Protokoll der Sitzung vom 10.04.2003

immer – nicht von ihren leiblichen Eltern aufgezogen werden können und der Staat hier Verantwortung übernehmen muss, bleibt es dennoch bei dem Grundsatz: Im Vordergrund steht das Kindeswohl! Deshalb waren sich bisher auch alle Fachpolitiker einig, dass die Betreuung von Kindern außerhalb des Elternhauses vorrangig in Pflegefamilien durchgeführt werden soll. Die Kinder können hier erneut Vertrauensbeziehungen aufbauen, sie können hier ihre Rolle als Kind finden und ihre Eltern als natürliche Autoritätspersonen wahrnehmen. Zu diesen positiven pädagogischen Aspekten kommt sogar noch ein positiver finanzieller Aspekt hinzu: Die Unterbringung in Pflegefamilien ist günstiger als die Heimunterbringung. Deshalb hat die rot-rote Koalition auch in ihrem Koalitionsvertrag richtig geschrieben, dass Pflegefamilien gefördert und Heimunterbringung reduziert werden soll.

Nicht allen Kindern ist es vergönnt, in Familien um

sorgt und behütet aufzuwachsen. Die Praxis beschreibt oft andere Bilder: Kinder und Jugendliche können oder dürfen nicht in ihren Herkunftsfamilien bleiben. Eltern, die aus eigener Kraft die Erziehung ihrer Kinder – auch auf Grund besonderer Lebenssituationen – nicht oder nicht ausreichend gewährleisten können, sollen Unterstützung erhalten. Wenn jedoch keine Unterstützung – aus welchen Gründen auch immer greift, bleibt nur noch als letzte Möglichkeit, die Kinder aus ihrer natürlichen Herkunft zu nehmen und sie woanders unterzubringen. Das kann die Vollzeitpflege bei Pflegeeltern oder die Unterbringung in Heimen sein. Das Jugendamt hat gemeinsam mit den Eltern die geeignetste Unterbringungsform zu wählen.

Die vorliegenden Anträge fokussieren alle auf die

Unterbringung insbesondere von kleineren Kindern in Pflegefamilien. Oberflächlich betrachtet scheint es für die Kinder die beste Lösung zu sein, die ohnehin auch die kostengünstigste zu schein scheint. Aus fachlicher Sicht muss man da schon näher hinsehen.

Nicht alle Kinder können in Pflegefamilien unterge

bracht werden, insbesondere dann nicht, wenn sie stark familiengeschädigt sind. Auch muss vor der Entscheidung, Kinder in Familienpflege zugeben, die mögliche Bindungsdynamik eingeschätzt werden. Fremdunterbringung sollte immer nur eine zeitweilige Übergangslösung sein, d. h. es besteht immer das Ziel, die Kinder wieder in ihren Herkunftsfamilien zu integrieren.

Bei der notwendigen Fremdunterbringung von Kin

dern steht an erster Stelle das Kindeswohl und nicht die Kosten, was natürlich nicht heißen soll und darf, das die Kosten außer acht gelassen werden dürfen.

Diese Problematik des Pflegekinderwesen ist ausgie

big im Ausschuss debattiert worden. Meine Aussage, dass ca. 70 % aller fremdunterzubringenden Kinder in Pflegefamilien betreut werden, wurde vom Senator bestätigt.

Selbstverständlich besteht weiterhin Handlungsbedarf,

d. h. es müssen ständig neue Familien gewonnen werden, die bereit sind, fremde Kinder in Pflege zu nehmen. Hier ist die enge und gute Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden weiterhin zu pflegen. Bei der Einrichtung neuer Pflegestellen sind neue Strukturen zu schaffen, da es sich jetzt um bezirkliche Angelegenheiten handelt, auf die der Senat keinen Einfluss hat.

Die jugendpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion,

Frau Müller, startete nun die Kehrtwende, Senator Böger pflichtete ihr bei, die neue Position lautet: keine Gewinnung von Pflegeeltern. Gegen die langjährige Position aller Fachpolitiker, gegen die Verbände und entgegen ihrer Koalitionsvereinbarung – aber im Einklang mit den neuen Einsparvorgaben des Finanzsenators. Den Jugendstadträten hat er – vorbei an Fachsenator Böger – in der vergangenen Woche phantastische Zahlen präsentiert. Die Bezirke sollen zwischen 14 und 45 % ihrer Pflegeeltern abschaffen, durchschnittlich 30 %. Aber das ist noch nicht alles! Gleichzeitig sollen durchschnittlich 50 % der Erziehungshilfen für die Heimunterbringung reduziert werden, das ist nun ganz neu! Denn in der Konsequenz heißt das, sie wollen schlicht die Kinder nicht mehr betreuen! In diesem Sinne hat die Mehrheit des Jugendausschusses mit SPD und PDS auch einen weiteren Berichtsauftrag beschlossen. Dieser Bericht liegt seit 1999 vor, in ihm wird deutlich gefordert, Pflegeeltern zu unterstützen und zu fördern, das sollten Sie tun.

