Dabei gab es frühzeitig Hinweise darauf, dass Oury Jalloh sich nicht selbst angezündet haben kann. Sie wurden immer wieder von der OuryJalloh-Initiative und der Familie Jalloh als Nebenklägerin vorgetragen. Die zentralen Fragen sind weder neu noch beantwortet. Wie soll sich ein Mensch, der gefesselt ist und bei dessen Durchsuchung kein Feuerzeug gefunden wurde, selbst anzünden? Warum brennt eine feuerfeste Matratze? Warum fehlen entscheidende Teile der Videodokumentation der Zellenbegehung? Warum taucht das Hauptbeweismittel, das Feuerzeug, erst Tage später auf?
Diese Fragen konnten in zwei Prozessen nicht beantwortet werden. Richter Manfred Steinhoff schätzte nach Ende des ersten Prozesses ein:
„Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat mehr, und Polizeibeamte, die in besonderem Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht.“
Meine Damen und Herren! Genau das ist der zentrale Unterschied zu anderen Fällen, bei denen Fragen offen sind. Das ist der zentrale Unterschied zu Angriffen auf den Rechtsstaat, die der Unterstellung folgen, die Justiz wolle Fälle nicht aufklären, weil das angebliche Ergebnis politisch nicht ins Konzept passe. Das ist ein Befund, der die Dimension des Falls Oury Jalloh deutlich macht, und es ist einer, der klarmacht, dass es hierbei eben nicht darum geht, Gewaltenteilung
aufzuweichen oder politischen Einfluss auf die Unabhängigkeit der Justiz zu nehmen, sondern um politische Verantwortung.
Wenn Polizisten juristische Aufklärung eines Todesfalls in Polizeigewahrsam unmöglich machen, dann sind nicht diejenigen, die auch eine politische Aufarbeitung fordern, eine Gefahr für den Rechtsstaat, sondern diejenigen, die das ignorieren wollen.
Es waren seit 2005 wenige engagierte Menschen, die immer wieder selbst Gutachten in Auftrag gaben und die Justiz zum Handeln zwangen. Sie wurden als Nestbeschmutzer, als Verschwörungstheoretiker, als linke Spinner diffamiert und kriminalisiert. Auch das ist Teil des Skandals.
Aber schauen wir uns den weiteren Lauf der Dinge an. Im April 2017 brach die Staatsanwaltschaft Dessau mit den bisher bekannten Handlungsmustern der Justiz und ging offenen Fragen offen nach. Kurze Zeit später war sie nicht mehr für den Fall zuständig. Mit den Erkenntnissen aus diversen Gutachten zum Brandversuch in Dippoldiswalde wandte sie sich mit der Bitte an den Generalbundesanwalt, ein Verfahren zu führen, weil ein Tötungsdelikt vorliegen könnte. Doch der lehnte ab. Das Verfahren ging zurück nach SachsenAnhalt.
Die Staatsanwaltschaft Dessau forderte beim Generalstaatsanwalt personelle Unterstützung an, um die notwendige Ermittlungsarbeit leisten zu können. Dieser entschied aber anders. Statt Personal nach Dessau zu schicken, entzog er Dessau das Verfahren und gab es im Juni 2017 an die Staatsanwaltschaft Halle. Diese kam bei Prüfung derselben Unterlagen wie ihre Dessauer Kollegen zu einem gänzlich anderen Schluss und stellte das Verfahren ein, weil kein Anfangsverdacht für eine Straftat vorliege.
Im September 2017 führten wir an dieser Stelle eine Debatte, in der Justizministerin Keding jegliche Fragen zurückwies, da das Verfahren laufe und nicht aus den Akten berichtet werden dürfe. Wer Aufklärung forderte, wurde bezichtigt, in die Unabhängigkeit der Justiz eingreifen zu wollen. Politische Aufarbeitung könne überhaupt erst nach erfolgter juristischer Aufklärung beginnen oder sei gar nicht mehr notwendig und Polizisten dürften nicht diskreditiert werden.
