Lieber Kollege Lindner! Sie haben Amnesty International angesprochen. Heute wurde bekannt, dass Amnesty International die EU wegen ihrer Flüchtlingspolitik kritisiert, die gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Sprechen Sie zukünftig noch mit dem Botschafter der EU in Deutschland?
Ich vergleiche die Kritik von Amnesty International an der EU mit der Kritik, die auch an anderen Staaten geübt wird, und sage: Staaten haben ihre eigenen Interessen. Und Ihre Geisteshaltung ist Blindheit, mein Lieber!
Aber auch die Gesellschaft selbst ist nicht frei von demokratiegefährdenden Macht- und Herrschaftsstrukturen. Schon Kant wusste, dass Abhängige nicht politisch autonom handeln. Und der Liberale John Rawls meinte, gleiche Rechte hätte nur Sinn, wenn sie auch für alle den gleichen Wert hätten. – Schreiben Sie sich das in das Stammbuch, liebe FDP!
Langer Rede kurzer Sinn: Indem die liberale Idee der Staatsbeschränkung sich als demokratische Idee der Mitbestimmung im politischen Willensbildungsprozess ausdrückt, müssen die Bürger des Gemeinwesens hierzu auch materiell in die Lage versetzt werden. Das ist der Kern der Sozialstaatsforderung. Hier setzt die Debatte über die ökonomische Verfassung der Gesellschaft an, und hier stellt sich die Frage nach den sozialen Teilhaberechten, die Sie, liebe Freie Demokraten, in Ihrem Markttotalitarismus gern erodiert sehen möchten.
Fünftens und letztens: Ja, die Linke will einen Systemwechsel, sie stellt die Systemfrage, hin zur Demokratisierung der Gesellschaft,
die die soziale Frage und die Bildung, die Verwaltung oder auch die Setzung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einschließt, die den sozialen Zusammenhalt im umfassenden Sinne als unabdingbare materielle Voraussetzung von Demokratie begreift. Deshalb geht es auch um die Würde und die Emanzipation der Nichtprivilegierten, die bei manchen nur noch als gedanklich schon aus der Gesellschaft expedierte Unterschicht existieren und auf deren Teilhabe man gern und gut verzichten könne – Herr Lindner spricht von Pöbel.
Selbst wenn meine Partei nicht auf alle gesellschaftlichen Probleme eine Antwort hat – wir lassen uns von Ihnen das Nachdenken darüber nicht verbieten. Ja, wir verteidigen die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes, nicht zuerst durch Repression, Überwachung und Tornados, sondern indem wir am normativen Gehalt des Artikels 20 des Grundgesetzes festhalten,
an der Idee materieller Demokratie, die Ihnen ein Fremdwort ist, auch gegen Ihre konservativ-neoliberale Wende.
Herr Lindner möchte offenbar eine Kommission initiieren, die einen Katalog erlaubter und verbotener Formulierungen für die politischen Reden und Parteiprogramme erarbeitet. – Herr Lindner! Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie
und Ihr Laden in den vergangenen 20 Jahren stramm nach rechts marschiert sind, aber das rechtfertigt nicht diese unfassbare Verdächtigung selbst von Teilen Ihres eigenen Erbes.
Die Verfassung ist nicht zu privatisieren, nicht durch Sie und durch niemand anderen. Sie gehört nicht den 7 Prozent – ich will angesichts Ihrer Selbstüberhebung fast sagen, lächerlichen 7 Prozent –, die Sie hier vertreten, und sie lässt es nicht zu, ihren Inhalt auf die politischen Vorstellungen der FDP zu reduzieren. Das Staats- und Gesellschaftsverständnis auf dem Konvent in Herrenchiemsee war dem Ihren um einige Längen voraus, meine Damen und Herren zu meiner Rechten!
Die FDP ist bürgerrechtlich am Ende, da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Vorstellungen, die Sie offenbaren, sind verfassungspolitisch erbärmlich,
staatstheoretisch reaktionär und allein durch Ihren Frust über Ihre relative Bedeutungslosigkeit am vergangenen Wochenende entschuldigt.
