Protokoll der Sitzung vom 30.08.2018

Meine Damen und Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das stimmt schon sehr nachdenklich. Denn - das ist das große Problem - funktionale Analphabeten leben zu einem großen Teil in der Anonymität. Mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten ist berufstätig. Aus Scham geben sie sich mit ihrem Problem nicht zu erkennen. Ein Teil hat sich auch irgendwie eingerichtet und Vermeidungsstrategien entwickelt.

Aber wie lange geht das gut? - Wenn zum Beispiel das eigene Kind in die Schule kommt, dann wird das Problem akut. Wenn der Arbeitgeber im Zeitalter der Digitalisierung den Arbeitsplatz weiterentwickelt und Lese- und Schreibkenntnisse unabdingbar werden, dann ist der Arbeitsplatz in Gefahr.

Meine Damen und Herren! Im Rahmen der EUFörderperiode 2014 bis 2020 nutzt das Land den Europäischen Sozialfonds, um Angebote und Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit zu fördern und weiterzuentwickeln. Insgesamt stehen dafür im aktuellen Förderzeitraum 7 Millionen € zur Verfügung. Bisher wurden mehr als 4 Millionen € für 21 Projekte gebunden.

In der aktuellen Antragsrunde wurden 14 Anträge gestellt, die mit ihrem Finanzvolumen den Budgetrahmen von 7 Millionen € sogar um mehr als 1 Million € überschreiten. Das Programm wird somit vollständig ausgelastet.

(Doreen Hildebrandt, DIE LINKE: Na, also!)

- Liebe Kollegin Hildebrandt, ich würde zum Ende meines Redebeitrags noch kurz auf Ihre wichtigen Worte eingehen. Deswegen seien Sie ermutigt und hören Sie gut zu!

(Doreen Hildebrandt, DIE LINKE: Tue ich!)

Die Jury von „Alpha“ wird im September die Projektanträge bewerten und eine Prioritätenliste erstellen. Wenn es möglich ist, dann werden wir Mittel, die im Rahmen anderer ESF-Projekte nicht abfließen, in jene Alphabetisierungsprojekte umleiten, für die im Rahmen des Budgets von 7 Millionen € keine Fördermöglichkeit bleibt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen der insgesamt vier Fördergegenstände der Richtlinie bildet neben den eigentlichen Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen die Sensibilisierung der Gesellschaft für dieses Thema einen wesentlichen Schwerpunkt der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit. Ich erinnere daran, dass wir neulich mit Frau H. - da oben sitzt sie - in Halle die Ausstellung dazu eröffnet haben. Sie stößt auf eine hohe Resonanz. Ich kann jeden Kollegen, der hier zuhört oder auch nicht zuhört, nur ermutigen, das Landesverwaltungsamt zu besuchen. Diese Ausstellung erwartet Sie dort im Foyer. Der Kollege Aldag hat den Landtag zwar würdig vertreten, aber der eine oder andere weitere Abgeordnete kann den Weg dorthin durchaus einmal auf sich nehmen.

(Zustimmung von Angela Gorr, CDU, und von Cornelia Lüddemann, GRÜNE)

Projekte und Maßnahmen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit richten sich nicht nur an die Betroffenen, sondern an die gesamte Gesellschaft. Einerseits sollen die funktionalen Analphabeten selbst angesprochen werden, die Kursangebote zu besuchen, andererseits benötigen wir in den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen eine Aufgeschlossenheit dafür, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, die funktionalen Analphabeten eine größere Teilhabe ermöglichen. Für Arbeitgeber ist es in Zeiten des Fachkräftemangels aber auch wichtig, betroffene Beschäftigte zu identifizieren und fortzubilden.

Vor diesem Hintergrund wollen wir gemeinsam mit der Landesnetzwerkstelle, die ebenfalls als ESFProjekt am 1. Januar 2017 ihre koordinierende und konzeptionelle Arbeit aufnahm - wofür ich sehr dankbar bin -, am 14. November 2018 die Landesinitiative Alphabetisierung und Grundbil

dung gründen. Ich freue mich auch, genauso wie Frau Hildebrandt es getan hat, dass der verehrte Ministerpräsident, der jetzt leider nicht da ist, bereits im letzten Jahr seine Bereitschaft erklärt hat, für diese Initiative die Schirmherrschaft zu übernehmen.