Die Brandgutachten wurden bis zuletzt als Geheimsache behandelt, Anträge der Nebenklage ignoriert. Anträge auf Sondersitzung des zuständigen Rechtsausschusses wurden abgelehnt, und die Einschätzungen der Staatsanwaltschaft Des
sau waren nach wie vor nicht öffentlich, bis es zu einer Befragung des Generalstaatsanwaltes im Rechtsausschuss kam. Dieser legte dar, dass die Befunde der Sachverständigen sehr widersprüchlich seien, doch seien sich alle einig gewesen, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass sich Oury Jalloh selbst angezündet habe. Dass eine größere Menge Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sei, sei hingegen ausgeschlossen. Es gebe keinen Grund und keine Chance mehr, weiterzuermitteln.
Was er nicht sagte, wurde wenige Tage später durch einen Bericht des Magazins „Monitor“ öffentlich: dass die Gutachter unisono von einer geringen Menge Brandbeschleuniger ausgingen, dass sie es alle für wahrscheinlicher hielten, dass Oury Jalloh angezündet wurde, als dass er sich angezündet habe, und dass die Staatsanwaltschaft Dessau Polizisten als Tatverdächtige benannte.
Während im Landtag von Sachsen-Anhalt um die Notwendigkeit der Akteneinsicht und der Veröffentlichung der Brandgutachten gestritten wurde, waren es erneut journalistische Recherchen und öffentliche Berichterstattung, die offenbar Druck erzeugten. Die Justizministerin wies schließlich an, dass der Fall erneut überprüft werden soll, und zwar von eben jener Generalstaatsanwaltschaft, die entscheidende Erkenntnisse der Gutachter gegenüber dem Rechtsausschuss verschwiegen hatte.
Zusätzlich beschloss der Rechtsausschuss im Frühjahr 2018, dass zwei Sachverständige die Geschichte des Falles Oury Jalloh aufarbeiten und einschätzen sollen, ob die Justiz alle Mittel zur Aufklärung ausgeschöpft habe und ob der Landtag stets richtig und umfassend informiert wurde.
Schnell war sogar die Rede von Sonderermittlern, die tätig werden sollen, und tatsächlich entstand der Eindruck von Bewegung. Es blieb beim Eindruck; denn auf die mediale Ankündigung folgte zunächst eine Ablehnung der Einsetzung von Sachverständigen im Rechtsausschuss, eine Verschiebung ein um das andere Mal, weil man sich koalitionsintern noch einig werden müsse.
Heute sind die Sachverständigen zwar benannt und haben einen beschlossenen Arbeitsauftrag. Ob sie den jemals erfüllen werden, bleibt aber offen, und dies ist ausdrücklich nicht den Sachverständigen anzulasten, sondern ausschließlich den Koalitionsfraktionen.
Denn offenbar waren alle Befürchtungen berechtigt, die vermuteten, dass das Verfahren mit Sachverständigen einen Hauptzweck hatte: die Dis
kussion um einen Untersuchungsausschuss, die damals durchaus im Raum stand, zu ersticken, und bezeichnenderweise wurde diese Diskussion außerhalb Sachsen-Anhalts seit jeher weitaus intensiver geführt als in Sachsen-Anhalt. Auch das sollte uns allen zu denken geben.
Der Beschluss war mehr als eindeutig. Sobald der Generalstaatsanwalt seine Prüfung beendet hatte, sollten die Sachverständigen ihre Arbeit aufnehmen. Die Koalitionsfraktionen entschieden jedoch in der letzten Rechtsausschusssitzung, den Beginn der Arbeit noch weiter zu verschieben. Nun sollen die Berater erst beginnen, wenn über ein Klageerzwingungsverfahren entschieden ist und auch nur, wenn dies abgewiesen wird.
