Protokoll der Sitzung vom 29.01.2015

Es gibt bereits einen Rollkoffer, den man umbauen kann, an dem ein Verschluss für eine Sitzvorrichtung ist, auf die man sich setzen kann. Man kann sich darauf zum Beispiel auf einem Bahnsteig hinsetzen. Man kann den Koffer auch so gestalten, dass er, wenn die Griffe eingefahren sind, nicht wie ein Rollator aussieht. Man kann diese Koffer aber auch wie Rollatoren nutzen. Ich bin überzeugt, dass wir in fünf, sechs Jahren genauso herumlaufen werden, weil das eine Sache ist, die für alle nutzbar ist.

Andere Beispiele, die Sie alle kennen: Laufbänder oder Rolltreppen wurden hauptsächlich für Menschen mit Behinderungen gemacht. Sie nutzen zu 95 % bis 98 % Menschen, die gar nicht behindert sind. Eigentlich müssten wir Treppen steigen, statt Fahrstühle oder Ähnliches nutzen.

Es gibt auch - ich war beim Fraunhofer-Institut - Überlegungen dazu, was ältere Menschen brauchen. Die Europäische Union hat dazu eine Ausschreibung gemacht. Daran hat ein großer Automobilhersteller teilgenommen, und zwar bei der Endmontage, weil die älteren Arbeitnehmer über Rückprobleme klagen, wenn sie da in Körperhaltungen schrauben müssen, die Bleche anbringen müssen. Da werden jetzt assistive Systeme entwickelt, die denen helfen sollen, besser damit umzugehen, ein geschützter Rahmen, wo eingeblendet wird, wenn man zu nahe an eine Bohrmaschine oder an ein Schweißgerät kommt - die Geräte schalten sich dann ab -, und Ähnliches.

Als man damit fertig war, hat man festgestellt, für die Älteren ist es eine tolle Sache, die können länger arbeiten. Ich habe selbst einen Test mitmachen müssen, wie man ab 60 Jahren eingeschränkt lebt. Aber man hat gleichzeitig festgestellt, für die Jüngeren ist es etwas, weil der Rücken erst gar nicht kaputt geht. Es nützt allen.

Man kriegt auf einmal mit, wenn man an einer Sache anfängt und etwas für Menschen tut, die beeinträchtigt sind, nutzen es manchmal alle und es ist alle eine Erleichterung.

Ich gehe sogar so weit - da werde ich vielleicht den Finanzminister ein bisschen erschrecken; er kennt das von mir aber schon -, als Zielvorstellung zu formulieren - in dem Zusammenhang brauche ich nicht Amerika zu erwähnen, wo man das längst macht -, wenn wir sagen, alle Menschen wollen sowieso lange in ihrer Wohnung bleiben, werden noch älter und werden zum Teil gehbehindert und beeinträchtigt, auf die Idee zu kommen, eine ISO oder eine DIN zu schaffen, die bestimmt, dass

generell alle Türen um 12 cm breiter gestaltet werden.

(Zustimmung bei der SPD)

Man kann sich da besser hindurchbewegen. Man kommt mit dem Kinderwagen gut durch. Man kommt mit dem Rollator gut durch. Man kann älter werden. Dann wird es am Ende preiswerter, als wenn man immer nachbaut, erweitert und noch einmal Neues hineinbaut.

(Zuruf: Das ist ein Zukunftsziel!)

- Das ist ein Zukunftsziel; das weiß ich. - Aber sich dies mal auf die Fahnen zu schreiben, finde ich gar nicht schlecht. Übrigens hat das Minister Söder in Bayern jetzt als Zielvorstellung für alle öffentlichen Einrichtungen in Bayern herausgegeben; das war vor ungefähr zwei Tagen. Da habe ich jedenfalls gestaunt und habe gedacht, gucke an, was die in Bayern zum Beispiel machen.

Ich könnte jetzt noch viele Dinge nennen. Wenn Sie das selbst einmal durchgehen - deshalb war ich so begeistert davon -, stellen Sie fest: Es war eigentlich immer der Ansatz, für Menschen mit Behinderungen etwas zu tun. Am Ende hat man gemerkt: Es tut allen gut.

