Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In Sachsen-Anhalt leben schätzungsweise 200 000 funktionale Analphabeten, also etwa 10 % der erwachsenen Bevölkerung. Das sind 150 000 Analphabeten zu viel. Wir dürfen bei diesem Thema nämlich nicht vergessen, dass Analphabetismus auch durch Intelligenzdefizite bedingt sein kann.
Die Linken tun zwar so, als würden die natürlichen Begabungsvoraussetzungen keine Rolle spielen, aber das ist bekanntlich einer der großen Irrtümer ihrer Politik.
Ca. 2,5 % der Bevölkerung weisen einen IQ zwischen 69 und 50 auf und leiden damit an einer sogenannten leichten Intelligenzminderung, die in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten mit dem Code F 70 bezeichnet wird. Diese Personen wären theoretisch in der Lage, mit 18, 19 Jahren das Niveau eines Grundschulabschlusses zu erwerben und sind in aller Regel funktionale Analphabeten. Sie können also einen einfachen Text weder verfassen noch lesen. Daran werden leider auch keine Alphabetisierungskampagnen etwas ändern.
Drei Viertel der funktionalen Analphabeten wären aber durchaus in der Lage, Lesen und Schreiben zu lernen; dass sie es nicht richtig können, liegt nicht an fehlender Begabung, sondern es muss an den kulturellen Rahmenbedingungen liegen.
Alphabetisierungskampagnen sind schön und gut, wenn sie aber nicht mit einem Wandel der gesellschaftlichen Mentalität einhergehen, werden sie keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielen. Alphabetisierungskampagnen bekämpfen nur ein Symptom unserer Bildungskrise und nicht die Ursache. Sie tragen in etwa so viel zur nachhaltigen Alphabetisierung bei wie Integrationskurse zur Integration, also nur sehr wenig bis gar nichts.
Wenn wir nicht die tieferen Ursachen des Analphabetismus in Schule und Gesellschaft bekämpfen, dann bleiben Alphabetisierungskampagnen ein Dauerzustand, der sich an einem konstanten Nachschub an Analphabeten mühsam abarbeitet.
Anders als in den Entwicklungsländern leiden wir in Deutschland nicht an einem Analphabetismus aufgrund von Unterentwicklung, sondern an einem Wohlstandsanalphabetismus, einem Dekadenzanalphabetismus, an einem Analphabetismus, der daher rührt, dass viele Bürger stundenlang fernsehen anstatt zu lesen und dass die Schulbildung immer schlechter wird, dass Fleiß, Disziplin und Konzentration verloren gehen und dass in der Schule selbst mittlerweile mehr Wert auf digitalen Schnickschnack gelegt wird als darauf, dass die Schüler gute Bücher lesen.
Die funktionalen Analphabeten sind nur die Spitze des Eisberges; denn sehr viele, die nicht gerade funktionale Analphabeten sind, können nur schlecht lesen oder selbst Texte verfassen.
Was wir bräuchten, wäre eine alle Bildungseinrichtungen umfassende Initiative zur Anhebung der Textkompetenz, eine Rehabilitation des Buches als Bildungsmedium und eine konsequente Ausrichtung der Lehrpläne hin zu einem intensiveren Umgang auch und gerade mit sehr langen Texten. Die Schüler müssen Texte lesen, Texte zusammenfassen, Texte strukturieren, interpretieren und eigene Texte verfassen und das in einem viel höheren Umfang als bisher üblich.
Was wir aber garantiert nicht brauchen, sind künstlich vereinfachte Texte, wie im Beschluss des Landtages vom 12. Juli 2013 gefordert. Sie müssen doch erkennen, dass Sie das Problem mit dieser einfachen Sprache nur verstetigen.
Anstatt dafür zu sorgen, dass sich die funktionalen Analphabeten anstrengen und ihre defizitäre Kompetenz verbessern, sollen die Texte so weit vereinfacht werden, dass auch funktionale Analphabeten sie lesen können. Dies wiederum senkt die allgemeine Textkompetenz und damit das Bildungsniveau der Bevölkerung noch weiter ab - ein Teufelskreis, der langsam, aber sicher in die totale Verblödung führt.
