Protokoll der Sitzung vom 21.06.2017

- Herr Kurze, etwas zu versteuern ist doch etwas anderes, als wenn es komplett angerechnet wird. Das ist doch nicht im Verhältnis 1 : 1 zu vergleichen.

(Markus Kurze, CDU: Uns geht es dadurch nicht besser! Wir stehen morgens früh auf und gehen arbeiten!)

Wenn ich mir Armut anschaue, muss ich mir im Gegensatz dazu auch den Reichtum anschauen. Wir haben einen so immensen Reichtum aufgebaut. Das ist übrigens etwas, was in den letzten Jahren immer gestiegen ist. Das kann man sehr gut verfolgen. Natürlich muss das, was wir in ärmere Bevölkerungsstrukturen geben wollen, auch irgendwie bezahlt werden.

Aber Sie haben es selbst gesagt. Sie haben zwar auch sehr viele Statistiken angeführt. Ich habe das auch getan, weil dadurch deutlich wird, worüber wir reden. Aber es sind Einzelschicksale. Wenn man sich diese Einzelschicksale anschaut, dann sind wir uns doch hoffentlich darin einig, dass das etwas ist, was wir nicht wollen.

Heute gibt es eine große Fragestunde im Bundestag zum Thema „Nichtschwimmer in Deutschland“. Dabei wird festgestellt, dass der überwiegende Anteil der Nichtschwimmerinnen und Nichtschwimmer - wir wissen, wozu das führen kann - aus dem armen Milieu kommt. Das ist im Prinzip das Praktische. Wenn wir zu diesen Erkenntnissen kommen, dann müssen wir überlegen, was wir dagegen tun können.

Dazu sind heute unterschiedliche Vorschläge vorgetragen worden. Die einen schauen mehr, was an der Einkommenssituation der Eltern verändert werden kann. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass man natürlich auch dorthin schauen muss; denn arme Kinder leben bei armen Eltern. Aber

das andere ist es, Kinder und Jugendliche als eigenständige Individuen wahrzunehmen.

Es gibt noch viel mehr Dinge, über die man diskutieren kann, beispielsweise über das elternunabhängige Bafög oder über die Erhöhung von Lehrlingsentgelten. Es gibt noch viele Diskussionen, die wir führen können. Wir haben mit unserem Antrag heute einen Teilbereich aufgemacht. Wir werden weiterhin darüber diskutieren. Ganz ehrlich: Ich fände es gut, wenn wir den Antrag überweisen und ihn qualifizieren mit vielen schönen anderen Ideen aus den Fraktionen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt noch eine Wortmeldung von Herrn Steppuhn. - Frau von Angern, wenn Sie zuhören würden, könnten Sie frei entscheiden, ob Sie darauf reagieren. - Herr Steppuhn, Sie haben das Wort.

Es ist mehr eine Kurzintervention und keine Frage an die Kollegin von Angern, der ich ausdrücklich dafür danke, dass sie das Thema heute so sachlich vorgetragen hat.

(Minister Marco Tullner: Macht sie immer!)

Ich denke, wir werden im Ausschuss sehr ausführlich über die Themen in der gesamten Bandbreite reden.

Ich habe mich gemeldet, weil ich das, was Herr Farle zu der zunehmenden Kinderarmut gesagt hat, nicht im Raum stehen lassen will. Wir haben eine rückläufige Arbeitslosigkeit. Das können Sie bei der Bundesagentur für Arbeit erfragen. An den Statistiken wird deutlich, dass die Zahl derjenigen, die Hartz-IV-Leistungen oder aufstockende Leistungen im Land bekommen, rückläufig ist und dass weniger Familien von Sozialleistungen abhängig sind.

Ich glaube, auch das ist ein Fortschritt in diesem Land. Es gibt viele andere Dinge, die wir im Land schon gemacht haben. Herr Minister Willingmann hat das stellvertretend vorgetragen. Dazu zählen auch die Familiencoaches und dass man versucht, immer ein Familienmitglied in Arbeit zu bringen. Wir werden genügend Gelegenheit haben, darüber im Ausschuss zu reden.

