Protokoll der Sitzung vom 10.12.2004

Wie hat sich das Kultusministerium dabei verhalten? Hat es seine im Schulgesetz verankerte Mitwirkungskompetenz wirklich aktiv genutzt? Hat es dafür Sorge getragen, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien der Schulnetzplanung eingehalten werden und die übergeordneten Ziele der Raumplanung und der Landesentwicklung Beachtung finden? Nichts von alledem. Das Kultusministerium hat jede geplante Schulschließung einfach abgenickt und sei sie auch noch so fragwürdig in ihren Auswirkungen für die Betroffenen und die Thüringer Bildungslandschaft gewesen. Und klammheimlich hat das Kultusministerium im vergangenen Jahr auch noch jene Richtlinie außer Kraft gesetzt, durch die die Länge der Schulwege begrenzt wurde. Jetzt entscheidet der Schulträger weit gehend nach Gutdünken, welche Weg

strecke den Schülern als Wohnortnähe zuzumuten ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das passive Verhalten des Kultusministeriums bei der Schließung allgemein bildender Schulen zeigt, dass sich die Landesregierung der Bedeutung der Schulnetzplanung für eine aktiv betriebene Landes- und Infrastrukturentwicklung offenbar überhaupt nicht bewusst ist.

(Beifall bei der PDS)

Die bisher gemachten Negativerfahrungen lassen mich zudem befürchten, dass wir bei berufsbildenden Schulen in den nächsten Jahren eine ähnliche Entwicklung erleben werden. Derzeit haben wir in Thüringen etwa 87.000 Schüler an 115 berufsbildenden Schulen, von denen sich etwa die Hälfte in Trägerschaften der Landkreise und kreisfreien Städte, die andere Hälfte in freier Trägerschaft befinden. Laut offizieller Prognose des Kultusministeriums wird sich diese Schülerzahl bis 2012 auf 39.000 reduzieren; das ist ein Rückgang von 55 Prozent. Rein rechnerisch würden im Jahr 2012 also nur noch maximal 50 Schulstandorte benötigt. Wir stehen somit vor einer tiefgreifenden strukturellen Veränderung der Thüringer Berufsschullandschaft. Entscheidungen, die in den kommenden Jahren über den Erhalt oder die Aufgabe von Berufsschulstandorten getroffen werden, werden aller Voraussicht nach irreversibel sein. Bis 2019 wird es laut Prognose des Kultusministeriums nur zu einer geringen Erholung bei der Zahl der Berufsschüler kommen. Sie sollen dann wieder leicht auf ca. 47.000 steigen. Dieses Szenario verlangt förmlich nach einem konzertierten Handeln im Interesse der weiteren Entwicklung des Bildungsund Ausbildungsstandorts Thüringen.

(Beifall bei der SPD)

Allerdings steht zu befürchten, dass die Schulträger erneut unkoordiniert vorgehen und insbesondere nach eigener Kassenlage über das Wohl und Wehe der Berufsschulstandorte entscheiden werden. Ob da noch ein regional ausgewogenes, differenziertes und wohnortnahes Berufsschulangebot bestehen wird, ist mehr als zweifelhaft. Ich habe außerdem wenig Hoffnung, dass das Kultusministerium dieses Mal eine aktive Rolle bei der Schulnetzplanung spielen wird. Wahrscheinlich soll dort wieder nur so alles abgenickt und notfalls auch per Ausnahmegenehmigung gestattet werden. Das darf so nicht eintreten, meine Damen und Herren. Die Landesregierung muss endlich ihre Mitwirkungskompetenz bei der Schulnetzplanung aktiv nutzen. Das Land muss als Moderator zusammen mit den Schulträgern und den Kammern dafür Sorge tragen, dass die unbestreitbar notwendigen Einschnitte

(Zwischenruf Abg. Döring, SPD: Mode- rator!)

in das landesweite Netz der berufsbildenden Schulen mit Sorgfalt, Augenmaß und Ausgewogenheit erfolgen. Nur so wird es möglich sein, in Zukunft noch ein regional ausgewogenes, differenziertes und flächendeckendes Berufsschulangebot vorzuhalten und den Schülern Wohnortnähe zu bieten. Überlassen wir die Dinge weiter dem Selbstlauf, dann werden wir in wenigen Jahren ein stark ausgedünntes, regional zerklüftetes Berufsschulnetz haben. Wir werden den Berufsschülern lange Fahrzeiten und Wohnheimunterkunft zumuten müssen und wir können die hohen Investitionen, die das Land und die Schulträger zur Sanierung und zum Neubau berufsbildender Schulen getätigt haben, ebenso in den Wind schreiben wie die für die gleichen Zwecke in Anspruch genommenen EU-Fördermittel.

