In der Europäischen Kommission arbeiten viele exzellente Leute an diesem Menschheitsprojekt. Was bisher durch Kriege erreicht worden ist - die Ausweitung von Macht- und Rechtsräumen -, wird erstmals in der Menschheitsgeschichte durch Gespräche und durch die Übernahme von Standards gegen den Transfer finanzieller Mittel erreicht. Die Nationalstaaten allein sind nicht fähig, die Probleme und die Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu bewältigen. In den Köpfen der Menschen ist viel zu wenig die Einsicht angekommen - weil wir es ihnen zu selten sagen -, dass die Probleme von heute bestenfalls von Europa gelöst werden. Ich erinnere an die sich aus der Globalisierung ergebenden Probleme, an die Umweltprobleme und an das, was in Bezug auf einen grassierenden Kapitalismus, der sich kaum eingrenzen, kaum bestimmen lässt, mit "Heuschrecken" beschrieben worden ist. All das löst bestenfalls Europa. Hätten wir weniger Probleme, könnten wir uns auch weniger Europa leisten. Aber weil wir moderne Probleme haben, brauchen wir moderne Antworten. Diese können wir nur gemeinsam in Europa entwickeln.
Dass Europa so schwierig ist, hängt auch damit zusammen, dass so viele mitreden wollen und mitreden müssen; das ist al
ternativlos. Wird von der EU-Ebene ein Lösungsvorschlag zum Binnenmarkt, zu den Umweltstandards oder zu anderen Problemen unterbreitet, dann ist er in der Regel klar formuliert, verständlich und stringent gedacht. Dann beugen sich 25 Staaten, der Europäische Rat und das Parlament darüber; es gibt Präzisierungen, Ausnahmen und Sonderrechte. Aus ursprünglich klaren Formulierungen wachsen riesige Apparate von Verfassungen bzw. Verträgen.
Die europäische Verfassung hat 66 000 Wörter. Ging es nicht kürzer? Die Frage ist berechtigt. Natürlich wäre es kürzer gegangen! Aber es müssen auch die Gründe bedacht und genannt werden, warum der Verfassungsvertrag ein so komplexes Buch geworden ist. Der Verfassungsvertrag ersetzt mehrere Meter vieler verschiedener Verträge durch ein einziges Buch. Wir machen - auch hier im Parlament - immer wieder die Erfahrung: Was nicht geregelt ist, führt danach häufig zu Problemen. Deshalb hat man im verfassunggebenden Prozess versucht, die Probleme vorherzusehen und Lösungen anzubieten.
Der Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss; einer hat dem anderen vieles abgerungen. Die deutsche Gruppe - ich nenne stellvertretend für viele andere Roman Herzog und Elmar Brok - hat versucht, in die Verhandlungen auch vieles von dem einzubringen, was sich die PDS gewünscht hat. Es handelt sich aber um einen Kompromiss mit 24 anderen Staaten, deren Parlamenten und anderen. Es fehlt ein wenig das Verständnis dafür, dass Sie nicht sagen: Ein Kompromiss ist besser als die Ablehnung des gesamten Vertragswerks.
Die EU bleibt bestehen; insofern gibt es nicht die Krise, die sich mancher wünscht. Aber sie kommt zurzeit nicht voran; sie kann nicht das leisten, was die Bürger zu Recht von ihr erwarten. Wenn wir nicht zu mehr Integration bereit sind, können wir auch nicht mehr Probleme gemeinsam anpacken und lösen.
Der Nizza-Vertrag ist für 15, nicht für 25 Staaten konzipiert worden. Nizza - das ist wie Morsen, wenn man Festnetz haben kann. Wir brauchen die moderne Lösung, die mit dem Verfassungsvertrag jetzt schon möglich ist, um Fortschritte bei der Bewältigung der von Ihnen zu Recht genannten Probleme zu ermöglichen. Diese Probleme werden nur angepackt und gelöst werden können, wenn wir den wichtigen Zwischenschritt des Verfassungsvertrags gehen.
