar abzuschaffen, dem müssen wir mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Das ist die Grundüberzeugung aller hier im Parlament vertretenen Parteien. Im Ziel sind sich wohl alle einig, nur über das Wie gibt es Differenzen.
Mit dem in der „Mitteldeutschen Zeitung“ am 25. Juni 2011 zu lesenden Satz „Ein Radikalenerlass wäre denkbar.“ hat Minister Stahlknecht ein Reizwort ausgesprochen, das seine Wirkung nicht verfehlte. Das war auch heute spürbar.
Parteiübergreifend erntete er Kritik. Postwendend erschien noch am selben Tag eine Pressemitteilung des Innenministers, in der er mitteilte, nur einen Denkanstoß geben zu wollen und dass es natürlich keine Generalüberprüfung von Bewerbern geben dürfe. Zugleich lud er darin zur gemeinsamen Meinungsbildung ein. Das hat er heute ausdrücklich wiederholt.
Er nutze aber auch die Gelegenheit, sein Anliegen noch etwas ausführlicher zu beschreiben. Ich möchte aus der Pressemitteilung zitieren:
„Wer gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt, darf nicht in Parlamenten oder im Rathaus sitzen. Wer beispielsweise verfassungswidriges, rechtsextremistisches Gedankengut an unsere Kinder verbreitet oder wer zur Schändung linker Frauen aufruft, wie von ‚Junker Jörg’ geschehen, hat meines Erachtens das Recht verwirkt, die Geschicke unserer Gemeinden und unseres Landes mitzubestimmen.“
Wie können wir das erreichen? - Natürlich - das ist auch das berechtigte Anliegen der Bündnisgrünen - nicht nur durch immer erneute Verbotsdebatten.
Natürlich bleibt es eine fortwährende Herausforderung, zivilgesellschaftliche Strukturen zu festigen, die eine breit angelegte Auseinandersetzung mit extremistischen und menschenfeindlichen Einstellungen fördern. In den letzen Jahren ist in Sachsen-Anhalt diesbezüglich viel Positives auf den Weg gebracht worden, aber offenbar nicht genug.
Die NPD hat den Einzug in den Landtag nur knapp verfehlt. In ländlichen Räumen gelangte sie zum Teil deutlich über die Fünfprozenthürde. Es waren vor allem junge Leute, die sie gewählt haben, und keineswegs nur aus bildungsfernen Schichten.