Ich habe eine Broschüre mitgebracht - sie ist zufällig heute fertig geworden, bzw. wir haben es so gemacht, damit sie heute fertig wird -; sie ist überschrieben mit „Sachsen-Anhalt auf dem Weg zur Inklusion“. Das ist die Normalausgabe und das ist die Ausgabe in leichter Sprache; sie liegt auch draußen aus. Ich kann Ihnen sagen: Alle, auch Abgeordnete, lesen das Exemplar in leichter Sprache, weil dies einfach verständlicher ist.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

Als ich in meiner vorherigen Tätigkeit sonntags in Sankt Sebastian gepredigt habe, habe ich oft den Kinder- und Familiengottesdienst gehalten. Ich habe mich immer darüber gewundert, warum er so voll war; er war voller als alle anderen. Der Grund war, dass die Erwachsenen es gut fanden, wie die Kinder reagierten, weil man ja die Kinder angesprochen hat. Das war eine Sprache, die auch sie verstanden haben. Das waren nicht die hochtrabenden theologischen Ergüsse, die man manchmal hat.

Klar, wir brauchen Zeit und Vertrauen, um Menschen mitzunehmen. Wir brauchen Rücksicht in Bezug auf die Demografie und die berufliche Mobilität.

Dass Menschen sich heimisch fühlen, ist wichtig. Wir als Politiker brauchen den Blick auf alle Menschen. Dass Menschen bei Ängsten und Problemen meist zuerst sich selbst sehen und für sich selbst kämpfen, ist verständlich.

Mein letzter Punkt - Sie müssen verstehen, dass ich das nicht außer Acht lassen kann -: Inklusion ist auch eine Frage der Menschen, die hier leben und die aus unterschiedlichen Gründen zu uns kommen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

Auch zu diesem Punkt möchte ich noch etwas sagen. Wir sehen in den Protestaktionen in den letzten Wochen, dass sicherlich etwas im Argen liegt. Unsere Unterstützung brauchen diejenigen, die keine Lobby haben. Unser entschiedener Protest muss denjenigen gelten, die vermeintliche oder tatsächliche eigene Benachteiligungen und Ängste denen anlasten, deren Leben auf dem Spiel steht.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Wir dürfen dabei nicht den Eindruck vermitteln, dass wir uns vor realen Problemen wegducken. Wir müssen da sein, wo die Fragen und Ängste entstehen. Wir müssen umfassend informieren und Menschen einbeziehen; das gilt für alle.

Wir müssen auch dann präsent sein und Haltung zeigen, wenn es konflikthaft wird, zum Beispiel wenn ein Flüchtlingsheim neu errichtet wird oder wenn es um Konflikte in Wohngebieten, in Schulen oder woanders geht.

Teilhabe für alle ist ein Maßstab, mit dem unsere Angebote für alle Menschen und Bevölkerungsgruppen zu messen sein werden. Der Anspruch, allen Menschen Teilhabechancen zu eröffnen und ihnen möglichst gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Diensten und Leistungen zu ermöglichen, gilt daher auch für die Menschen, die zu uns kommen und Schutz vor Verfolgung, Krieg, Ausgrenzung und Diskriminierung suchen.

Unabhängig davon, ob er oder sie schließlich eine Aufenthaltsperspektive in Deutschland erhält, hat jeder Mensch das Recht, als Mensch bei uns offen und in Würde aufgenommen zu werden und dass die vorgetragenen Schutzgründe ernsthaft und unvoreingenommen geprüft werden.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

Je früher wir Schutz suchenden Menschen die Möglichkeit zum Erwerb der deutschen Sprache, zur Qualifizierung, zur Anerkennung von Abschlüssen und damit den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen, umso schneller können sie ihr Leben selbständig gestalten und unabhängig von sozialen Leistungen werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Sprachkurse sind dabei in vielfacher Hinsicht Zukunftsinvestitionen. Dies sind Investitionen in die Potenziale der zu uns kommenden Menschen, in

die gelingende interkulturelle Begegnung zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Dies ist eine Investition in ein Bild von einem weltoffenen Deutschland, das die Aufgenommenen auch wieder in die Welt zurücktragen, woher sie kommen, wenn sie wieder zurückgehen können.

