Protokoll der Sitzung vom 19.09.2014

Wenn drei Jahre, nachdem ein Mensch im polizeilichen Gewahrsam zu Tode gekommen ist, alle Dienstgruppenleiter einer Wache aussagen, dass sie eine wesentliche Regel der Gewahrsamnahme nicht kennen, dann ist das meines Erachtens eine Aussage über das grundsätzliche Verhältnis zwischen Regel und praktischer Anwendung. Dann kann man eben nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass der Alltag der Regel entspricht, wenn diese geändert wird.

Mit dem Urteil des BGH ist jetzt ein Stück weit ein Schlussstrich gezogen worden, auch wenn die Staatsanwaltschaft Dessau nach wie vor sehr berechtigt, wie ich finde, versucht, die Todesursache zu ermitteln. In der Gesamtschau erwächst daraus für uns als Politik die Aufgabe zu sagen: Wir haben diese Erkenntnisse aus den Prozessen; wir haben unterschiedliche Aussagen, die juristisch bewertet worden sind; jetzt ist es an uns als Politik zu schauen, was wir politisch daraus machen.

Das führt meine Fraktion dazu zu sagen: Ja, wir brauchen tatsächlich eine umfassende Überprüfung. Wir müssen herausfinden, ob die Regel eingehalten wird oder nicht.

Es gibt eine weitere Frage des Kollegen Hövelmann.

Nur ganz kurz, damit ich es richtig verstehe. Das heißt, Ihr Begehren, die polizeiliche Praxis zu überprüfen, basiert auf Feststellungen aus dem Zeitraum bis zum Jahr 2005, nicht aber auf Feststellungen aus dem Zeitraum von 2005 bis 2014?

(Minister Herr Stahlknecht: Genau!)

Die Frage ist damit beantwortet worden. Jetzt würde der Kollege Bommersbach Sie gern etwas fragen. - Er fragt.

(Herr Lange, DIE LINKE: Jetzt bin ich aber gespannt!)

Frau Quade, Sie geben mir doch sicherlich Recht darin, dass wir mit der Änderung der Gewahrsamsordnung die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass diese Dinge eigentlich nicht mehr passieren können. Der Umstand, dass sie Gott sei Dank bis jetzt nicht mehr passiert sind, ist doch ein Beleg dafür, dass die Gewahrsamsordnung in einer ordnungsgemäßen und richtigen Art geändert wurde. Die Politik hat also schon gehandelt.

Herr Bommersbach, ich habe das ausdrücklich erwähnt, um nicht den Eindruck zu erwecken, es wäre nichts passiert. Natürlich haben Sie Recht. Seitdem drei Menschen im polizeilichen Gewahrsam in Sachsen-Anhalt zu Tode gekommen sind, ist kein weiterer Mensch in Polizeigewahrsam gestorben. Ich weigere mich jedoch, das zu beklatschen. Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit.

Aber die Frage, ob mit der Änderung der Gewahrsamsordnung tatsächlich sämtliche Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, dass die Regelungen des SOG und der Gewahrsamsordnung in der Praxis eingehalten werden, vermag ich angesichts dessen, was wir - damit hat Herr Hövelmann Recht - bis 2005 erlebt haben, nicht zu beantworten.

Genau das wollen wir mit unserem Antrag überprüfen. Genau das wollen wir herausfinden. Wir glauben, dass es notwendig ist, diese Arbeit auf sich zu nehmen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Quade. - Bevor der Minister das Wort ergreift, begrüßen wir ganz herzlich Gäste. Wir begrüßen Damen und Herren der Vereinigung ehemaliger Abgeordneter des Thüringer Landtags.

(Beifall im ganzen Hause)

Wer glaubt, dass auch ehemalige Mitglieder des Landtags von Sachsen-Anhalt auf der Besuchertribüne sitzen, der liegt richtig. Diese begrüßen wir ebenfalls.

(Beifall im ganzen Hause)

Außerdem begrüßen wir Damen und Herren des CDU-Ortsvereins Kropstädt. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Minister Stahlknecht, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 7. Januar 2005 starb in einer Gewahrsamzelle des Polizeireviers Dessau Oury Jalloh. Das ist sicherlich eine Tragödie, die mich und viele andere, auch nach vielen Jahren, tief betroffen macht und die sich niemals hätte ereignen dürfen.

Die juristische Aufarbeitung dieses Falles dauerte bis zum 4. September 2014. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichtes Magdeburg bestätigt, sodass ein rechtskräftiges Urteil vorliegt und der Fall im rechtlichen Sinne abgeschlossen ist.