In der heutigen Plenarsitzung haben wir abschließend

über drei Anträge zum Pflegekinderwesen von der CDU und einen Antrag der FDP zu befinden. Alle vier Anträge sind im zuständigen Fachausschuss nach ausführlicher

Eine Nebenbemerkung sei an dieser Stelle gestattet:

Gerade aus dem eben genannten Grund konterkarieren die aus Ihrem Haus, Herr Sarrazin, im Haushaltsrundschreiben vom 1. April verfügten Deckelungen zum Beispiel im Bereich der Vollzeitpflege/Pflegefamilien den von mir fachlich dargestellten Prozess der Umsteuerung im Bereich der Weiterentwicklung im Bereich der Hilfemaßnahmen.

Nun aber weiter: Einschränkend muss aber darauf

verwiesen werden, dass allein durch den Ausbau der Vollzeitpflege eine Heimunterbringung nicht regelmäßig zu ersetzen ist. Wir müssen die Realität anerkennen, dass für Kinder, und das sind nicht wenige, eine Vermittlung in eine Pflegestelle nicht in Betracht kommt. Eine Passgenauigkeit von Pflegekind und Pflegefamilie kann trotz großer Bemühungen nicht immer hergestellt werden. Hier sind andere Formen, andere effektivere Modelle auch unter Einbeziehung der freier Träger gefragt. Im Landesjugendhilfeausschuss wurde darüber informiert, dass bereits seit einiger Zeit das Jugendamt Spandau in enger Kooperation mit einem freien Träger der Jugendhilfe im Bereich des Pflegekinderwesens an einem entsprechenden Modell arbeitet.

Abschließend: Meine Damen und Herren von der

CDU, stimmen Sie mir zu, dass die Situation des Pflegekinderwesens in Berlin nicht lostgelöst von der Gesamtsituation des Bereichs Hilfen zur Erziehung betrachtet werden kann und dass sich Ihre Anträge alle einseitig auf diese Hilfeform beziehen. Das halte ich aus fachpolitischer für unvertretbar. Ihre Anträge haben leider einen Beigeschmack von reiner Polemik. Die Verwaltung und auch die Bezirke sind in Ihrem Handeln schon ein ganzes Stück weiter. Deshalb lehnen wir die Anträge ab.

Beratung abgelehnt worden. Warum? – Ich will Ihnen zwei der Ablehnungsgründe erneut benennen.

Erstens: In Berlin gibt es einen fachpolitischen Kon

sens und zwar parteiübergreifend darüber, das die Betreuung von Kindern außerhalb des Elternhauses vorrangig in Pflegefamilien durchzuführen ist.

In den letzten Jahren wurden viele Anstrengungen

unternommen, um entsprechende Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass in den letzten Wahlperioden dieses Thema immer wieder im zuständigen Ausschuss auf die Tagesordnung gesetzt wurde. So haben wir ausführlich die Mitteilung – zur Kenntnisnahme – „Mehr Kinder in Pflegefamilien“ aus der 13. Legislaturperiode – die Drucksache 13/3983 – beraten. Wir waren uns parteiübergreifend darüber einig, dass die Vollzeitpflege ausgebaut werden muss und das in diesem Zusammenhang alle Rahmenbedingungen neu zu ordnen sind - auch die finanziellen. Ich erinnere daran, dass erst im Jahr 2000 das allgemeine Erziehungsgeld in Berlin von 100 DM auf 350 DM angehoben werden konnte. Berlin hatte über Jahre diesbezüglich einen Nachholebedarf. Diese Erhöhung war längst überfällig.

Meine Damen und Herren von der Opposition, sie

wissen es auch, dass die zuständige Senatsverwaltung zusammen mit dem Landesjugendamt eine Arbeitsgruppe mit den Bezirken eingerichtet hat, die die notwendigen Rahmenbedingungen zur Weiterentwicklung der Hilfe in Pflegestellen klärt. In dieser Ausführungsvorschrift für die Vollzeitpflege sind ebenfalls die notwendigen Strukturveränderungen festzulegen, die zu einer Qualifizierung der Pflegestellen führen. Der Entwurf der Ausführungsvorschrift befindet sich im Internet und wird im Fachkreis – einschließlich der Arbeitsgemeinschaft des LJHA nach § 78 – bereits diskutiert. Diese AV-Vollzeitpflege soll noch in diesem Jahr nach dem Beteiligungsverfahren abgeschlossen werden.

Nun zu einem zweiten Aspekt: In der Koalitionsver

einbarung von SPD und PDS haben wir uns das Ziel gesetzt, im Bereich der Fremdunterbringung von Kindern im Alter bis zum vierten Lebensjahr künftig 80 % in Pflegefamilien vorzunehmen. Das Ziel der vorrangigen Unterbringung von kleinen Kindern in Vollzeitpflege haben wir in Berlin bereits erreicht.