Wir geben nur 1 % in Europa für das Wichtigste aus - um den Frieden erhalten zu können. Wir sind nach wie vor bereit, für das Militär und anderes viel mehr auszugeben.
Für das Wichtigste, was wir brauchen, um Wirtschaft, Binnenmarkt, Wohlstand und Entwicklung zu organisieren, haben wir immer noch keine eigene Steuerhoheit. Das ist ein Problem, um nicht zu sagen: ein Skandal!
Wir müssen europäisch denken, damit wir europäisch leben können. Wenn Sie „Sehr richtig!“ sagen, dann gehen Sie mit uns den Weg und werben auch Sie für die europäische Verfassung! Sie ist die Voraussetzung dafür, dass im Europäischen Rat, im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission endlich ein Konsens über eine Einnahmequelle in Form eigener Steuern erzielt werden kann.
Wir hängen mehr als jeder andere davon ab, dass es mehr Europa gibt. Im Jahre 2002 verzeichneten wir als Exportweltmeister von 2001 ein Exportwachstum von 10,5 %, 2003 waren es noch einmal 9,5 %. Das entspricht 20 % Exportwachstum allein in zwei Jahren. Warum? Weil wir im Ergebnis der neuen Binnenmarktregelungen über 70 % unseres Wachstums aus dem Handel mit den übrigen EU-Staaten generieren. Wir sind die Hauptprofiteure. Insofern ist es gut, wenn wir bereit sind, für den europäischen Prozess mehr zur Verfügung zu stellen.
Das letzte europäische Jahr - es dauerte von Mai 2004 bis zum Mai dieses Jahres - war ein Jahr der „enttäuschten Befürchtungen“. Viele hatten vermutet, in der EU der 25 werde es große Probleme geben. Diese Sorgen sind, so sagen uns die Polen und viele andere, „enttäuscht“ worden.
Lassen Sie uns deshalb auf diesem Weg weiter vorangehen. Wenn wir Europa voranbringen, dann bringt uns Europa voran. Weniger Europa können wir uns nicht leisten; wir sind zu abhängig voneinander. Europa ist unsere einzige Brücke in die Zukunft. Wenn wir diese Brücke kaputtgehen lassen, dann haben wir sehr viel weniger Zukunft, als wir haben könnten. - Vielen Dank.
Schönen Dank, Herr Reiche. - Wir setzen mit dem Beitrag der DVU-Fraktion fort. Es spricht der Abgeordnete Schulze.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da können Sie, Frau Richstein, und Sie, Herr Reiche, ein noch so wohl klingendes Europa-Loblied anstimmen - die Wirklichkeit spielt eine andere Melodie. Die EU ist in eine tiefe Krise gestürzt. Dem deutlichen Nein Frankreichs folgte das noch deutlichere Nein der Niederländer zur so genannten europäischen Verfassung.
Diese Volksabstimmungen haben der EU einen schweren Schlag versetzt und es herrschen nun Ratlosigkeit und Verwirrung.
Herr Schröder und führende EU-Parlamentarier treten für eine Fortsetzung der Ratifizierung in den übrigen EU-Staaten ein. Fest steht jedenfalls, dass die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs und der Niederlande sich auch nicht von deutschen Politikern beirren ließen, die sich in beiden Ländern auf Wahlkampftour befanden.
Es ist beschämend für die etablierten deutschen Politiker, den Bürgern die Abstimmung über solch wichtige Fragen zu verweigern. Unsere DVU-Fraktion hat an dieser Stelle bereits mehrfach die Stimme für mehr direkte Demokratie erhoben und Volksabstimmungen über alle wichtigen Sachfragen gefordert.
Hätte man das deutsche Volk gefragt, sähe vieles anders aus: Wir hätten noch die harte D-Mark, es gäbe keine Milliardengeschenke an das Ausland und keine Verschwendung von Steuergeldern.
