Protokoll der Sitzung vom 15.11.2007

(Beifall DIE LINKE)

Im Statement von Dr. Hartmut Kopf bringt dieser zum Ausdruck - Zitat: „Wenn wir die Bedingungen für Kinder in einer Gesellschaft positiv verändern möchten, müssen wir zunächst genau analysieren: Wie ist die aktuelle Situation, was ist gut, was muss besser werden?“ In Thüringen wird die Analyse leicht modifiziert: Wie ist die Situation? Worin sind wir besser als die alten Bundesländer? Und: Wo können wir als Bundesland in unserem Engagement nachlassen und Gemeinden, am Erziehungsprozess Beteiligte, aber besonders Familien mit Kindern immer mehr belasten? Kürzungen in zweistelliger Millionenhöhe im Kindertagesstättenbereich, Reduzierungen in der Schuljugendarbeit, kaum noch Schulsozialarbeit führen zu größeren Belastungen und belegen das.

Vor dem Hintergrund des heutigen Kinderreports, der in Berlin vorgestellt wurde, möchte ich noch mal ver

deutlichen, dass besonders auch hier dargestellt wurde, dass Familien mit Kindern gerade im Osten der Republik in besonders prekären Lagen leben, und das, finde ich, ist sehr alarmierend.

Wir werden nicht umhinkommen, auch in Thüringen Familien mit Kindern, Familien mit geringem Einkommen besonders zu unterstützen. Wir fordern deshalb nach wie vor einen Rechtsanspruch für Kinderbetreuung von Anfang an. Auch hier sagt der heutige Bericht, dass etwa 25 Prozent aller Kleinkinder in Deutschland von Familien nicht ausreichend versorgt werden. Wir fordern weiterhin, dass die Betreuung auf hohem pädagogischen Standard erfolgt, dass die Erzieherinnen in den Kindertagesstätten mehr Zeit bekommen für Vor- und Nachbereitung und mehr Zeit für Elterngespräche, für Fort- und Weiterbildung. Das entbindet uns auch nicht, darüber nachzudenken, wie man alle Kinder mit einem gesunden warmen Mittagessen versorgen kann, wie man allen Kindern freien Zutritt zu allen Bildungseinrichtungen ermöglichen kann usw. usf.

Wenn unser aller Schlussfolgerungen dazu beitragen, dass den Kindern dieser Welt entscheidend und nachhaltig geholfen wird, dann kommen wir der Zeile aus Grönemeyers Lied, denke ich, ein kleines Stück näher: „Dem Trübsinn ein Ende, wir werden in Grund und Boden gelacht.“ Ich wünsche mir eine Welt, in der das Kinderlachen die Regel ist.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Als nächste Rednerin hat das Wort Abgeordnete Meißner, CDU-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Abgeordnetenkollegen, liebe Gäste auf der Besuchertribüne, die I. World Vision Kinderstudie zeigt Deutschland erstmals mit Kinderaugen. Nie wurde die Sicht von in Deutschland lebenden Kindern im Alter bis zu 11 Jahren so unmittelbar und so umfassend wissenschaftlich gründlich dokumentiert. Ein Grund genug für die CDU-Fraktion, heute hier in der Aktuellen Stunde über die I. World Vision Kinderstudie zu berichten und zu sprechen.

Insbesondere zwei positive Erkenntnisse gehen aus dieser Studie hervor: 1. Eine große Mehrheit der befragten Kinder fühlt sich in seinen Lebensverhältnissen wohl.

2. Kinder zeigen eine große Bereitschaft, sich für andere zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen.

Aber die Studie verdeutlicht auch viel Handlungsbedarf für alle Bundesländer. Insbesondere zeigt die Studie, dass die Herkunft des Kindes nach wie vor leider ausschlaggebend ist für den Lebensweg. Die soziale Herkunftsschicht hat auch starken Einfluss auf die Bildungsziele. Auf die Frage, welchen Bildungsabschluss Kinder erreichen möchten, erklärten 20 Prozent aus der Unterschicht, sie könnten sich Abitur vorstellen und aus der Oberschicht 81 Prozent.

