Protokoll der Sitzung vom 29.09.2016

Frau Prof. Kolb-Janssen, ich habe noch eine Frage; nicht ich habe eine Frage, sondern ich habe eine Wortmeldung, die auf eine Frage gerichtet ist. Diese kommt von Herrn Schmidt, der nunmehr das Wort hat.

Sie möchten über Standorte bei den Förderschulen sprechen. Heißt das, Sie möchten Förderschulen schließen?

Wir reden jetzt erst einmal über ein Konzept. Der Minister für Bildung ist aufgefordert, uns einen Entwurf vorzulegen. Wir werden uns mit der Istsituation beschäftigen, wir werden uns mit den Bedarfen beschäftigen und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen ableiten. Nicht wahr, Herr Tullner?

(Minister Marco Tullner: Ja, 100-prozentige Übereinstimmung!)

Es geht weiter in der Debatte. Jetzt kommt der Beitrag für die Fraktion DIE LINKE. Er wird gehalten von Frau Bull. Bitte sehr.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von CDU, SPD und GRÜNEN, Sie präsentieren mit Ihrem Antrag den aller-, aller-, allerkleinsten gemeinsamen Nenner Ihres Regierungsbündnisses. Ich weiß, mehr ist nicht machbar. Denn die einen möchten, vielleicht in unterschiedlichem Maße, Inklusion am liebsten begraben, die anderen müssen sich mit Stillstand begnügen.

Deshalb bleiben Sie uns und der Öffentlichkeit schuldig, was Rahmen und Richtung Ihres Antrages sein soll. Genau darum drücken Sie sich. Ich will vier Bemerkungen zu Ihrem Antrag bzw. zu unserem Änderungsantrag machen.

Zum Ersten. Ich finde, Inklusion ist eine großartige Vision

(Beifall bei der LINKEN)

und menschenrechtlich und demokratisch. Alle Kinder lernen miteinander in vielfältigen Lernprozessen. Vor allen Dingen erleben sie Gleichwertigkeit in der Differenz. Ich finde, das ist auch pädagogisch eine spannende Sache. Bildung braucht Vielfalt und nicht Einfalt.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Ministerin Prof. Dr. Claudia Dalbert)

Ich will aber gleichzeitig sagen, es ist eine riesige Herausforderung, und zwar deshalb, weil man nahezu alles, was althergebracht ist oder scheint, infrage stellen muss.

Es ist ein ratifiziertes Gesetz. Wir können hier nicht mehr über die Frage des Ob reden, sondern es ist nur noch eine Frage des Wie. Ich weiß, das finden nicht alle gleich gut.

Eine beliebte oder subtile Strategie der Ablehnung ist immer die Umdeutung. Deshalb finde ich es schon immer wieder notwendig zu erklären, worum es eigentlich geht.

Die Prämissen sind: Erstens. Vielfältige Lebenslagen und Lernvoraussetzungen sind Normalität. Entscheidend dabei ist, dass jede und jeder Wertschätzung, und zwar gleichermaßen Wertschätzung und Teilhabe erfährt oder, anders gesagt, dass alles, was Unterschiede in Misskredit bringt oder Chancen vorenthält, überwunden gehört.

Zweitens. Inklusion in Bildungsprozessen heißt gemeinsames Lernen voneinander und miteinander.

Drittens. Diese Unterschiede muss man produktiv machen. Das ist und bleibt - ich wiederhole mich - eine ganz große Herausforderung.

Deshalb ist es uns wichtig, noch einmal ganz klar zu sagen: Die Zukunft liegt im gemeinsamen Unterricht,

(Beifall bei der LINKEN)

im gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen, von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Religionen, von unterschiedlicher sozialer Herkunft und vieles andere mehr.

Zum Zweiten. Wenn Theorie auf Praxis trifft, dann ist es immer so, dass Ideale nur noch Näherungswerte sind. Deshalb bleibt dieser Prozess einer der ständigen Auseinandersetzung.

In Sachsen-Anhalt ist es so, dass Erfolg und Misserfolg sehr nah beieinanderliegen und dass wir seit vielen Jahren keine Balance mehr zwischen dem einen und dem anderen haben. Es gibt erfolgreiche Schulen und Projekte, aber es gibt viel zu viele, die die Segel gestrichen haben.

Hierzu will ich noch einmal klar sagen: Das ist selbstgemachtes Leid; denn der Misserfolg ist in allererster Linie mit dem akuten Personalmangel zu begründen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde es gut, wenn Frau Gorr sagt, Sie seien kurzsichtig gewesen. Entscheidender ist aber die Frage, ob Sie jetzt weitsichtig werden.

(Angela Gorr, CDU: Natürlich! Sonst hätten wir den Antrag nicht eingereicht!)

Zum Dritten. Die Kolleginnen und Kollegen an den Förderschulen leisten Bewundernswertes. Sie fördern die Kinder nach den Möglichkeiten, die eine Förderschule bietet. Sie geben ihnen Zuversicht und auch emotionale Zuwendung, zumindest in den meisten Fällen.

Trotzdem ist es so: Schülerinnen und Schülern in den Förderschulen fehlen nun einmal die gleichaltrigen Starken oder anders Begabten. Es fehlen ihnen kognitive Anreize und Impulse. Und zur Wahrheit gehört auch, es ist extrem schwer bis unmöglich, den Rahmen der Förderschule zu verlassen und eine andere Schullaufbahn einzuschlagen.