Die SPD-Fraktion unterstützt daher die Forderung nach einem auf einer konkreten und regional differenzierten Bedarfsanalyse beruhenden, mit den Schulträgern und den Kammern abgestimmten Landeskonzept zur Berufsschulnetzplanung. Wir sehen es als ersten und dringend notwendigen Schritt an, wenn die Schulnetzplanung bei den berufsbildenden Schulen künftig so betrieben werden soll, wie es das Thüringer Schulgesetz vorsieht, nämlich als Element der Infrastruktur und Landesentwicklung. Die SPDFraktion wird daher dem Antrag der PDS-Fraktion zustimmen. Danke.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Danke. Jetzt bitte noch die Anfrage, Herr Abgeordneter Wehner.

Herr Abgeordneter Bausewein, Sie haben vorhin von Schulschließungen gesprochen. Meine Frage: Wie viele Schulschließungen im Bereich der berufsbildenden Schulen sind Ihnen denn bekannt? Sie haben hier mit Horrorzahlen agiert.

Herr Wehner, wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie mitbekommen, dass es nicht um Schulschließungen im Bereich berufsbildende Schulen ging, sondern um Schulschließungen im Bereich der allgemein bildenden Schulen.

Der Antrag geht aber ausschließlich über berufsbildende Schulen.

Danke schön. Als nächster Redner folgt Abgeordneter Emde, CDU-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin jetzt schon etwas verwundert über die Worte von meinem Kollegen aus der SPD-Fraktion. Ich dachte schon, man ist etwas mehr mit den Gesetzlichkeiten vertraut und hält auch etwas mehr auf Seiten der SPD-Fraktion von kommunaler Selbstverwaltung. Herr Bausewein,

(Zwischenruf Abg. Döring, SPD: Mode- rator!)

ich kenne Kollegen aus Ihren Reihen, zum Beispiel den Landrat Rosner - der ist ja SPD-Landrat im Saale-Orla-Kreis -, der weiß sehr wohl mit seinen Möglichkeiten umzugehen hinsichtlich Schulnetzplanung. Ich würde manches anders machen. Sie haben hier von Schulschließungen gesprochen. Diese sind manchmal sinnvoll und das hat nichts mit Geld allein zu tun, sondern hat auch etwas damit zu tun, wie man Schule sinnvoll organisieren kann.

(Zwischenruf Abg. Taubert, SPD: Das macht er doch aber.)

Da nehme ich das Beispiel Pößneck - Frau Künast sitzt ja auch da. Frau Künast, in Pößneck gibt es drei Grundschulen und jede hat nicht genügend Schüler, um vernünftige Schule zu organisieren. Dasselbe trifft für die Regelschulen zu. Da muss man fragen: Wird denn die Kompetenz wahrgenommen oder nicht? Aber es gibt wahrscheinlich auch unterschiedliche Auffassungen davon, wie man Schule günstig organisiert. Wir wollen in jedem Falle die kommunale Selbstverwaltung aufrechterhalten und wir lehnen diesen Antrag ab, weil er zwar ein kommendes Problem richtig benennt, aber aus unserer Sicht falsche Lösungen aufzeigt und von falschen Voraussetzungen ausgeht. Denn in der Begründung wird den Schulträgern unterstellt, dass sie die Herausforderungen an strukturelle Änderungen beim Berufsschulnetz nicht bewältigen können.

Frau Skibbe, wenn Sie sagen, Sie unterstützen den Landkreis, ich sage, Sie unterstützen ihn nicht, sondern Sie nehmen dem Landkreistag Kompetenzen weg. Da zeigt sich ganz deutlich ein völlig anderes Verständnis von Staat, in dem Subsidiarität offen

sichtlich keinen Platz hat. Gestern war hier in diesem Raum von Seiten der PDS gebetsmühlenartig der Ruf nach Wahrung der kommunalen Selbstverwaltung zu hören. Aber immer dann, wenn eine Aufgabe schwierig wird, dann muss die Lösung von oben kommen.

(Zwischenruf Abg. Grob, CDU: Das sind die noch gewohnt.)

(Beifall bei der CDU)

Aber Vorsicht, denn dann ist es so, ist die Verantwortung einmal nach oben abgegeben an die Zentrale, dann bleibt die Verantwortung auch bei der Zentrale und das für alle Zeit. Und am Ende - hört, hört - werden alle Entscheidungen von der Zentrale getroffen. Ich sage hier nur, Vorsicht all denen, die sich durch die PDS Hilfe bei ihren Problemen erhoffen.

