Protokoll der Sitzung vom 23.06.2020

Insofern haben Sie die Zukunft in der Landesregierung selbst in der Hand. Sie müssen aus meiner Sicht gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber dem Parlament dringend Vertrauen zurückgewinnen.

Meine Damen und Herren Abgeordneten! Eine öffentliche Entschuldigung des Ministerpräsidenten oder überhaupt ein Wort zum Fluchtversuch konnten wir alle bis heute nicht hören. Kein Bedauern, keine Zusicherung der Aufklärung, nichts. Spätestens als in der CDU-Fraktion Unmut gegenüber dem Staatssekretär zu hören war, hätte er sich zu Wort melden müssen. Es kam nichts. Ich frage mich: Ist es die Angst vor der eigenen Fraktion?

Herr Ministerpräsident, Sie ließen etwas laufen, was man als Ministerpräsident nicht laufen lassen darf.

(Beifall)

Dabei geht es mir nicht um die mit Interesse verfolgte Personalrochade in Ihren eigenen Reihen, wo man tatsächlich jemanden mit einem Posten belohnen wollte - ich spreche jetzt nicht von Ihnen, Herr Kurze -, der allen Ernstes das Nationale mit dem Sozialen verbinden wollte.

Nein, ich erinnere Sie an Ihr eigenes Zitat, an Ihre eigenen Worte. Daran werden Sie sich messen lassen müssen, heute und auch in der Zukunft. Sie haben die Verpflichtung übernommen, persönlich für einen uneingeschränkten Schutz jüdischen Lebens zu stehen.

Und ich frage Sie: Wann haben Sie im Kabinett gefragt, was der U-Häftling in der JVA „Roter Ochse“ gemacht hat? Wie regelmäßig haben Sie sich berichten lassen? Was war Ihr Beitrag zur Aufklärung der aktuellen Situation? - In der Öffentlichkeit konnte ich dazu nichts hören.

(Beifall)

Es ist dringend erforderlich, dass wir die strukturellen Defizite in unserem Strafvollzug ansprechen. Ich möchte nur ein paar Stichpunkte nennen. Da ist die Anzahl der Suizide, die in erheblichem Maße gestiegen ist. Da ist die bundesweit geringste Arbeitsquote. Da ist die sinkende Zahl der Bildungsangebote. Da sind auch der hohe Altersdurchschnitt bei unseren Bediensteten und der entsprechend hohe Krankenstand.

Die Insider aus dem Rechtsausschuss wissen, das ist keine abschließende Auflistung der Probleme, die wir in den Gefängnissen haben. Das sind auch Probleme, Frau Ministerin - das wird Ihnen, denke ich mal, klar sein -, die in vergangenen Legislaturperioden begründet worden sind, und durch Landesregierungen, bei denen Sie mit am Tisch gesessen haben. Deswegen haben Sie für diesen Zustand, in dem sich unsere Gefängnisse befinden, mit Verantwortung zu tragen.

(Beifall)

Es ist mir wichtig, auch das noch zu sagen: Ich bedanke mich sehr bei den Bediensteten, die unter solchen Umständen trotzdem hoch motiviert versuchen, ihren Job zu machen.

Fakt ist - dessen müssen wir uns einfach alle bewusst sein -: Alle oder der Großteil derer, die sich jetzt in unserem Gefängnis befinden, werden irgendwann wieder in Freiheit entlassen. Dann sollten wir neben dem Auftrag des Justizvollzugsgesetzes, neben der Sicherung immer auch die Resozialisierung im Auge haben. Das ist unser Job.

Wir müssten die Rahmenbedingungen für die besten Resozialisierungsmaßnahmen schaffen, damit tatsächlich am Ende einer Haft ein Leben ohne Straftaten steht. Dafür haben wir die Verantwortung. Ich kann Ihnen versprechen: Als Fraktion werden wir dieser Verantwortung gerecht werden.

(Starker Beifall)

Frau von Angern, ich habe eine Wortmeldung gesehen. Sind Sie bereit, zu antworten? Eine Frage vom Abg. Herrn Poggenburg.

(Zuruf)

- Nein, dann hätten Sie zum Mikrofon gehen müssen. Sie können nur eine Frage stellen. - Okay, eine Frage können Sie stellen. Bitte, Herr Poggenburg.