Schülerinnen und Schülern an den Regelschulen wiederum fehlen die Erfahrungen mit besonderen Lernstrategien, mit besonderen Lebenssituationen. Ihnen fehlen die Erfahrungen, welche anderen Lernstrategien man entwickeln kann, wovon auch sie profitieren könnten.

Zum Vierten. Der Umbauprozess, meine Damen und Herren, ist nicht nur komplex und kompliziert, sondern er gestaltet sich auch als Dilemma; denn die Zukunft der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen ist an der Regelschule. Das Pro

blem ist nur: Weniger Förderschülerinnen und Förderschüler, also mehr im gemeinsamen Unterricht brauchen nicht gleichermaßen weniger Förderpädagoginnen und Förderpädagogen. Auch kleine Klassen in den Förderschulen kommen nicht mit einem halben oder mit einem Dreiviertellehrer aus.

Solange wir zwei Säulen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben, stecken wir im Dilemma fest. Deswegen müssen wir über den Übergang nachdenken.

Damit bin ich bei Ihrem Antrag, gegen den man im Wesentlichen nichts einwenden kann. Ich freue mich vor diesem Hintergrund auf eine sachliche Diskussion im Ausschuss. Ich hätte gern noch dazu die Frage gestellt, wie es gelingen könnte, einen solchen Übergang mit Kooperationsklassen unter dem Dach der Regelschule zu gestalten.

Ich denke, es wird uns sicherlich gelingen, sachlich und konstruktiv in einen Austausch zu treten, auch wenn wir am Ende nicht die gleichen Pfade favorisieren. - Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Frau Bull. - Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Insoweit können wir in unserer Debatte fortfahren. Für die Fraktion der GRÜNEN hat nun der Abg. Herr Aldag das Wort. Bitte sehr.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Koalitionsfraktionen einen wichtigen Punkt angehen, der in den kommenden Jahren zu einer guten und, wie wir meinen, progressiven Bildungspolitik in unserem Land führen wird.

Ziel ist ein höchstmögliches Maß an Teilhabe für Menschen mit Behinderungen an Bildung im Sinne von Chancengerechtigkeit. Das heißt: Ja, wir wollen die Inklusionsquote ständig erhöhen und dafür die notwendigen Voraussetzungen schaffen, und ja, auch mit diesem Ziel bleiben die Förderschulen weiterhin ein wichtiger Bestandteil in unserem Schulsystem;

(Zustimmung von Angela Gorr, CDU)

denn es stellt sich nur die Frage, in welchem Umfang und mit welcher Ausrichtung die Förderschulen im Land notwendig sind, wenn wir die Ziele gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen wollen.

Frau Kolb-Janssen und Frau Bull, Sie haben es noch einmal deutlich ausgeführt: Wir haben uns zu dieser Konvention verpflichtet. Es ist ein Gesetz und daran müssen wir uns halten.

Das Konzept zur künftigen Gestaltung von Förderschulen wird Antworten darauf geben. Deshalb ist es uns wichtig, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, dieses Vorhaben direkt zu Beginn der Legislaturperiode in Angriff zu nehmen.

Lassen Sie mich anhand einiger Zahlen den Handlungsbedarf im Bereich Inklusion für Sachsen-Anhalt verdeutlichen. In Sachsen-Anhalt ist der gemeinsame Unterricht seit dem Jahr 2001 im Landeschulgesetz ausgewiesen. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler an den Förderschulen hat seitdem abgenommen. Der Inklusionsanteil lag im Schuljahr 2013/2014 bei 27,1 %. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 28,2 %.

Der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist jedoch gestiegen. Die diagnostizierte Förderquote bei den Heranwachsenden in SachsenAnhalt liegt mit 9,4 % immer noch viel höher als im bundesweiten Durchschnitt mit 6,6 %.

Vor fünf Jahren erreichten noch 25 % der Schülerinnen und Schüler an einer Schule für Lernbehinderte den Hauptschulabschluss. Im letzten Jahr waren es nur noch 16,6 % der Schülerinnen und Schüler. Über alle Förderschulen hinweg betrachtet verließen 88,2 % der Förderschülerinnen und Förderschüler im Schuljahr 2012/2013 die Schulen ohne einen Schulabschluss. Der Bundesdurchschnitt lag bei 72,6 %.

Die Zahlen machen deutlich, dass wir im Interesse aller Kinder handeln müssen, damit möglichst alle die gleichen Bildungschancen haben. Gerade dazu trägt der gemeinsame Unterricht bei.

Dass Inklusion ein Erfolgsmodell ist, zeigen viele wissenschaftliche Untersuchungen seit Jahren. Andere Länder sind in Fragen der inklusiven Bildung weit voraus.

(Zustimmung von Dr. Andreas Schmidt, SPD)

Meine Damen und Herren! Uns ist es wichtig, dass das Resultat der konzeptionellen Arbeit dem Parlament vorgelegt und mit ihm einvernehmlich abgestimmt wird. Wir wollen darüber gemeinsam mit allen offen und transparent diskutieren und somit einen breiten Konsens für die künftige Gestaltung von Förderschulen erreichen. Ich bin mir sicher, dass die in Ihrem Änderungsantrag angesprochenen Punkte auch in der Diskussion im Ausschuss entsprechenden Wert finden werden.

Meine Damen und Herrn! Mit diesem Antrag bringen wir einen Prozess in Gang, der - dabei bin ich zuversichtlich - die Förderschulen und die Inklusion in unserem Bundesland richtungsweisend positiv beeinflussen wird. Daher bitte ich um die Zustimmung zu dem Antrag der Koalitionsfraktionen. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Ministerin Prof. Dr. Claudia Dalbert und von Minister Marco Tullner)