Die Kommunen klagen derzeit, dass das Land zu harte Standards vorschreibt für die Aufgaben, die sie in ihrem eigenen Wirkungskreis erfüllen. Schulnetzplanung ist ein deutliches Beispiel dafür, dass das Land eben nichts vorgibt. Schulstandorte, Organisationsformen, Schulgrößen und -netze werden durch die Kommunen festgelegt. Mag man zu den Ergebnissen, die dabei entstehen, stehen wie man will, wir halten jedenfalls diese Ansiedlung der Entscheidungskompetenz vor Ort für die richtige und stärken damit kommunale Selbstverwaltung.

An die Landesregierung und die kommunalen Spitzenverbände geht aber trotzdem die Bitte, bis zum Frühjahr das Gespräch abschließend geführt zu haben, damit rechtzeitig eine Datenbasis vorliegt, auf deren Basis dann das Schulnetz der berufsbildenden Schulen für Thüringen weiterentwickelt werden kann. Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das geht nicht, ich bitte dann auch Zwischenfragen so anzuzeigen, dass es während der Redezeit erfolgt, weil es gibt keine Nachfragen zu Rednern. Nachfragen gibt es nur in der Aktuellen Stunde. So, das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Hennig, PDS-Fraktion.

Dann kann ich vielleicht gleich mal meine Frage so an Herrn Emde stellen. Wissen Sie überhaupt, wer diese Studie vom Thüringer Landkreistag finanzieren soll? Wenn Sie genauso auf diesem Stand sind wie ich, dann wissen Sie, dass dies das Thüringer Kul

tusministerium machen soll.

Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Präsidentin, ich muss sagen, ich bin schon erstaunt, was man alles auch als Minister aus einem Antrag lesen kann, der relativ deutlich ist, wo kein Wort von Planung, von Steuerung durch das Zentralorgan Ministerium drinsteht, sondern wo wirklich absichtlich - und auch so gemeint - formuliert ist, dass es um Empfehlungen, um Vorschläge geht, die meines Erachtens auch das Kultusministerium unterbreiten muss, und das aber nicht aus irgendeiner Laune heraus, sondern auf einer wirklich datenbasierten Analyse. Genau das fordert dieser Antrag. Und entschuldigen Sie bitte die Unschärfe. Wenn man das nicht will, dann kann man das natürlich auch so ausdrücken.

(Beifall bei der PDS)

Dann möchte ich mich noch dafür entschuldigen, dass ich für die letzten 40 Jahre nichts kann

(Beifall bei der PDS)

und auch in keinster Weise in dieser Tradition weiterführen möchte. Herr Goebel, vielleicht sollten wir uns bei Gelegenheit mal über den Unterschied zwischen "zentral" und "gemeinsam" unterhalten.

(Beifall bei der PDS)

Das wäre vielleicht angebracht.

Zu Herrn Abgeordnetenkollegen Bausewein: Ich kann ja schon fast nicht viel mehr sagen. Er hat schon eine sehr, sehr gute Begründung abgeliefert, warum dieser Antrag eigentlich Zustimmung finden sollte. Ich will aber mal ganz pragmatisch beginnen, um Ihnen das Problem noch einmal zu verdeutlichen, vor dem wir stehen. Von Anfang bis Ende der 90er-Jahre sind die Schülerzahlen an berufsbildenden Schulen aus den unterschiedlichsten Gründen kontinuierlich angestiegen und haben dabei den Höchststand von 95.000 Schülerinnen und Schülern erreicht. Natürlicherweise haben sich die berufsbildenden Schulen auch so entwickelt. Doch seit 2003 greift der demographische Knick in den berufsbildenden Schulen und die Schülerzahlen beginnen zu sinken. Mein Kollege hat es schon gesagt, wir haben etwa 87.000 Schülerinnen und Schüler derzeit an 115 berufsbildenden Schulen im Freistaat. Nach den Vorausberechnungen der KMK muss Thüringen in acht Jahren, das heißt also 2012, und Sie wissen, was das für Schulnetzplanung und Bildungsplanung heißt, mit mehr als der Hälfte weniger Berufsschülerinnen und -schülern rechnen. Das bedeutet, statt der derzeitigen 84.000, ich sage es noch mal, 84.000 Schülerinnen und Schüler werden nur noch