Eine Lösung schlägt die Kinderstudie vor, indem sie im Freizeitbereich neue Aktivitäten anregt. Es bedarf einer vielseitigen Unterstützung aller Kinder unterschiedlichster Herkunft. Insbesondere in einem schwierigen Wohnumfeld sollen kreative Aktivitäten geschaffen und Vereine für Kinder erreichbar gemacht werden. Notwendig sind auch Gruppenaktivitäten, bei denen Kinder aus einer Unterschicht oder Migrantenkinder mit einbezogen werden können. Beispielhaft möchte ich ein Projekt aus der Stadt Sonneberg nennen, wo es das Netzwerk „Multicooltur“ gibt. Vorbildhaft haben sich dort der AWOJugendmigrationsdienst des DRK-Jugendzentrums und die Kreissportjugend organisiert und gemeinsam in einem Wohnumfeld, wo eine hohe Ausländerquote herrscht, ein Projekt veranstaltet, das über viele Jahre hinweg gerade dieser Zielgruppe an Kindern sinnvolle Freizeitbereichsmöglichkeiten zur Verfügung stellt.

Laut Studie darf die Bildung jedoch nicht erst in der Schule beginnen. Deshalb soll eine möglichst frühe und breite Förderung für alle stattfinden. Die Kindergärten müssen in ganz Deutschland als Bildungsinstitution begriffen werden.

(Beifall CDU, DIE LINKE)

In Thüringen gab es bisher bereits die Leitlinien frühkindlicher Bildung, die der Freistaat als nicht ausreichend empfand und einen wissenschaftlich fundierten Bildungsplan für die Kinder von 0 bis 10 Jahren entwickelt hat, der in Kürze für die Kitas verpflichtend werden soll. Laut Studie bedarf es aber auch einer konsequenten Rückmeldung an die Kinder, dass Wert auf sie und ihre Sichtweisen gelegt wird. Die natürliche Kompetenz der Begeisterungsfähigkeit von Kindern wird zu wenig genutzt. Kinder unterschiedlichster Herkunft werden laut Studie lediglich unterschätzt. Sie können und sollten daher an wichtigen Entscheidungen beteiligt werden. Deshalb müssen wir auch hier in Thüringen Plattformen für Kinder schaffen, damit sie ihre Bedürfnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen können. Dies gilt aber auch für die Schule, wo die Beteiligung laut Studie eher formal geregelt ist. Kinder sehen die Möglichkeiten der schulischen Mitbestimmung als sehr beschränkt an. Ich möchte die Studie zitieren: „Ziel sollte sein, Kindern früh Gelegenheiten zur Be

teiligung zu ermöglichen, um ihnen in ihrer weiteren Biographie so einen leichteren Zugang zu weiteren Beteiligungsformen zu gewährleisten.“ Vor Kurzem fand hier im Plenarsaal der Schülerpolitiktag statt, veranstaltet vom THILLM. Dort war es auch ein Thema, die im Schulgesetz grundgelegten Möglichkeiten der Mitbeteiligung von Schülern konsequent umzusetzen.

Der Freistaat Thüringen unterstützt die Landesschülervertretung seit Jahren finanziell und wird dies auch in Zukunft fortführen. Das bedarf aber auch einer Unterstützung der Lehrer, die ihre Schüler natürlich motivieren sollten, sich an Entscheidungen zu beteiligen und deren Interesse dazu anzuregen.

(Beifall CDU)

Ein Ergebnis der Studie sollte uns alle als Politiker jedoch aufrütteln: Nur 27 Prozent der Kinder vertrauen darauf, dass die Politiker sich für ihre Bedürfnisse einsetzen. Das Misstrauen der Kinder gegenüber der Politik sollte für uns alle ein zusätzlicher Ansporn sein.

(Beifall CDU)

Das Wort hat Abgeordnete Ehrlich-Strathausen, SPDFraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, es kommt selten vor, dass ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU in der politischen Diskussion einmal bedanke. Heute will ich das tun und ich tue das aus dem Grund, weil sie dieses Thema für die Aktuelle Stunde gewählt haben. Ich tue es allerdings nicht etwa für die Schlüsse, die sie offenbar daraus ziehen. Da ich aber von Grund auf optimistisch bin, habe ich die Hoffnung, dass Sie die Aussagen von World Vision als einem christlichen Hilfswerk und als Auftraggeber der Studie ernst und zur Grundlage Ihres Handelns nehmen. Wenn Sie das tun, dann wird es Zeit, dass diese CDU-Fraktion samt Landesregierung noch einmal ganz aktuell in Klausur geht. Dann sind nämlich große Veränderungen in der Kinder- und Familienpolitik angesagt und dafür reicht diese Aktuelle Stunde nun wirklich nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen das obgleich der Kürze der Zeit auch beweisen. Die Pressemitteilung der Auftraggeber der Kinderstudie am 24.10. war überschrieben mit zwei Schlagzeilen, erstens: „Soziale Herkunft entscheidet über Zukunft der Kinder“ und zweitens - wir haben es eben schon

gehört -: „Kinder stärker beteiligen“. Wie lautet aber die Antwort der Thüringer Landesregierung auf diese seit Jahren bekannten Botschaften?