Frühzeitige Integration in Arbeit und Gesellschaft entlastet aber auch Bund, Länder und Kommunen und trägt schließlich dazu bei, die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft zu erhöhen. Eine gelungene Integration von Flüchtlingen und Zugewanderten ist daher die beste Prävention gegen Ausländerfeindlichkeit.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Jenen, die sich um den Zustand der christlichjüdisch geprägten Abendlandkultur sorgen, sei gesagt: Mitmenschlichkeit bedeutet, den Menschen, die hier Heimat und Schutz suchen, mit offenen Herzen zu begegnen. Ressentiments und Parolen, die die Religionsfreiheit, das Asylrecht und den Minderheitenschutz infrage stellen, erteilen wir eine klare Absage.

Demokratinnen und Demokraten stehen für eine offene Gesellschaft, deren Mitglieder gleich an Würde und Rechten sind und die allen Menschen Teilhabechancen ermöglicht.

Wenn Menschen - das ist meine Grundüberzeugung, weil sie eine positive ist - in ihrer Not hier bei uns Heimat und Schutz erfahren, wenn sie unsere Sprache lernen und hier arbeiten können, dann werden sie in ihren jeweiligen Ländern berichten, dass Deutschland ein tolles Land ist - mit freundlichen Menschen, mit einer wunderschönen Kultur und mit einer reizvollen Landschaft.

Wenn Deutschland so in der Welt wahrgenommen werden könnte, dann hätte es die Wirtschaft leichter zu exportieren. Wir würden uns auf unseren Reisen wohlfühlen, weil wir Anerkennung erfahren. Wir könnten dann zu Recht stolz sein, in einem weltoffenen Land leben zu dürfen.

Nur Mut! Die Teilhabe aller Menschen in einer Gesellschaft ist Aufgabe für uns alle.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

Danke schön, Herr Minister.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 b auf:

Aussprache zur Regierungserklärung

Im Ältestenrat wurde die Redezeitstruktur „F“, also eine Debattendauer von 120 Minuten, vereinbart.

Die Fraktionen sprechen in der Reihenfolge DIE LINKE, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD. Als Erste erwidert auf die Regierungserklärung Frau Abgeordnete Zoschke von der Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr Minister, wir teilen die Auffassung, dass es wichtig und richtig ist, sich intensiv mit dem Thema „Teilhabe für alle“ zu beschäftigen, auch und gerade zum jetzigen Zeitpunkt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ja, es geht um Akzeptanz, es geht um Vielfalt, es geht um ein Miteinander und es geht um Möglichkeiten für Teilhabe und Chancen.

Ja, es geht darum, öffentlich einen Diskurs anzustrengen und zu führen über die Frage: Was will die Gesellschaft, was leistet die Gesellschaft und was muss und was kann sie sich leisten? - Deshalb ist vielleicht auch Ihre Form, sich dem Thema zu nähern, eine der möglichen.

Damit beginnen aber dann die Unterschiede in den Feststellungen und Bewertungen. Mit Sicherheit hat sich einiges, so wie in Ihrer Regierungserklärung beschrieben, entwickelt. An einigen Stellen besteht durchaus berechtigt Hoffnung, dass es sich genau so entwickelt. Aber es gibt eben auch eine andere Sicht und auch abweichende Ergebnisse. Der Teufel liegt bekanntlich im Detail. Die Opposition darf und muss diese benennen.

Vorangestellt etwas Grundsätzliches. Herr Minister Bischoff, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung in Ihrer dritten These gesagt - ich zitiere -:

„Teilhabe für alle erfordert nicht zwingend mehr Geld, aber sicher neue Konzepte.“

Nicht zwingend - das mag sein. Aber wir können doch auch ganz ehrlich miteinander sein und sagen: Mehr Geld würde die Dinge doch ganz enorm vereinfachen.