Von der Landesinitiative erhoffe ich mir eine noch stärkere Verankerung des Themas in der Gesellschaft und die Schaffung eines Netzwerkes verschiedenster Partner - unter anderem von Institutionen und Verbänden aus den Bereichen Politik, Kommunalverwaltung, Wirtschaft, Arbeit, Bildung, Kultur und Sport -, das alle gegenwärtigen und künftigen Anstrengungen und Initiativen bündelt, begleitet und unterstützt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das im Antrag erwähnte Gutachten des Unternehmens Rambøll, das die bisherigen ESF-Projekte evaluiert hat, nähert sich dem Thema übrigens sehr differenziert und vorausschauend. Dazu gehört auch, dass die Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit aufbauend auf der ESF-Förderung Eingang in die bildungspolitische Agenda des Landes findet. Genau diese Strategie wird gegenwärtig im Bildungsministerium entworfen. Dabei orientieren wir uns neben den Erkenntnisse aus dem Gutachten von Rambøll auch an den Zielstellungen der „Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener 2016 bis 2026“.

In diesem Zusammenhang haben wir Anfang des Jahres - und somit lange vor der Einbringung des vorliegenden Antrags - im Rahmen der Haushaltsplanaufstellung für das Jahr 2019 ein neues Landesprogramm „Alphabetisierung und Grundbildung in Sachsen-Anhalt“ angemeldet und finanziell untersetzt.

Letztlich sind wir selbst zu dem Schluss gelangt, das Programm um ein Jahr zu verschieben. Wir wollten erst die Gründung der Landesinitiative abwarten, um im neuen Jahr gemeinsam mit den Mitgliedern der Initiative das Landesprogramm zu erarbeiten, das dann ab dem Jahr 2020 umgesetzt werden soll.

Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund meiner Ausführungen werbe ich für den Alternativantrag der Koalitionsfraktionen. Er gibt dem Bildungsministerium die Möglichkeit, die im

Rambøll-Gutachten empfohlene längerfristige

Strategie zu entwerfen und künftig notwendige Rahmenbedingungen in einen Bericht zu fassen, mit den Mitgliedern der Landesinitiative abzustimmen und dann dem Fachausschuss vorzustellen.

Meine liebe Kollegin Hildebrandt! Am Ende ist Geld Geld. Wir sollten der Europäischen Union sehr dankbar dafür sein, dass wir ihre Ressourcen nutzen können, die wir in einem guten Sinne als

Anschub und als Initialzündung für eine elementar wichtige Aufgabe in diesem Land nutzen.

Sie wollen mir eine Frage stellen, weshalb ich es kurz machen kann. Ich kann alle Abgeordneten nur ermutigen: Seien Sie bei diesem Thema sensibel, engagiert und helfen Sie uns dabei, die notwendigen Ressourcen ab dem Jahr 2020 im Haushalt zu verankern. Nach dem Haushalt ist vor dem Haushalt. Deswegen: Auch der nächste Haushalt wird spannend. - Vielen Dank. Und jetzt freue ich mich auf Ihre Frage.

Dann machen Sie mal, Frau Hildebrandt, Sie haben das Wort.

Herr Minister, das waren sehr differenzierte Ausführungen, die sehr schön dargestellt waren. Es ist wirklich ein wichtiges Thema, weshalb wir es ja auch in den Prio-Block aufgenommen haben.

Meine Frage: Wie viel Prozent bekommen die Träger nach der gültigen ESF-Richtlinie denn von ihren tatsächlichen Kosten erstattet?

Frau Hildebrandt, jetzt stellen Sie mir aber eine Frage. Dort oben auf der Tribüne sitzt Frau H. Die kann uns diese Frage sicherlich beantworten. Die Frage danach, wie die Erstattungsformate sind, kann ich Ihnen aus dem Stegreif nicht beantworten. Diese Frage überfordert mich einfach. Ich werde Ihnen die Antwort nachreichen. Aber wenn Sie es wissen, dann können Sie es mir sagen.

Sie dürfen das Wort nehmen.

Würden Sie mir zustimmen, wenn Sie dies geprüft haben, dass lediglich 80 % der Kosten erstattet werden und die Träger 20 % zu jeder Maßnahme bzw. zu jedem Kurs zuschießen müssen?

Ich frage Frau H. und gebe Ihnen dann die Antwort auf Ihre Frage. Aber im Ernst: Wir wissen doch alle, dass immer ein Kofinanzierungsanteil geleistet werden muss. Aber seien wir doch froh darüber, dass wir die EU haben, die bei diesem Programm hilft, und fangen nicht immer damit an, unsere eigenen Fördermaßnahmen gleich wieder zu relativieren und schlechtzureden.

Wir haben hier einen großen Schritt getan. Wir wissen auch, dass dies einige Risiken in sich

birgt, die wir gemeinsam im Rahmen der nächsten Haushaltsanmeldungen minimieren wollen.