Sehr geehrte Frau von Angern, unabhängig von einigen Fakten, die Sie jetzt vorgebracht haben, über die man sich ganz ruhig und sachlich austauschen kann, haben Sie wieder eines gemacht: Sie haben in dem Zusammenhang die große Gefahr des Rechtsextremismus für unseren Staat angeprangert. Dass Sie das aber jetzt gerade in einer Situation, in einer Zeit tun, wo militante Anarchisten,

(Zuruf von Sebastian Striegel, GRÜNE)

wo gewaltbereite Linksextremisten die Straßen erschüttern, die Städte erschüttern, Polizei angreifen, dass Sie das in dem Moment tun

(Zurufe: Frage!)

- ich kann meine Frage doch am Ende formulieren; lassen Sie mich doch mal aussprechen! -,

(Zurufe)

dass Sie das vor dem Hintergrund dieser Ereignisse tun, zeigt das nicht - das frage ich Sie jetzt -, dass Sie politisch überhaupt kein Feingefühl, dass Sie politisch überhaupt kein Gespür haben und dass das, was Sie gerade vorgetragen haben, zumindest in diesem Punkt nichts anderes als radikaler Linkspopulismus ist? - Danke.

Frau von Angern, Sie können gern darauf antworten.

(Zurufe)

- Herr Gebhardt, ich kann nicht abschätzen, ob zum Schluss eine Frage kommt. Aber wenn Frau von Angern sagt, sie sei nicht bereit zu antworten, dann ist das so, dann bleibt das so im Raum stehen. Sie hat Nein gesagt, damit ist das dann auch so. - Für die Landesregierung spricht jetzt Frau Ministerin Keding.

Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Abgeordneten des Landtages! Wir beschäftigen uns heute mit den Folgen und Konsequenzen des Fluchtversuches vom 30. Mai 2020.

Ich stehe hier und sage es Ihnen unumwunden: Die Ereignisse machen mich betroffen und stellen einen tiefen Einschnitt in der jüngeren Geschichte des Justizvollzuges des Landes dar.

An diesem Tag und in der Zeit danach ist vieles geschehen, was das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Justizvollzuges erschüttert hat. Hierfür kann ich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, die Besucherinnen und Besucher des Festgottesdienstes an Jom Kippur und die Hinterbliebenen der Opfer des Attentäters von Halle nur um Entschuldigung bitten. Es hätte nicht passieren dürfen.

Stephan B. war seit dem 11. Oktober 2019 durchgehend in der Justizvollzugsanstalt Halle als Untersuchungsgefangener untergebracht. Er ist angeklagt, einen Mordanschlag auf die Besucher der Synagoge in der Humboldtstraße in Halle verübt sowie im weiteren Verlauf zwei Menschen ermordet zu haben.

Nach dem Vollstreckungsplan des Landes Sachsen-Anhalt ist die Justizvollzugsanstalt Halle für den Vollzug der Untersuchungshaft sachlich zuständig gewesen. Der Tatort war in Halle und der Täter hat seinen Wohnsitz in dem Gerichtsbezirk, für den die Justizvollzugsanstalt Halle zuständig ist. Nach den ursprünglichen Überlegungen sollte der Prozess gegen Stephan B. auch in Halle stattfinden.

Der Gefangene hat sich nach den Berichten der JVA Halle unauffällig und angepasst verhalten, sodass eine Verlegung vollzuglich nicht angezeigt war. Erst als sich im Rahmen der Vorbereitung des Prozesses gegen Stephan B. herauskristallisierte, dass die Räumlichkeiten in den Gerichtsgebäuden in Halle nicht ausreichen werden, ist auf das Landgericht Magdeburg ausgewichen worden.

Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung waren bereits Ende April 2020 Überlegungen angestellt worden, den Gefangenen Stephan B. in die Justizvollzugsanstalt Burg zu verlegen, da dies einen schnellen und unkomplizierten Transport zum Landgerichtsgebäude nach Magdeburg ermöglichen sollte. Der Hauptverhandlungstermin stand aber noch nicht fest.

Meine Damen und Herren! Der 30. Mai 2020 war der Sonnabend vor Pfingsten. Eine Justizvollzugsanstalt, so auch die Justizvollzugsanstalt Halle, weist regelmäßig an solchen Tagen eine abgesenkte Personalstärke auf.

Auch an einem Wochenende sind aber einerseits die gesetzlichen Rechte der Gefangenen, insbesondere die Durchführung des Aufenthalts im Freien, die sogenannte Freistunde, andererseits die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in der Anstalt durchgehend sicherzustellen.

Dies betrifft zum einen die Sicherheit nach Innen. Die einzelnen vollzuglichen Maßnahmen müssen so strukturiert werden, dass weder Bedienstete noch Gefangene einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt werden.

