Protokoll der Sitzung vom 25.09.2008

Die Angebote gibt es, Herr Mutlu. Die wurden seitenlang in der Beantwortung der Großen Anfrage aufgezählt. – Die Frage ist, warum die Leute das nicht annehmen.

[Özcan Mutlu (Grüne): Sind die Leute jetzt selbst schuld?]

Da müssen wir noch etwas erfindungsreich sein, um sie zur Teilnahme zu bewegen. Es ist für einen Erwachsenen auch nicht so einfach, dort einzusteigen. – Ich danke für die Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Harant! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Abgeordnete Mutlu das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, um zu erfahren, wie sich das tatsächlich mit dem Analphabetismus in der Stadt darstellt. Das Ergebnis war erschreckend. Jeder 15. Berliner über 15 Jahren ist des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Das ist ein wichtiges Alarmzeichen. Sogar die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung gibt in der Beantwortung der Anfrage zu, dass es in Berlin 130 000 Analphabeten gibt.

[Mieke Senftleben (FDP): Das ist auch das Einzige!]

Der Bundesverband Alphabetisierung schätzt ihre Zahl für Berlin sogar auf 164 000. Ich sage: Die Zahl ist weitaus höher, weil die Migranten nicht dazugezählt werden. Natürlich gibt es auch unter ihnen Analphabeten. Es sind sogar sehr viele. Es ist höchste Zeit zum Handeln, Frau Kollegin Harant.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es reicht nicht, dass Sie sagen, wie schlimm die Lage ist, und die Ergebnisse der PISA-Studie darstellen. Sie müssen handeln! Sie sind in der Regierung, und zwar nicht erst seit 2001, sondern bereits davor gemeinsam mit der CDU. Sie haben aber kaum etwas gemacht. Es handelt sich um ein Tabuthema, dessen sich der Senat nicht annimmt. Das ist ein Skandal.

[Beifall bei den Grünen]

Es gibt eine Menge zu tun. Es ist nicht so, liebe Frau Harant, dass die Menschen, die nicht lesen und schreiben können, die zahlreichen Angebote, von denen Sie sprachen, nicht annehmen würden, sondern es gibt kaum Angebote in Berlin. Die Alphabetisierungsarbeit ist in Berlin nicht gesichert. Es gibt auf der einen Seite 164 000 Analphabeten und auf der anderen Seite lediglich 1 500 Stellen in der Alphabetisierungsarbeit. Das ist noch nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich werfe Ihnen vor, in den letzten Jahren und Jahrzehnten untätig gewesen zu sein. Reden Sie nicht, sondern handeln Sie! Es ist höchste Zeit.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Weil es wenig Erkenntnisse zu diesem Thema in Berlin gibt, ist es auch notwendig, eine Arbeitsgruppe beim Senat zu gründen, in der die Expertinnen und Experten der Alphabetisierungsarbeit mitarbeiten, um diesem Problem auf den Grund zu gehen, Erhebungen zur tatsächlichen Lage zu machen und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation zu ergreifen. Das geht nicht ohne Geld. Sie müssen viel mehr Plätze bereitstellen. Ich bin nicht zufrieden, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wie schlimm die Lage ist. Handeln Sie!

[Beifall bei den Grünen]

Die Stadt Dresden hat, weil das Thema so wichtig ist, bereits vor einigen Jahren eine Studie in Auftrag gegeben –

PASS alpha genannt – und daraus Schlussfolgerungen gezogen. Die Stadt Dresden ist in dieser Frage am fortschrittlichsten. Sie hat sehr gute Angebote geschaffen. Davon können wir lernen. Es ist wichtig, dass auch wir wissenschaftliche Erhebungen und Untersuchungen machen. Wir brauchen endlich valide Daten und Hilfsangebote.

Wir dürfen in diesem Zusammenhang das Thema Stigmatisierung nicht vergessen. Menschen, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, trauen sich nicht, darüber zu reden. Sie mogeln sich durch. Diese Leute dürfen nicht alleingelassen werden, sondern es muss niedrigschwellige, zielgerichtete Angebote mit sozialpädagogischem Ansatz geben, mit denen die Leute dort abgeholt werden, wo sie sind. Man darf sie nicht stigmatisieren oder darauf hinweisen, dass sie trotz Schulbesuch usw. nicht lesen und schreiben können.

Das Gutachten, das wir in Auftrag gegeben haben, hat uns gezeigt, was getan werden muss. Wir werden zur nächsten Plenarsitzung einen Antrag vorlegen, in dem enthalten ist, was wir für richtig halten. Es gibt viel zu tun.

Sehr geehrter Herr Mutlu! Ihre Redezeit ist abgelaufen. Kommen Sie zum Schluss!

Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin! – Ich kann nur hoffen, dass wir an dieser Stelle die ideologischen Scheuklappen ablegen und den Menschen, die unsere Hilfe brauchen, diese auch anbieten. – Danke sehr!