Ich will es nicht im Raum stehen lassen. Nicht, dass irgendwelche Unwahrheiten gesagt werden, die nicht belastbar sind.- Danke schön.

Frau von Angern will darauf offensichtlich nicht mehr reagieren. Dann könnten wir in das Abstimmungsverfahren eintreten. Ich habe bisher gehört, der Antrag soll zur federführenden Beratung in

den Sozialausschuss und zur Mitberatung in den Wirtschaftsausschuss überwiesen werden. Gibt es weitere Anträge auf Überweisung des Antrages? - Das ist nicht so. Können wir das so abstimmen? - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch.

Wer für diese Überweisung ist, den bitte ich um sein Kartenzeichen. - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Überweisung des Antrages in die genannten Ausschüsse einstimmig vom gesamten Haus beschlossen worden. Wir beenden nunmehr den Tagesordnungspunkt 7.

Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, begrüße ich auf der Nordtribüne ganz herzlich Studentinnen und Studenten der Rechtwissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Herzlich willkommen bei uns!

(Beifall im ganzen Hause)

Nun geht es weiter mit

Tagesordnungspunkt 8

Beratung

Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den kommunalen Verwaltungen Sachsen-Anhalts

Antrag Fraktionen CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 7/1533

Änderungsantrag Fraktion DIE LINKE -

Drs. 7/1571

Einbringerin ist Frau Dr. Späthe. Sie hat hiermit das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Bereits zum 1. Januar 2017 ist die erste Reformstufe des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - kurz: das Bundesteilhabegesetz - in Kraft getreten. Damit soll die bisherige Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen zu einem modernen Teilhaberecht umgewandelt werden.

Was sich so einfach ausspricht, ist das Ergebnis eines langen und sehr aufwendigen Weges. Früher, auch noch im vergangenen Jahrhundert, wurden Menschen mit Behinderungen geradezu versteckt. Die Familie war zuständig. Hilfen gab es kaum. Es war nicht vorstellbar, dass sich Betroffene selbst für ihre Rechte einsetzten.

Erst im Jahr 1994 wurde das Verbot der Benachteiligung von Menschen wegen ihrer Behinderung

in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Artikel 38 unserer Landesverfassung, deren 25. Geburtstag wir gerade gefeiert haben, stellt Menschen mit Behinderungen unter den Schutz des Landes, welches ihre gleichwertige Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft fördert.

Erst im Jahr 2001 trat das erste, das alte SGB IX in Kraft, in dem das bis dahin geltende Recht der Rehabilitation und Teilhabe Behinderter bzw. von Behinderung bedrohter Menschen, das vorher auf mehrere Gesetze verteilt war, zusammengefasst und weiterentwickelt wurde.

Bereits damals wurde ein erstes Umdenken in der Behindertenpolitik eingeleitet. Man wollte weg vom Fürsorgegedanken - den behinderten Menschen muss geholfen werden - hin zur Anerkennung des Menschen mit Behinderung als Experte in eigener Sache. Man legte erstmals Wert auf die Zusammenarbeit mit den Verbänden behinderter Menschen.

Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland. Schnell wurde klar, dass deren Umsetzung in deutsches Recht eine völlig neue Sichtweise, ein anderes Herangehen und viel Energie aller Akteure bedarf. Nicht nur ich erinnere mich daran, wie langwierig die Beratungen, Gespräche und Abstimmungen waren, um Sachsen-Anhalt auf den Weg in eine inklusive Gesellschaft zu bringen und den Landesaktionsplan „Einfach machen“ zu beschließen. Wenn ich so schaue, ist dessen Umsetzung, wie wir neulich festgestellt haben, eben nicht so einfach.

Die Beratungen zum Bundesteilhabegesetz selbst dauerten ebenfalls lange. Sie waren sehr schwierig. Sie wurden nicht nur mit Experten und Vertretern der Fraktionen geführt, sondern auch unter Einbeziehung derer, die konkret betroffenen sind. Das ist gut; das ist wichtig und sehr notwendig. Nichts über uns ohne uns - das ist das Credo der Menschen mit Behinderungen. Genau das ist ein wichtiger Punkt, den das Bundesteilhabegesetz ermöglicht.