Frau Quade, sollte die Staatsanwaltschaft in Dessau andere Erkenntnisse haben, müsste über strenge prozessuale Wege eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt werden. Das bewegt sich im Rahmen des Spekulativen. Es gibt keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass solche Gründe vorliegen.

Ich möchte nicht auf die Einzelheiten der gerichtlichen Entscheidung eingehen. Das ist auch nicht das Thema. Ich möchte aber eines tun: Ich danke ausdrücklich meinem Vorgänger Holger Hövelmann, der in den Jahren seiner Amtszeit auch diesen Fall zum Anlass genommen hat, die Polizei zu sensibilisieren und die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen, damit sich so etwas nicht wiederholt.

Lieber Kollege Holger Hövelmann, die Polizei heute ist nicht mehr die Polizei aus dem Jahr 2005. Das ist auch Ihr Verdienst. Herzlichen Dank dafür!

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und von der Regierungsbank)

Frau Quade, in diesem Kontext hat das Innenministerium, das ich heute vertreten darf, unmittelbar reagierend umfangreiche Maßnahmen ange

wiesen, um Risiken für in den Polizeigewahrsam genommene Personen weitgehend auszuschließen.

Meine Vorgänger im Amt, damals auch Herr Jeziorsky, haben in den Jahren 2005 bis 2006 und auch danach in den zuständigen Ausschüssen, aber auch im Plenum umfangreich darüber berichtet.

Wir hatten auch einen Untersuchungsausschuss, in dem sich Frau Tiedge von Ihrer Fraktion sehr engagiert hat. Auch ihr gebührt an dieser Stelle ein Dank, auch wenn das nicht unmittelbar mit diesem Fall zu tun hatte. Wir haben über die Sensibilität und das Selbstverständnis einer Polizei in einem modernen Rechtsstaat ausführlich, teilweise auch strittig diskutiert. Ihre Fraktion war durch Frau Tiedge, die das sehr professionell gemacht hat, vertreten. Auch ihr gebührt an dieser Stelle Dank.

(Zustimmung von Herrn Schröder, CDU, und von Frau Grimm-Benne, SPD)

Eine im Februar 2005 eingesetzte Arbeitsgruppe hatte den Auftrag, nach Überprüfung aller Gewahrsamsräumlichkeiten im Land und der dort vorliegenden Bücher über Freiheitsentziehung einen Bericht insbesondere zu folgenden Themen vorzulegen: Rechtsvorschriften im Polizeigewahrsam, baulich-technische und administrativ-organisatorische Regelungen für den Polizeigewahrsam in den einzelnen Dienststellen und Optimierungsbedarf.

Bereits zu diesem Zeitpunkt erließ das Innenministerium per mündlicher Weisung mit schriftlichem Erlass Regelungen zu folgenden Punkten - ich lese sie vor -: Es war und ist eine lückenlose Dokumentation der Gewahrsamnahme zu führen. Das beinhaltet insbesondere die Verbringung in eine Gewahrsamszelle, Kontrollen und sonstige veranlasste Maßnahmen bis zur Entlassung. Es soll zu jeder Zeit nachprüfbar dokumentiert sein, wer was veranlasst hat.

Weiter heißt es: Dienststellenleiter, in deren Bereich Gewahrsamnahmen durchgeführt werden, haben seither die Pflicht, täglich die Rechtmäßigkeit der Gewahrsamnahme und des Vollzugs einschließlich der Dauer und der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung - über diese sprachen Sie - zu überprüfen und zu dokumentieren.

Weiter heißt es: Die Abteilungsleiter Polizei haben einmal jährlich alle Gewahrsamsräumlichkeiten zu überprüfen und bei dieser Gelegenheit zu kontrollieren, ob die Ingewahrsamnahmen in der Vergangenheit rechtmäßig waren, ob die einschlägigen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften beachtet wurden und ob die Vor-Ort-Kontrollen und Dokumentationen den Vorschriften entsprachen.

Es geht weiter: Mindestens vierteljährlich haben die Abteilungsleiter Polizei mit den für den Polizei

gewahrsam unmittelbaren Verantwortlichen den Vollzug und die Frage zu erörtern, ob und gegebenenfalls welche Verbesserungsmaßnahmen vorzunehmen sind.

Ebenso wurde neu geregelt, welcher Personenkreis grundsätzlich nicht im Polizeigewahrsam zu halten ist und ebenso das Prozedere - auch das sprachen Sie an - bei der Hinzuziehung eines Arztes.