Nun tritt erneut die Diskussion - auch für Sie, Herr Schulze, wichtig - über den Euro auf. Im Nachgang können wir uns gern darüber unterhalten, Herr Schulze, aber jetzt verkürzte ein Dialog mit Ihnen meine Redezeit.
Europas Chefvolkswirt Fels soll in einer Runde mit Finanzminister Eichel und dem Bundesbankpräsidenten davon gesprochen haben, dass der Euro auseinander brechen und von nationalen Währungen abgelöst werden könnte. Im Finanzministerium kursieren demnach Dokumente, nach denen der Euro und seine Folgen den Wachstumsrückstand Deutschlands gegenüber anderen Ländern erklären. Nach neuesten Umfragen möchte die Mehrheit unserer Bürger die D-Mark zurück.
Vor mehr als einem Jahr erfolgte die so genannte EU-Osterweiterung. Eines der Hauptprobleme für die gewaltige Last der Finanzierung - in Zukunft haben die deutschen Steuerzahler sie zu einem unverhältnismäßig hohen Anteil zu tragen - sind die enormen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den alten und neuen Beitrittsländern.
Die Dienstleistungsfreiheit wurde durchgesetzt und Deutschland kann nur noch für einige Bereiche Übergangsregelungen beanspruchen.
Selbstständige aus den Beitrittsländern können sich schon heute in den alten Mitgliedsstaaten niederlassen und ohne Einschränkungen Dienstleistungen in Ausnahmebereichen erbringen. Brandenburgische Unternehmen - insbesondere das Handwerk und die Bauwirtschaft - sind wegen des starken Lohngefälles einem ungleichen Wettbewerb ausgesetzt. Die Beitrittsstaaten nutzen ihre Chancen als Niedriglohnländer. Mit steigender Tendenz werden Unternehmensteile und industrielle Fertigungen bis in die Bereiche von Forschung und Entwicklung hinein abgeworben.
Mittlerweile möchte jedes fünfte Unternehmen seine Produktion nach Osteuropa verlagern. Neben den Löhnen und Sozialabgaben wirkt sich vor allem das Steuerdumping der neuen EU-Länder negativ auf unsere heimische Wirtschaftslage aus. Die effektive Steuerbelastung in Deutschland beträgt 36 %, während sie im Durchschnitt der neuen EU-Länder unter 15 % liegt. Brandenburg wird als Grenzland von dieser Entwicklung besonders hart getroffen; denn Unternehmen, die hier eine Ansiedlung erwogen haben, denken lieber über eine Ansiedlung weiter östlich nach.
Unsere DVU-Fraktion wies immer wieder auf die negativen Auswirkungen der überstürzten EU-Osterweiterung hin. Die Folgen der geltenden Dienstleistungsfreiheit wurden von den etablierten Politikern total unterschätzt. Wir erinnern diesbezüglich an etwa 30 000 Fleischarbeiter, die dadurch arbeitslos wurden. Jeder einzelne Fall ist eine Katastrophe.
Die bei brandenburgischen Unternehmen durchgeführten Umfragen sprechen Klartext. Zwei Drittel der Unternehmen in Ostbrandenburg beklagen negative Auswirkungen auf Umsatz, Gewinn und Beschäftigung. Scheinselbstständige aus den Beitrittsgebieten machen den Einheimischen schwer zu schaffen. Es ist beschämend, wie die PDS-Fraktion die Problematik der Scheinselbstständigen angeht. Sie möchte allen Ernstes dadurch eine Lösung erzielen, dass bereits jetzt in bestimmten Bereichen die Arbeitnehmerfreizügigkeit gestattet wird.
Die etablierten Politiker sollten endlich die wahren Probleme der EU angehen und lösen. - Ich bedanke mich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Vorbemerkung: Ich war überrascht, wie die Kollegen der PDS-Fraktion auf die Mitteilung reagierten, dass der Ministerpräsident heute nicht anwesend sein kann. Die Art und Weise Ihrer Reaktion zeugt von Häme. Ich dächte, dass man sich im Parlament anders verhält. Das möchte ich in aller Klarheit sagen.