Zum anderen ist aber auch die Sicherheit nach außen von besonderer Bedeutung. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben das Recht, darauf vertrauen zu dürfen, dass der Justizvollzug sie vor Straftätern schützt und rechtsstaatliche Strafverfahren umfassend absichert. Alle Vollzugsabläufe in der Anstalt sind daher an die tatsächlich zur Verfügung stehenden Bediensteten und die baulichen Gegebenheiten anzupassen.

Am 30. Mai 2020 sind nach jetziger Erkenntnislage diese beiden Handlungsmaximen nicht durchgehend beachtet worden. Ich sage nur: Malerarbeiten an einem Sonnabend, unbeaufsich

tigte Freistunde und unterbliebene unmittelbare Beaufsichtigung. Die personelle Sicherheit hat an diesem Tag in Halle versagt. Dies liegt in der Verantwortlichkeit der JVA Halle.

Unabhängig von der Frage, welche Sicherheitsverfügung am 30. Mai 2020 gegolten hat, haben alle in Rede stehenden Verfügungen vorgesehen, dass der Gefangene Stephan B. außerhalb seines Haftraumes ununterbrochen zu beaufsichtigen ist. Diese Anordnung ist nicht umgesetzt worden. Das wird personalrechtlich gesondert zu würdigen sein.

Die Geschehnisse und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit haben auch zu einer Verunsicherung der Kolleginnen und Kollegen des Justizvollzuges geführt. An dieser Stelle möchte ich aber ausdrücklich Folgendes betonen: Die rund 1 000 Bediensteten des Justizvollzuges leisten unter oft nicht einfachen Rahmenbedingungen und mit zum Teil sehr fordernden Gefangenen täglich wertvolle Arbeit für die Sicherheit der Bevölkerung und - das will ich an der Stelle auch sagen - in aller Regel machen sie ihre Sache gut.

(Beifall)

Meine Damen und Herren! Gegen 13:06 Uhr wurde Stephan B. an diesem besagten Sonnabend zur Einzelfreistunde in den Einzelhof gebracht. Von da an war nur noch sporadisch eine Beamtin bei ihm auf dem Hof. Als dann auch noch die Bediensteten auf dem großen benachbarten Hof aus seinem Sichtfeld verschwanden, nahm er Anlauf und überwand nach 26 Sekunden den Bereichszaun.

Nach dem Übersteigen des Zauns hat sich Stephan B. von ca. 13:48 Uhr bis zu seiner Ergreifung gegen 13:53 Uhr rund fünf Minuten nahezu unbeobachtet auf dem Gelände der JVA Halle frei bewegen können. Die Aussage der Fraktion DIE LINKE, dass es mehr als 45 Minuten gewesen seien, weise ich ausdrücklich als unzutreffend zurück.

Trotzdem: Er hätte keine einzige Minute unbeaufsichtigt sein dürfen, auch nicht auf dem Freistundenhof. Wir werden organisatorische Fragen in den Vollzugsabläufen der JVA Halle aufzuarbeiten haben.

Eine weitere Frage ist auch, warum der Inspektorendienst nach anstaltsinterner Meldung des Vorfalls zwar weiterführende Sicherungsmaßnahmen gegen den Gefangenen angeordnet, jedoch von einer unverzüglichen Information an die Anstaltsleitung abgesehen hat. Damit ist die unverzügliche Unterrichtung des Ministeriums und im Ergebnis auch des Landtages und der Öffentlichkeit ausgeblieben.

Ich habe mich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, den Leiter der JVA Halle mit seiner langjährigen ministeriellen Erfahrung sowie den umfangreichen Fachkenntnissen in Bezug auf vollzugliche Sicherheitsbelange in die Pflicht zu nehmen. Mit einem unabhängigen Expertengremium sollen die Organisation der Sicherheit der JVA Halle und auch die Zusammenarbeit zwischen den Behörden des Justizministeriums und dem Ministerium auf den Prüfstand gestellt werden.

Ausgangspunkt werden hierbei die Sicherheitsverfügungen sein. Eine solche wird in der Regel für jeden Schwerpunktgefangenen durch die Haftanstalt getroffen. Schon von vornherein war bei diesem speziellen Gefangenen vom Ministerium festgelegt worden, dass Änderungen der Zustimmung der Aufsichtsbehörde bedürfen. Innerhalb des Ministeriums hatte sich der Staatssekretär vorbehalten, jede Anpassung zu billigen.

Die Sicherheitsverfügung ist durch die Anstalt unter Beachtung dieser Rahmenbedingungen anzuordnen gewesen und hat seit dem Tag der Zuführung des Gefangenen im Oktober 2019 bestanden. Sie unterlag im Laufe der Zeit regelmäßigen Überprüfungen und Abänderungen.