Wir nähern uns dem Ende der Legislaturperiode. Meine Prognose ist, dass dieser Beschluss dem Prinzip der Diskontinuität unterfallen wird. Damit wird der Beschluss zur Einsetzung der Sachverständigen endgültig Makulatur - Makulatur einer Koalition, in der Aufklärung und Aufarbeitung des Falls offensichtlich keine politische Mehrheit haben, und Makulatur von Koalitionspartnern, die nicht einmal den Anstand haben, das zuzugeben.
Meine Damen und Herren! Der Generalstaatsanwalt hat entschieden. Er verfasste einen mehr als 200-seitigen Prüfvermerk, berichtete dem Rechtsausschuss erneut und legte die Gründe für seine Entscheidung dar. Und ja, auch hier hatte meine Fraktion Fragen, die die Notwendigkeit eines Untersuchungsausschusses deutlich machen; denn im Kern sagte er, dass kein Ereignisverlauf am Tag des Todes Oury Jallohs zweifelsfrei belegbar sei und deshalb ein Anfangsverdacht für das Vorliegen einer Straftat nicht mit der nötigen Konkretisierung formuliert werden könne. Wenn das aber so ist, müssen wir fortan von einem ungeklärten Todesfall im Polizeigewahrsam sprechen, wenn wir vom Tod Oury Jallohs reden, nicht von Selbstmord.
Das wäre die Konsequenz aus der Argumentation, dass nicht zweifelsfrei zu belegende Abläufe die weitere Ermittlung unmöglich machen. Erneut sind es Medienberichte, die Zweifel wecken. Die Experten, auf deren Einschätzung die Neubewertung durch die Staatsanwaltschaft Dessau beruhte, wurden trotz monatelanger Prüfung der Unterlagen nicht erneut befragt, und mindestens einer der beteiligten Experten widerspricht der Darstellung ihrer Einschätzung im Prüfbericht.
Es wird mit Hypothesen gearbeitet. Das ist an sich nicht das Problem. Das ist das typische Phänomen von Ermittlungsarbeit. Das Problem ist, dass
in einem Fall Hypothesen als nicht stichhaltig genug angesehen werden, um erfolgversprechend erneut zu ermitteln, im anderen Fall werden sie aber als gegeben angenommen. Es sei auszuschließen, so wird argumentiert, dass Polizisten Oury Jalloh angezündet hätten, weil sie andere, bessere Möglichkeiten gehabt hätten. Deshalb müsse sich Oury Jalloh selbst angezündet und getötet haben. Beides sind Annahmen - Annahmen, die jedoch mit unterschiedlichen Maßstäben bewertet werden.
In einem Fall sollen sie das Ende von Ermittlungen bedeuten, im anderen Fall heißt es, es ist klar, was passiert ist. Die Rede ist nach wie vor von Selbstanzündung. Das ist nicht haltbar. Es ist eine Hypothese.
Genau diese unterschiedlichen Maßstäbe sind das Problem; denn was am Ende steht, ist die Frage, was von diesem Fall übrig bleibt, der Selbstmord oder ein ungeklärter Tod im Polizeigewahrsam. Das ist ein entscheidender Unterschied gegenüber den Hinterbliebenen Oury Jallohs. Es ist auch ein entscheidender Unterschied in Bezug auf politische Verantwortung und die Notwendigkeit politischer Aufarbeitung.
Anlässlich der Aussage des Generalbundesanwaltes zur angeblich ersichtlichen Staatsgefährdung drängt sich die Frage auf, worin diese Staatsgefährdung in den Augen von Justiz und Politik eigentlich bestehen würde. Darin, dass Polizisten einen Menschen getötet haben könnten, oder darin, dass es herauskommen könnte und als wahrscheinlichere Variante als der Selbstmord im kollektiven Gedächtnis bleibt?