Zu Punkt 1 - „Soziale Herkunft entscheidet über die Zukunft der Kinder“: Das Handeln der Landesregierung macht deutlich, dass sie diese Unterschiede offensichtlich genau so will und sie unterstützt das auch noch durch ihr Festkrallen an der die Chancenungleichheit noch fördernden Thüringer Schulstruktur.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Dass Bildung und insbesondere frühkindliche Bildung der entscheidende Schlüssel zum Verlassen dieses Teufelskreises ist, ist allen wohlbekannt. Aber wie steuert die Landesregierung nebst CDU-Fraktion dagegen, wenn sie genau dort die Bedingungen verschlechtert und kürzt? Nicht ohne Grund ist Thüringen bundesweit führend - traurig führend - beim Anteil der Förderschüler pro Jahrgang.

Zu Punkt 2 - „Kinder stärker beteiligen“: Was soll denn so etwas? Kinder sollten doch gehorchen, dachte sich wohl die Landesregierung, als sie die Mittel für Beteiligungsmodelle im Jugendhaushalt gestrichen hat.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Wie ist es sonst zu erklären, dass die Landesregierung die UN-Kinderrechtskonvention weder mit einem kommunalen noch mit einem landesweiten mit Kindern erarbeiteten Aktionsplan unterstützen wollte. Frau Meißner, Kinder an wichtigen Entscheidungen beteiligen lassen, sagten Sie eben, aber immer und immer wieder haben Sie unsere Anträge zum Abbau von Benachteiligung und zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen abgelehnt.

(Beifall SPD)

Es ist schön, dass uns die Studie umfassend recht gibt. Noch schöner aber wäre es, wenn die Thüringer Kinder und ihre Familien von den Erkenntnissen endlich einmal profitieren könnten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, wenn Sie diese Ergebnisse wirklich zur Grundlage nehmen, dann erwarten wir eine Rücknahme der Kürzungen bei den Kindertagesstätten,

(Beifall DIE LINKE, SPD)

dann erwarten wir, dass Sie durch konkrete Maßnahmen für die Minderung der Kinderarmut sorgen, dann erwarten wir, dass Sie die Beteiligung von Kindern in der Schule und in den Kommunen endlich einmal ernst nehmen. Der Maßstab für Bildungs- und

Familienpolitik sind eben nicht fragwürdige Medaillen aus dem Umkreis von Frau Eva Herrmann. (Beifall DIE LINKE, SPD)

Der Maßstab sind die Fakten, die liegen nun auf dem Tisch und das zum wiederholten Male. Daran gemessen lautet das Ergebnis der CDU-Landespolitik zum jetzigen Zeitpunkt:

1. Soziale Benachteiligungen von Kindern werden in Thüringen insbesondere durch das Familienfördergesetz und die Bildungspolitik verschärft.

2. Kinderarmut wird verschleiert und bagatellisiert. Ich erinnere an die Diskussion im letzten Plenum. Familienarmut wird durch Verweigerung von Mindestlöhnen verschärft.

3. Beteiligung von Kindern wird weder in der Bildungs- noch in der Jugendpolitik als wichtige Aufgabe angesehen, sonst hätten Sie die Gelder nicht gestrichen.

Das alles ist reale Thüringer Landespolitik und das hat sehr viel mit Ideologie und nicht mit World Vision zu tun. Wenn Sie das Gegenteil beweisen wollen, haben Sie bei der Haushaltsberatung ausreichend Gelegenheit dazu.

(Beifall SPD)

Ich bin sehr gespannt. Wir wollen, dass die soziale Herkunft in Thüringen nicht länger über die Zukunft von Kindern entscheidet, und wir halten das auch nicht für einen Traum, sondern für machbar. Ich bin gespannt, wie Sie sich bei den Abstimmungen zu unseren Haushaltsanträgen verhalten und dann wird sich zeigen, was Ihnen die heutige Aktuelle Stunde und was Ihnen die Zukunft unserer Kinder tatsächlich wert sein werden. Danke schön.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Als nächste Rednerin hat das Wort Abgeordnete Jung, DIE LINKE.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordneten! „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind stark zu machen.“, unter diesem Motto ist die Kinderstudie vorgestellt worden. Diese Studie zeigt, dass es vielen Kindern in Deutschland gut geht, sie zeigt aber auch anderes. Die Studie zeigt, Kinder fühlen sich im Alltag oft nicht ernst genommen. So glaubt ein Großteil der Kinder - das hat Frau Meißner schon gesagt -, dass sich Politiker eher mangelhaft für ihre