Was das Netzwerk Alphabetisierung und Grundbildung Sachsen-Anhalt angeht, so wimmelt es in den Texten auf deren Homepage von abwegigen Schreibweisen, wie etwa dem Gender-Sternchen. Ich würde dieser Initiative also empfehlen, sich erst einmal selbst zu alphabetisieren, bevor sie sich anschickt, anderen das Schreiben beizubringen.
Wir werden uns deshalb zu dem Antrag der LINKEN wie auch zu dem Alternativantrag der Stimme enthalten. - Vielen Dank.
Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nunmehr - - Es gibt doch noch eine Wortmeldung; die habe ich leider nicht gesehen. - Frau Gorr, Sie haben das Wort.
Eine Zwischenintervention. - Ich empfinde die Formulierung „Dekadenzanalphabetismus“ als Herabwürdigung der Betroffenen.
Nun sehe ich aber tatsächlich keine weiteren Wortmeldungen mehr. Wir können in der Debatte fortfahren. In der spricht nun der Abg. Herr Aldag für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Level-One-Studie aus dem Jahr 2011 wissen wir, dass in Sachsen-Anhalt etwa 200 000 funktionale Analphabeten leben. Obwohl uns diese Ergebnisse seit sieben Jahren bekannt sind, finde ich diese Zahl nach wie vor erschreckend; denn sie bedeutet, dass für viele Menschen in Sachsen-Anhalt eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nur sehr eingeschränkt möglich ist und mit der fortschreitenden Digitalisierung immer mehr Gefahren birgt.
Wir als GRÜNE nehmen diesen besorgniserregenden Fakt sehr ernst, und damit stehen wir in unserer Koalition nicht allein. Ihrem Antrag entnehme ich, liebe Fraktion DIE LINKE, dass Ihnen dieses Thema ebenso am Herzen liegt wie uns.
Naturgemäß haben die Fraktionen im Haus jedoch unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man sich diesem Thema konkret widmen soll. Der Vorschlag der Koalition liegt Ihnen allen in Form des Alternativantrages vor. Ich bin davon überzeugt, dass dieser erstens absolut zustimmungsfähig ist und zweitens zeigt, dass wir als Land bei der Alphabetisierungsfrage auf einem guten Weg sind.
Ich kann es mir an dieser Stelle nicht ganz verkneifen zu sagen: Frau Hildebrandt, Ihr Engagement in allen Ehren. Aber mit Ihrem Antrag sind Sie etwas voreilig gewesen. So schnell, wie Sie die finanzielle Unterstützung für ein Landespro
gramm fordern, wird es in der Praxis gar nicht gewünscht; denn unsere Träger im Land wollen erst gute Konzepte schreiben und sich das Vorgehen genau überlegen, bevor sie Steuergelder ausgeben. Wären Sie bei der Eröffnung der Ausstellung anwesend gewesen, dann hätten Sie die Gelegenheit gehabt, auch bei den zuständigen Personen nachzufragen. Ich habe aber gerade erfahren, dass Sie noch nicht einmal eine Einladung gekriegt haben. Auch das sollte man dringend ändern und darauf hinwirken, dass alle Abgeordneten für solche Veranstaltungen eine Einladung kriegen.
Meine Damen und Herren! Ich wiederhole: Bei der Erwachsenenbildung sind wir bei der Alphabetisierungsfrage auf einem guten Weg.