Die Arbeitsgruppe legte ihren Bericht bereits im September des Jahres 2005, also vor nahezu zehn Jahren vor. Mit dem am 28. Februar 2006 veröffentlichten Erlass wurde die seit 1997 geltende Polizeigewahrsamsordnung unter Berücksichtigung der Vorschläge der Arbeitsgruppe „Gewahrsam“ novelliert.

Die Neufassung der Polizeigewahrsamsordnung fasst die anlässlich der Todesfälle im Polizeigewahrsam von mir kurz umrissenen, damals ad hoc getroffenen und andere zusätzliche Regelungen in einer Verwaltungsvorschrift zusammen und regelt umfassend unter Einführung eines Vordrucks zur Feststellung der Gewahrsamsfähigkeit die von den Polizeivollzugsbeamten bei der Ingewahrsamnahme von gesundheitlich beeinträchtigten Personen zu treffenden Maßnahmen.

Noch vor der Veröffentlichung der novellierten Polizeigewahrsamsordnung hatte das Innenministerium mit einem nicht veröffentlichten Erlass vom 28. Februar 2006 die Landesdienststellen der Polizei auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Dezember 2005 zur Herbeiführung der richterlichen Entscheidung und auf die Regelungen der Verordnung über den amtsgerichtlichen Bereitschaftsdienst hingewiesen.

Seit dem Jahr 2011 wird zudem landesweit ein automatisiertes Dokumentationsverfahren, das sogenannte elektronische Freiheitsentziehungsbuch, genutzt. Nach Einschätzung der Länderkommission der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter erleichtert dieses die vollständige und exakte Dokumentation des Gewahrsams.

Die Länderkommission, die Ende 2010 ihre Arbeit aufgenommen hat, besucht in Deutschland regelmäßig Orte der Freiheitsentziehung, so auch hier. Sie soll auf vorgefundene Missstände aufmerksam machen und den zuständigen Behörden Verbesserungsvorschläge vorlegen.

Sie sehen, Frau Quade, dass unmittelbar nach den Todesfällen umfangreiche Weisungen ergangen sind, um Risiken weitgehend auszuschließen. Es sind Erlasse und Verordnungen ergangen. Eine umfängliche Novellierung der Gewahrsamsordnung ist erfolgt. Gehen Sie davon aus, dass die Polizei aus den tragischen Ereignissen ihre Lehren gezogen hat und sensibilisiert ist und bleibt.

Mängel in den gesetzlichen Grundlagen des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt haben wir nicht festgestellt. Ich werde selbstverständlich sowohl selbst als auch durch meine Mitarbeiter das Urteil des Bundesgerichtshofes auswerten. Aber wir sehen derzeit überhaupt keinen akuten Handlungsbedarf, das, was meine Vorgänger und ich getan haben, um Risiken auszuschließen, infrage zu stellen.

Gestatten Sie mir abschließend eine ganz persönliche Bemerkung, Frau Quade: Wenn es um Freiheitsentziehung aufgrund gesetzlicher Grundlagen geht und wenn es um den Todesfall von Menschen geht, ist das keine politische Frage und auch keine Frage irgendeiner Partei. Vielmehr liegt es im Selbstverständnis aller Demokraten, dass wir Eingriffe nur auf der Grundlage von Gesetzen vornehmen. Das verlangen unsere Verfassung und unser Grundgesetz. Das ist weder politisch zu überhöhen noch zu abzumindern. Das betrifft uns alle. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. - Für die SPD-Fraktion eröffnet jetzt Herr Kollege Erben die vereinbarte Fünfminutendebatte. Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Asylbewerber Oury Jalloh starb am 7. Januar 2005 im Gewahrsam im Dessauer Polizeirevier. Sein tragischer Tod in staatlicher Obhut beschämt uns alle nach fast einem Jahrzehnt noch immer. Sicherlich sind viele genauso wie ich darüber entsetzt, dass es letztlich nicht gelungen ist, den Hergang zweifelsfrei aufzuklären.

Doch mit der BGH-Entscheidung vom 4. September 2014 ist offensichtlich ein Schlussstrich unter die strafrechtliche Abarbeitung des Todes von Oury Jalloh gesetzt worden. Der Rechtsstaat ist an seine Grenzen gestoßen. Aber deshalb muss uns alle, Landesregierung und Landtag, das gemeinsame Ziel einen, dass so etwas nicht wieder passiert.