Aus den Reihen der Menschen mit Behinderungen gab es nach der Vorlage des Gesetzentwurfes der Bundesregierung massive Kritik, die zu großen Teilen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Berücksichtigung fand. Dazu gehört, dass nunmehr klarere und eindeutigere Abgrenzungskriterien zwischen den Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege vorgesehen sind.

Die Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises wird zunächst wissenschaftlich evaluiert und in einem weiteren Schritt modellhaft in den einzelnen Bundesländern erprobt, bevor dieser Gesetzesteil 2023 in Kraft tritt.

Dem Wunsch der Leistungsberechtigten nach eigenen Wohnungen außerhalb besonderer

Wohnformen wird Vorrang eingeräumt. Das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen wurde gestärkt. Ich danke ausdrücklich unserer Landesregierung, die sich im Bundesrat für die Korrekturen des Gesetzentwurfes der Bundesregierung eingesetzt hat.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Verbesserungen, auf die ich hier und heute nicht eingehen möchte, Stichworte finanzielle Selbstbehalte,

Schwerbehindertenvertretung, Stärkung der

Rechte behinderter Frauen und Mädchen usw.

Was mich und die Koalitionsfraktionen aktuell jedoch besonders umtreibt und was auch Anlass unseres heutigen Antrages ist: Wir stehen mit dem Bundesteilhabegesetz vor dem schon viel zitierten Paradigmenwechsel, und zwar in der Leistungsvergabe und in der Leistungsbewilligung. Dieser Paradigmenwechsel muss vor allem vor Ort, in den Behörden, bei den einzelnen Mitarbeitern ankommen und dort umgesetzt werden.

Das Bundesteilhabegesetz ist zwar, wie der Name schon sagt, ein Bundesgesetz. Dessen Umsetzung erfolgt jedoch hier, bei uns, in den Sozialämtern der Kommunen und kreisfreien Städte.

Ein Gesetz zu schreiben, ist gut und richtig. Leider wissen wir alle nur zu gut, dass Gesetze, auch solche, die wir oder der Bundestag mit viel Arbeit und Energie verabschieden, im behördlichen Wege eine gewisse Eigendynamik entwickeln, wobei am Ende beim Bürger nicht immer das ankommt, was wir eigentlich erreichen wollten.

Bisher geltende Grundsätze der Leistungsbewilligung in der Eingliederungshilfe werden sich ab dem 1. Januar 2018 völlig verändern. Aufgrund der Festlegung des Gesetzes ist dann der individuelle Bedarf des Einzelnen festzustellen und - das ist neu - es sind hierfür passende Lösungen zu finden, es ist nicht einfach nur der passende Leistungstyp herauszusuchen. Das stellt die Kommunen bei der Entwicklung und Anwendung neuer Planungsinstrumente vor völlig neue Herausforderungen.

Daher sehen wir es als eine vordringliche Aufgabe der Landesregierung an, die kommunalen Sozialämter und die dort Beschäftigten hinsichtlich der Einführung der neuen Planungsinstrumente der Eingliederungshilfe gezielt zu informieren, zu schulen und bei deren Anwendung zu unterstützen und zu begleiten.

Es muss gewährleistet sein, dass ein Antragsteller in Osterburg die gleichen Informationen und Leistungen erhält wie ein Antragsteller in Nebra, der mit den gleichen Problemen zum Sozialamt geht. Diese Aufgabe muss kurzfristig angepackt werden. Die Zeit drängt.

Zu unserem Punkt 2. § 11 SGB IX haben wir ebenfalls und explizit in den Blick genommen; denn hierin heißt es, dass der Bund Modellvorhaben fördert, die den Vorrang von Leistungen zur Teilhabe und die Sicherung der Erwerbsfähigkeit unterstützen.