Belange einsetzen. Nun ließe sich vermuten, dass die Sicht von Kindern auf ihr eigenes Leben in entscheidenden Punkten von der Wahrnehmung Erwachsener abweicht. Erstaunlicherweise, aber vielleicht auch eher konsequenterweise trifft das in entscheidenden Punkten nicht zu, und zwar genau bei den Punkten, bei denen sich Kinder benachteiligt und ausgegrenzt fühlen. Hier setzt die Studie an und will ihnen ein Sprachrohr sein und so wird es Sie sicher nicht verwundern, dass ich mich in meiner Rede den Kindern zuwende, die nicht zufrieden sind, die nicht das Gefühl haben, sich an der Gesellschaft angemessen beteiligen zu können, die von vornherein darauf verzichten, Abitur machen zu wollen, weil ihnen diese Perspektive ohnehin verbaut scheint, deren Eltern wenig Zeit mit ihnen verbringen. Erlauben Sie mir, World Vision direkt zu zitieren: „Die Studie zeigt, wie nachhaltig wirksam bereits im Kindesalter die sozialen Unterschiede sind und wie maßgeblich die soziale Herkunft den Alltag prägt. Kinder haben je nach Schichtzugehörigkeit unterschiedliche Gestaltungsspielräume. Die schlechteren Startchancen von Kindern aus den unteren Herkunftsschichten durchziehen alle Lebensbereiche und wirken wie ein Teufelskreis. Armutsrisiken und fehlende Ressourcen werden als Belastungen erlebt und schränken Teilhabemöglichkeiten ein.“ Wie, gesagt, das sagen nicht nur wir, das stellt nicht nur UNICEF fest, das stellt nicht nur der Kinderschutzbund fest - das sagen die Kinder auch selbst. Ihre Aussagen zur eigenen Zukunft, ihrer Freizeitgestaltung und die elterliche Zuwendung geben dieses Bild wieder. Interessant ist aber auch, dass die fehlende Zuwendung weniger von den Kindern beklagt wird, deren Eltern beide berufstätig sind, sondern vor allem von Kindern alleinerziehender und arbeitsloser Eltern. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Erwerbstätigkeit beider Eltern und Zuwendung kein Widerspruch seien. Im Gegenteil, eine geregelte Erwerbsbeteiligung der Eltern stabilisiere die häuslichen Verhältnisse und helfe, die gemeinsam verbrachte Zeit intensiver miteinander zu verbringen. Uns liegt also einmal mehr eine Studie vor, die die fehlende Chancengleichheit in Deutschland und natürlich auch in Thüringen feststellt. Ich frage mich, wann ziehen wir endlich die Konsequenzen daraus, wann glauben wir den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wann den Kindern, dass wir nicht mehr Geld in den einzelnen Familien, sondern mehr Chancen für benachteiligte Kinder brauchen.

(Beifall DIE LINKE)

Prof. Hollermann erklärt in dem Zusammenhang, Mütter und Väter brauchen mehr Rückhalt in unserer Gesellschaft. Immer mehr Eltern sind mit den schulischen Anforderungen ihrer Kinder überfordert. Daher müssen alle Institutionen und Bereiche unserer Gesellschaft mithelfen, Kinder stark zu machen. Ich kann Ihnen nur beipflichten und ich ergänze, es

braucht auch keine gestressten Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, die Kürzungen im Kita-Bereich führen aber gerade dazu. Schon jetzt kriechen viele Erzieherinnen auf dem Zahnfleisch oder klagen über ein Burn-out-Syndrom. Das hat die Umfrage des Landeselternverbandes Kindertagesstätten ergeben. Wie sie berichten, hat die Reduzierung des Personals dazu geführt, dass es in Krankheitszeiten und für wichtige Zusatzaufgaben keine Puffer mehr gibt. Wenn Erzieherinnen mit Eltern sprechen, wenn sie ihre Arbeit vor- oder nachbereiten wollen, müssen sie das häufig in der Freizeit tun. Wir brauchen also eine bessere Ausstattung der Kindertagesstätten, wie es das Volksbegehren für eine bessere Familienpolitik fordert.