Ich will aber diese Debatte noch auf einen anderen Punkt lenken, nämlich auf unsere Grundschulen. Wo, wenn nicht hier, wird für alle Menschen der Grundstein für die Alphabetisierung gelegt? - Hier lernen Kinder Lesen und Schreiben. Hier lernen die Kinder, Textinhalte zu erfassen und ihre Gedanken auf dem Papier festzuhalten.
lichen Unterrichtsversorgung im vorangegangenen Schuljahr abgesenkt wurde, leiden insbesondere unsere Grundschulen an den knappen Ressourcen. Ich finde das verheerend. Ich kriege täglich oder fast täglich immer wieder neue Zusendungen von Schulen und von Grundschullehrkräften, die einen wirklich verheerenden Zustand darstellen. Gerade hier müssen wir doch dafür sorgen, die besten Bedingungen zu schaffen, um ausnahmslos alle Kinder abholen und mitnehmen zu können. An dieser Stelle sehe ich uns alle in der Pflicht, wenn wir über Alphabetisierung reden, auf den Anfang zu schauen, also auf unsere Grundschulen. Ich sehe uns alle in der Pflicht, gemeinsam zu gewährleisten, dass dort ausreichend und gut qualifiziertes Personal zur Verfügung steht, damit alle Kinder Lesen und Schreiben lernen.
Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam ein Konzept entwickeln, das Auskunft darüber gibt, wie trotz des Lehrkräftemangels die Absenkung der Stundenzuweisung an den Grundschulen schrittweise rückgängig gemacht werden kann, damit Versäumnisse und Förderbedarfe rechtzeitig bemerkt werden und allen Kindern am Anfang ihrer individuellen Bildungsbiografie die Unterstützung zukommt, die gebraucht wird. - Vielen Dank.
(Minister Marco Tullner: Funktionelle An- alphabeten sind doch keine Grundschüler! - Wolfgang Aldag, GRÜNE: In der Grund- schule werden aber die Grundlagen gelegt!)
Herr Minister, hatten wir schon einmal eine Debatte in diesem Hohen Hause zum Thema „Alphabetisierung in Sachsen-Anhalt fördern“?
- Ich würde es begrüßen, wenn man mir zuhört. - Wir haben nun das Jahr 2018, und in der Zwischenzeit ist viel passiert, nicht zuletzt die lobenswerte Verortung im Rahmen der EU-Förderperiode 2014 bis 2020. Damit haben wir uns auf den Weg gemacht, Angebote und Strukturen der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit zu entwickeln und zu unterstützen, die nach meiner persönlichen Kenntnis in Sachsen-Anhalt seit den frühen 90er-Jahren insbesondere von den Volkshochschulen des Landes in den Blick genommen wurden.
Ich bin daher sehr froh darüber, dass die damaligen Anstrengungen, das Thema ins Bewusstsein von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu bringen, deutlich sichtbare Früchte getragen haben. Der Kollege Aldag äußerte heute Morgen nebenbei am Rande, wie wichtig es wäre, auch positive gemeinsame Projekte aus dem Bereich Bildung einmal in die Öffentlichkeit zu tragen.
Nun, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die heutige Debatte zeigt genau dieses. Der Punkt 1 beider Anträge, also Punkt 1 des Antrages der Fraktion DIE LINKE und Punkt 1 des Alternativantrages der Koalitionsfraktionen, eint uns. Allein die dort getroffene Feststellung, dass Alphabetisierung und Grundbildung wichtige Schritte zur gesellschaftlichen Teilhabe sind, hätte ich auch im Jahr 1993 schon gern gehört, ganz absehen von einer weiteren finanziellen Unterstützung, die es damals nämlich auch nicht gab.
Damals stieß die Erwachsenenbildung auf großes Unverständnis in Politik und Bevölkerung und auch auf Unglauben, als die Größenordnung der Betroffenen in Sachsen-Anhalt - sie wird heute auf ca. 200 000 Menschen geschätzt - öffentlich gemacht wurde und erste Maßnahmen zur Abhilfe entwickelt wurden. Nun ist es politischer Konsens. Das ist eine schöne Stunde für mich als Bildungspolitikerin.
Aufgrund der Komplexität der Problemlagen Betroffener und auch der großen Schwierigkeiten, an die Menschen - wie man so sagt - heranzukommen, ist die Gründung einer Landesinitiative Alphabetisierung und Grundbildung durch das Land Sachsen-Anhalt in Zusammenarbeit mit der Netzwerkstelle ein wirklich wichtiger und guter Schritt zur dauerhaften und somit nachhaltigen Beschäftigung mit dem Thema.