Sehen Sie in die Bundesstatistik, und dann werden Sie

feststellen, dass in Berlin der Anteil von Kindern im Alter bis zu sechs Jahren bereits mit 70 % in Pflegefamilien untergebracht sind. Dieses Ergebnis konnte nur erreicht werden, weil die Bezirke bei der Fremdunterbringung von kleinen Kindern im Rahmen der Hilfeplanung bemüht sind, schnell und vorrangig in Familien und nicht in Heimen unterzubringen. Sie sehen erneut, dass die Bezirke hinsichtlich der Entwicklung dieser Hilfeform den fachlichen Konsens bereits umgesetzt haben. Auf diesem Weg sind die bezirklichen Jugendämter auch weiterhin zu unterstützen.

Die FDP-Fraktion fordert mit ihrem Antrag, die Zahl

der Heimunterbringung von Kindern zu reduzieren und zugleich die Zahl der Pflegefamilien zu erhöhen. Dies ist insofern wünschenswert, da die Unterbringung in Pflegefamilien sich vergleichsweise positiv auf die Sozialisation und psychische Entwicklung des Kindes auswirkt.

Auch die Kosten der Unterbringung in einer Pflege

familie sind gegenüber der Unterbringung in Heimen günstiger. Die Gewinnung von Pflegefamilien in Großstädten ist schwierig; daher kann dies nur in noch engerer Kooperation mit Einrichtungen in freier Trägerschaft gelingen. Nun legte die SPD im Ausschuss dar, dass bereits ca 70 % der Kinder in Pflegefamilien untergebracht seien und damit der Bedarf weitgehend gedeckt ist. Neben den Grünen und der CDU haben wir unsere Zweifel an dieser Prozentzahl.

Frau Müller, ich möchte Sie an Ihren Koalitionsver

trag erinnern, in dem Sie als Ziel formulieren, mindestens 80 % der Kinder unter 4 Jahren nicht mehr im Heim, sondern in Pflegefamilien unterzubringen. Ich dachte, das ist Konsens zwischen den Fraktionen hier im Haus, und bin über Ihre ablehnende Haltung sehr erstaunt. Die Anzahl der Heimunterbringungen steigt und die der Pflegekinder sinkt. Hier besteht Handlungsbedarf, und zwar nicht nur quantitativ mit einem Ausbau der Unterbringung in Pflegefamilien, sondern auch qualitativ. Quantitativ bedeutet für uns, dass die Qualifizierung und Unterstützung der Pflegefamilien ausgebaut werden muss, mehr

Beratungs- und Unterstützungsangebote bereitstehen müssen. Diese beiden Aspekte gehören zusammen!

Es ist nicht nur für die Kinder sinnvoller, in Familien

anstatt in Heimen untergebracht zu werden, sondern es ist auch finanzpolitisch sinnvoll. Die Stellen, an denen es hakt, sind schon seit Jahren bekannt, bereits 1999 wurden die Knackpunkte in einem Bericht festgehalten. Diese sind:

die Notwendigkeit, die Aufgaben der Pflegekinder

dienste wie Beratung und Begleitung der Eltern an freie Träger zu übertragen,

In Sachen Erziehungsgeld hat sich einiges bewegt:

Endlich erhalten Pflegeeltern auch ein Mehr an finanzieller Unterstützung ihrer Arbeit. In den anderen beiden Bereichen hat sich nicht viel getan. Einzelne engagierte Bezirke wie beispielsweise Spandau haben konsequent ihre Aufgaben an freie Träger übertragen und sind damit Vorreiter. Das ist genau die Richtung, in die es gehen soll und die der Senat unterstützen muss.

Die rot-rote Koalition redet einfach von etwas ande

rem als die Opposition – redet aneinander vorbei –, um ein berechtigtes Anliegen der Opposition, die Zahl der Pflegefamilien zu erhöhen, zu Fall zu bringen, und ersetzt das berechtigte Anliegen durch einen Berichtsantrag. In der 14. Wahlperiode mit Datum vom 2. Mai 2000 hat der damalige Senat in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage Nr. 616 auf die Frage, ob es richtig sei, dass in Berlin 28 % der Pflegekinder – Bundesdurchschnitt 40 % – bei Pflegeeltern leben, dem zugestimmt. Auch forderte die rot-rote Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung den Abbau der Heimunterbringung, aber das soll jetzt nicht mehr richtig sein.

Wo ist des Rätsels Lösung? – Ganz einfach: Man

nehme die Mitteilung – zur Kenntnisnahme – Drucksache 13/3983 zur Hand. Dort wird auf Seite 4 ausgeführt, im Jahr 1998 erfolgte 28,6 % Fremdunterbringung in Vollzeitpflege – § 33 SGB VIII – und 71,4 % in Heimerziehung bzw. betreuter Wohnform – § 34 SGB VIII –. Betrachtet man allerdings die Altersgruppe der 0- bis 12Jährigen, so werden 55,3 % fremd untergebracht in Vollzeitpflege und 44,7 % in Heimen bzw. betreuter Wohnform. Betrachtet man allerdings nur die 0- bis 4-jährigen Kinder, wie dies PDS und SPD im verengtem Blick machen, kommt man zu einem Anteil in Pflegefamilien von ca. 70 %.