Diesen sollten Sie aber getrost mit sich selbst ausmachen. Am 17. Juni waren nicht nur Sie in Stuttgart, sondern offenbar alle von Ihnen.
Sie sollten sich einmal Rechenschaft über Ihre Vergangenheit ablegen. Sie haben die NDPD und die LDPD aufgesogen – keine einzige Auseinandersetzung über das, was Sie sich an Kadern mitgenommen haben.
Einmal ganz unter uns: Die Illusion, die Sie immer nähren, Mitglieder von Blockparteien seien 1989/90 alles Widerstandskämpfer gewesen – darüber lacht man im Osten. – Danke!
Vielen Dank! – Das Wort für die Fraktion der Grünen hat der Kollege Lux. Ich weise schon einmal darauf hin, dass der Regierende Bürgermeister danach um das Wort gebeten hat.
Vielleicht entwickelt sich das noch zu einer spannenden Debatte. – Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Lederer! Ich habe nicht ganz verstanden, wie Sie von „lächerlichen 7 Prozent“ reden können und damit eine Minderheit und eine bestimmte ideologische Richtung diskreditieren und in die Ecke stellen und dann einen langen Vortrag über die Demokratie, über Grundrechte, über Freiheitsrechte halten. Ich glaube nicht, dass Sie von dem, was Sie selbst doziert haben, alles verstanden haben, Herr Dr. Lederer.
Zur Debatte insgesamt: Ich finde diese Verfassungswirklichkeit in Berlin ganz schön. Der Kalte Krieg ist vorbei, wir sind eine wiedervereinte Stadt. Nur hier im Abgeordnetenhaus hat man manchmal noch den Eindruck, dass sich hier ein Block und dort ein gespaltener Block unversöhnlich gegenüberstehen. Was soll das? Wir könnten locker über andere spannende Aktualitäten reden. Ich würde Ihnen einige vorschlagen. Aber Sie machen eine Debatte auf – das versteht keiner. Man kann nur froh sein, dass die Medien nicht mehr anwesend sind. – Herr Gaebler! Sie haben sich wirklich keinen Gefallen getan, auch Herr Dr. Lederer nicht.
Vor lauter Systemwechsel, den Sie der FDP vorgeworfen haben, konnte einem beinahe schwindelig werden.
Noch ein Wort an die FDP und die CDU: Sie wissen selbst genau, wie ungeeignet es ist, den Verfassungsschutz in die Spur zu schicken,
um politisch unliebsame Gegner zu diskreditieren, so wie es der Kollege Henkel und der Kollege Beckstein gerade gemacht haben, so wie Sie es auch suggerieren, Herr Dr. Lindner. Damit erinnern Sie gerade an die unheiligen Methoden, die die Linke – früher PDS, davor SED – gegen politische Gegner genutzt hat.
Damit hat der Verfassungsschutz nichts zu tun. Wir führen diese Auseinandersetzung politisch. Sie können daran glauben, dass wir sie gewinnen werden.
Wir müssen uns doch vor dieser in meinen Augen irrealen neuen Partei im Bund, die sich am Wochenende gegründet hat, nicht fürchten. – Herr Henkel! Fürchten Sie sich nicht!
Hier offenbaren sich Widersprüche, die selbst im klassisch-marxistischen Verständnis unauflösliche Hauptwidersprüche sind. Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel und nehme das beste: Die Linke sagt, sie kenne die Realität der Geringverdiener und sozial Ausgeschlossenen.
Die Forderungen der Linken allerdings, zusammengerechnet in dem gesamten Modell, sind nicht zu finanzieren, sind irreal, man kann sie niemandem versprechen. Sie tun es trotzdem. Das ist ein unauflöslicher Hauptwider
Nein! – Ein Blick in das Programm reicht. Die neue Linke will keinen verfassungswidrigen Staat, die Linke will zurück in die heimeligen 70er Jahre. Sie will einfach nur zurück. Sie ist eine Alte-Herren-Etatistenversammlung. Sie will mehr öffentliche Investitionen. Sie will mehr Geld für jeden. Sie will Geld für alle. – Das ist Lafontaines Traumstaat, in dem Milch und Honig fließen.