38.000 Schülerinnen und Schüler die berufsbildenden Schulen besuchen. Die drastischen Auswirkungen dieser Entwicklung auf das Netz berufsbildender Schulen können Sie sich wahrscheinlich auch ohne große Fantasie vorstellen und Sie wissen, wir haben im Bereich der allgemein bildenden Schulen schon einmal ohne Konzept eine Entwicklung erlebt. Dabei habe ich die derzeitigen Probleme wie Unterrichtsausfall, Lehrermangel und materielle Ausstattung noch gar nicht betrachtet.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Bedeutung vollzeitschulischer Schulformen ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Der Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen muss durch vollzeitschulische Maßnahmen überbrückt werden und Wartezeiten oder berufliche Teilqualifikationen werden eben in berufsbildenden Schulen absolviert. Die Vorausberechnungen der KMK ergeben für Teil- und Vollzeitschüler keine größeren Unterschiede, sondern gehen in beiden Bereichen von etwa 55 Prozent weniger Schülern aus. Erst 2020 werden sich die Schülerzahlen sichtbar erholt haben, trotzdem nie den alten Stand erreichen, zumal - um Ihnen das Problem noch deutlicher zu formulieren - mit dem Rückgang der Schülerzahlen natürlicherweise auch der Abgang der Absolventinnen und Absolventen an berufsbildenden Schulen einhergeht. Auch diese Zahlen werden sich drastisch reduzieren. In einem anderen Punkt der heutigen Tagesordnung werden wir dieses Thema noch mal problematisieren, nämlich beim Fachkräftebedarf in Thüringen.

Sehr geehrte Damen und Herren, um die Auswirkungen der dargestellten Entwicklung auf das Berufsschulnetz deutlich zu machen, zitiere ich mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, Dr. Detlef Klaas, seines Zeichens Referent beim Thüringer Landkreistag für Jugend und Bildung aus Heft 9/2004 des Thüringer Landkreistags, in dem er formuliert - jetzt bitte ich Sie einfach mal zuzuhören, Herr Minister: "Die demographische Entwicklung wird in das Berufsschulnetz einschneiden und seinen gegenwärtigen Bestand infrage stellen." Ich glaube, da sind wir uns einig. "Im statistischen Durchschnitt kamen 2002 auf jede Klasse 18,7 Schüler und auf jede berufsbildende Schule 42 Klassen. Hält man an diesen Durchschnittswerten fest, dann würde der Bestand an berufsbildenden Schulen bis 2012 um 59 Prozent reduziert werden. Das wären 68 Schulen." 68 von derzeit 115 Schulen werden einfach nicht mehr gebraucht. Jetzt möchte ich von Ihnen noch mal eine Begründung hören, warum wir keine Bedarfsanalyse brauchen.

(Zwischenruf Abg. Emde, CDU: Das hat er doch gerade gesagt. Hören Sie doch mal zu!)

(Beifall bei der PDS)

Natürlich. Ich weiß nicht, auf welcher Grundlage Sie dieses Berufsschulnetz entwickeln wollen, wenn Sie keine Bedarfsanalyse machen. Man braucht keine Bedarfsanalysen zu machen, ohne hinterher Empfehlungen oder Vorschläge zu machen. Wo sind wir denn?

(Heiterkeit bei der CDU)

Ich hatte dem Landtag mehr Fachwissen zugetraut, ich gebe es zu.

(Beifall bei der PDS)

Es wäre fatal, sich angesichts dieser Zahlen zurückzunehmen und darauf zu warten, dass sich das Problem von selbst erledigt. Denn der Verlust an Leistungsfähigkeit der Thüringer berufsbildenden Schulen könnte Ausbildungs- und Arbeitsmarkt extrem beeinflussen und nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung in Thüringen zum Stillstand bringen, von den persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten junger Menschen in Thüringen ganz abgesehen. Ganz nebenbei - wir schauen ja auch immer in andere Länder, das habe ich dieses Mal natürlich auch getan - handelt es sich hier nicht um ein Thüringer Spezifikum, sämtliche ostdeutschen Länder haben aufgrund ihrer ähnlichen Entwicklung im Berufsbildungsbereich seit 1990 damit zu kämpfen, die Berufsschulen leistungsfähig zu halten. In MecklenburgVorpommern werden daher zum Beispiel Bemühungen unternommen, regionale Berufsbildungszentren mit Schulzahlen im ganzen Land zu entwickeln. Bei der vorgestellten Zeitleiste des dortigen Ministeriums wurde deutlich, dass die Umstellung des Berufsschulnetzes einige Jahre in Anspruch nimmt und daher auch in Ableitung auch für Thüringen gilt, je eher, desto besser.