Die EU ermöglicht es uns, diesen Anschub, diesen Impuls an einer so wichtigen Stelle zu setzen, bei der man gar nicht vermutet, dass es in Deutschland ein solches Problem gibt, weil wir alle denken, wir leben im Land der Dichter und Denker. Wir bekommen gar nicht mit, was in unserer Gesellschaft, zumindest in den Randgruppen, passiert. Aber bei 7,5 Millionen Betroffenen kann man eigentlich gar nicht mehr von Randgruppen reden.

Deswegen, glaube ich, kommt es darauf an, dass wir diese Arbeit engagiert unterstützen, für Sensibilität sorgen, für Ermutigung sorgen und am Ende auch gemeinsam für die Ressourcen sorgen. Vor diesem Hintergrund haben wir im nächsten Jahr noch viel vor. - Danke.

Danke. Ich sehe keine weiteren Fragen. - Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich noch etwas anmerken.

Frau Hildebrandt, Gäste werden in diesem Landtag ausschließlich vom Platz des Präsidenten aus begrüßt.

(Zustimmung von Angela Gorr, CDU)

Es wird nicht besser, wenn Sie das auch noch machen, zumal Sie wissen, dass es so ist. Es gibt ja manchmal Abgeordnete, die hält gar nichts zurück. Diese können dem Plenum dann gern mitteilen, dass sie mit Freude bemerkt haben, dass sie jemanden auf der Besuchertribüne gesehen haben. Das wäre dann ein Grenzfall. Begrüßen dürfen sie allerdings niemanden. - Damit hätten wir das geklärt.

Dann können wir in die Debatte der Fraktionen eintreten. Für die SPD-Fraktion spricht die Abg. Frau Prof. Dr. Kolb-Janssen. Ich stelle zuvor noch fest, dass der Minister seine Redezeit um zwei Minuten überzogen hat. Damit erhöht sich Ihre Redezeit auf sieben Minuten.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, ich werde diese Redezeit nicht ausschöpfen müssen; denn im Wesentlichen hat der Minister dargestellt, wie die Strategie des Landes aussieht. Ich kann dem Minister versichern, dass ihn die Parlamentarier - wie auch in der Vergangenheit - in seinen Bemühungen unterstützen.

Ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir schon für den laufenden Haushalt, also für die Haushaltsjahre 2017 und 2018, dafür gesorgt

haben, dass die Mittel über den Landesfachausschuss für Erwachsenenbildung erhöht werden, damit die Koordinierungsstelle besser ausgestattet werden kann.

Das heißt, das Thema ist bei uns in guten Händen und wir werden die Dinge, die notwendig sind, tun, um das, was jetzt angeschoben worden ist, also insbesondere die Gründung der Landesinitiative Alphabetisierung und Grundbildung voranzutreiben.

Die Netzwerkbildung ist ganz wichtig, weil - ich glaube, auch das hat der Minister sehr eindrücklich gesagt - wir ganz viele ins Boot holen müssen. Es sind die Betroffenen, die sich oftmals schämen, die sich nicht trauen, obwohl sie wissen, dass es Hilfe gibt, diese dann auch in Anspruch zu nehmen.

Es ist manchmal auch der Mut, den ein Kollege, ein Familienangehöriger oder ein Freund braucht, um zu sagen: Du hast ein Problem. Willst du dir nicht Hilfe holen, um deine Rechtschreibkenntnisse, deine Deutschkenntnisse und deine Kenntnisse im Lesen zu verbessern? Denn dies ist essenziell für die Möglichkeit, einen Job zu finden und am Arbeitsmarkt zu bestehen.

Tatsächlich ist es so, dass es zunehmend auch Arbeitgeber sind, die mit den entsprechenden Trägern der Angebote in Kontakt treten, um die Kollegen, bei denen sie festgestellt haben, dass sie Defizite haben, zu unterstützen.

Lassen Sie mich aber noch auf einen anderen Aspekt eingehen. Als ich von den 7,5 Millionen Analphabeten gehört habe, von denen ungefähr 200 000 in Sachsen-Anhalt leben, war ich erschrocken. Wir reden darüber, dass wir in Deutschland ein sehr gutes Bildungssystem haben,

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Das hatten wir einmal; jetzt nicht mehr!)

aber offensichtlich fallen viele - aus meiner Sicht viel zu viele - durch dieses Bildungssystem. Wir müssen an dieser Stelle nach den Ursachen und nach den konkreten Punkten suchen, an denen wir die Betreffenden verlieren; denn aus meiner Sicht kann es nicht sein, dass jemand die Schule verlässt, und sei es auch nur mit einem Hauptschulabschluss, ohne richtig lesen und schreiben zu können.

Wir würden den Minister gern bei der Suche nach den Ursachen unterstützen. Zudem könnten an der einen oder anderen Stelle, bei denen wir heute schon wissen, dass es wichtig ist, nachzusteuern, geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass struktureller Analphabetismus überhaupt erst entstehen kann.