Meine Damen und Herren! Welchen Fragestellungen der Untersuchungsausschuss folgen soll, haben wir in unserem Antrag ausführlich dargelegt und beschrieben, ebenso, warum es diese sind und warum auch die bisherigen Beschlüsse dazu nicht ausreichend sind. Ich ende deshalb mit Heribert Prantl, der schon im Jahr 2017 schrieb:
„Es gibt kaum einen anderen Fall, in dem sich die zuständigen Richter, schier in Verzweiflung, so drastisch geäußert haben: Man habe nicht die Chance gehabt, ‚das, was man ein rechtsstaatliches Verfahren nennt, durchzuführen‘. Polizeibeamte hätten ‚bedenkenlos und grottendämlich‘ falsch ausgesagt. Und die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof sagte, der Tod des Mannes in der Zelle hinterlasse ‚nicht nur bei Angehörigen und Freunden Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit‘. Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Außer einem Untersuchungsausschuss im Landtag.“
Vielen Dank. Ich sehe keine Wortmeldungen. - Somit treten wir in die Debatte ein. Es wurde eine Fünfminutendebatte vereinbart. Doch zuvor spricht für die Landesregierung die Ministerin Frau Keding.
- Das hat sich erledigt. Hier steht: Verzicht angekündigt. Entschuldigung. - Dann treten wir wie angekündigt in die Fünfminutendebatte der Fraktionen ein. Wir beginnen mit der SPD-Fraktion mit der Abg. Frau Dr. Pähle. Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass ein Mensch im polizeilichen Gewahrsam unter Obhut des Staates stirbt, ist schlimm genug. Dass seit 2005 in Ermittlungstätigkeit die Umstände dieses Todes nicht aufgeklärt werden können und die Schuldfrage nicht beantwortet werden kann, dass die Hinweise, die auf ein Fremdverschulden hindeuten, trotz zahlreicher Sachverständigengutachten nicht abschließend eingeordnet werden können, dass zwischen den verschiedenen beteiligten Staatsanwaltschaften ein Dissens über die rechtliche Interpretation dieser Hinweise und Gutachten unübersehbar im Raum steht, dass im Lichte dieser Diskussion der Wechsel in der Zuständigkeit der ermittelnden Staatsanwaltschaften nicht für Abgeordnete und Öffentlichkeit zufriedenstellend begründet werden kann, das ist etwas, womit sich Parlamente nicht abfinden können.
Deshalb war es ein Durchbruch im parlamentarischen Umgang mit den Ermittlungen zum Tod von Oury Jalloh, als der Landtag am 24. November 2017 beschloss, die Ermittlungsakten einzusehen. Es war vor gut acht Monaten eine wichtige Entscheidung des Rechtsausschusses, für diese Akteneinsicht mit Jerzy Montag und Manfred Nötzel zwei versierte juristische Berater zu berufen, die bei ihrer öffentlichen Vorstellung bekundeten, dass sie sich keiner These, keiner Hypothese und keiner Seite verpflichtet fühlen und ohne Vorbehalte an die Prüfung herangehen wollen.
Ich möchte an der Stelle sagen, ich bedanke mich ausdrücklich bei der CDU, dass sie diesen Weg mit uns gegangen ist.
Ich danke auch Siegfried Borgwardt für die Idee, zwei externe Berater zu benennen. Dabei ging es erklärtermaßen nie darum, dass der Landtag oder
seine Berater die Todesumstände ermitteln oder gar ein Urteil fällen können. Es geht ausschließlich um die Aufarbeitung der Ermittlungstätigkeit selbst. Auch den heutigen Antrag verstehe ich so.
Es wäre gut gewesen und dieses Haus würde heute besser dastehen, wenn diese vorbehaltlose Prüfung längst begonnen hätte. Dann hätten wir besser beurteilen können, ob die Einschätzung der Antragsteller trägt, dass jetzt nur noch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss für Aufklärung sorgen kann, weil wir dann nämlich das mildere Mittel, die Akteneinsicht durch das Parlament und die fachkundige Einordnung durch unsere juristischen Berater, schon ein gutes Stück vorangebracht hätten.
Dass die beiden Berater ihren Auftrag umgehend erledigen können, ist deshalb das vordringliche Interesse meiner Fraktion. Ich persönlich teile die Einschätzung nicht, dass der Ausgang des KIageerzwingungsverfahrens abgewartet werden muss.