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter! – Für die Linksfraktion hat jetzt der Abgeordnete Zillich das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ideologische Scheuklappen abzulegen ist immer gut. Ob aber eine am späten Abend stattfindende Rederunde über eine Große Anfrage hier im Plenum dazu beiträgt, weiß ich nicht. Es ist ein wichtiges Thema, aber es ist ein Thema, das man notwendigerweise kleinteilig diskutieren muss und wo man notwendigerweise in die Details gehen muss. Insofern wäre eine Ausschussberatung sicherlich richtig gewesen. Vielleicht hätte man den Antrag der Grünen und die Große Anfrage der CDU-Fraktion zusammenlegen sollen, um insgesamt darüber zu diskutieren, denn ich bin gespannt auf die Befunde der Grünen.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass das Thema Analphabetismus in den Medien präsent war. Am 8. September war Weltalphabetisierungstag der UNESCO. Solche

Gedenktage sind wichtig, weil sie geeignet sind, den Fokus auf Dinge zu lenken, die nicht ständig im Licht der Öffentlichkeit stehen. Aber unabhängig von solchen Gedenktagen darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Analphabetismus ein Alltagsproblem ist. Die Zahlen sind genannt worden. Man kann sagen, dass für mindestens 130 000 Analphabeten in Berlin die Beteiligungsmöglichkeiten am Leben in der Stadt eingeschränkt sind.

Wenn wir in Berlin und in Deutschland über Analphabetismus reden, geht es weniger um die, die nie die Chance hatten, Lesen oder Schreiben zu lernen. Dieser Analphabetismus ist weltweit nach wie vor ein großes Problem. Aber hier bei uns sind vor allem diejenigen betroffen, die die Schule durchlaufen haben, ohne Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Dieser sekundäre oder funktionale Analphabetismus ist deshalb ein Problem, an dessen Behebung beständig in unterschiedlichen Lebensphasen gearbeitet werden muss. Man kann nicht sagen, wir legen einen Kurs auf, und dann ist es vorbei, sondern es geht um die vorschulische Sprachförderung, wo erste Voraussetzungen geschaffen werden, sowie um die Grundschule und insbesondere um die Schulanfangsphase, aber auch darum, Schritte für diejenigen einzuleiten, bei denen eine nachfolgende Alphabetisierung stattfinden kann, weil es in der Schule nicht geklappt hat.

Mit der schriftlichen Beantwortung der Großen Anfrage liegen Fakten, Begriffsbestimmungen und die Beschreibung von Maßnahmen vor. Es bleibt Folgendes festzuhalten: Erstens ist der Kreis derjenigen, die betroffen sind, relativ groß. Einige sagen 130 000, andere sagen 165 000, und jetzt sind sogar noch höhere Zahlen genannt worden. Der sekundäre oder funktionale Analphabetismus, der uns besonders betrifft, ist kein statisches Problem, sondern ein Problem, das mit wachsenden gesellschaftlichen Bildungsansprüchen – z. B. mit der Notwendigkeit, über PCKenntnisse zu verfügen – auch in ständig neuer Form von Bildungsdefiziten auftritt.

Wir wissen nicht, wie hoch die Zahl der Analphabeten tatsächlich ist. Es gibt keine genauen Untersuchungen. Zu berücksichtigen ist auch, dass viele der Betroffenen verständlicherweise nicht auffallen wollen und entsprechende Strategien entwickeln, um ihr Nichtlesen- und Nichtschreibenkönnen zu verdecken. Zudem ist es wichtig, festzustellen, dass Analphabetismus überwiegend kein Problem mangelnder Intelligenz ist, sondern in hohem Maße den Lebensumständen – der sozialen Lage, der familiären Situation und vielem anderen mehr – geschuldet ist. Analphabetismus hat Ursachen, und die sind bekämpfbar.

Es geht um zwei grundlegende Strategien, die bei der Bekämpfung wichtig sind, nämlich einerseits um die Verhinderung, also Prävention von Analphabetismus, andererseits um Maßnahmen zur nachträglichen Alphabetisierung im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. In erster Linie gefordert ist die Grundschule bzw. die Schuleingangsphase – basierend auf einer verbesserten vorschuli

schen Sprachförderung. Das ist eine Aufgabe, die insgesamt von der Schule gelöst werden muss. Es geht darum, dass man sich verstärkt auf jedes einzelne Kind und sein individuelles Lernen konzentriert. Die Bildungsrückstände im Lesen und Schreiben müssen frühzeitig erkannt werden, damit man rechtzeitig individuelle Fördermaßnahmen ergreifen kann.

[Mieke Senftleben (FDP): Dass das nicht passiert, ist die Schande!]

Damit ist eine Richtung oder eine Entwicklung für die Schule genannt, zu der wir insgesamt kommen müssen.

[Özcan Mutlu (Grüne) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Wenn man sich die PISA- und IGLU-Ergebnisse anschaut, so ist es nicht nur erschreckend, dass ein großer Anteil der Fünfzehnjährigen über sehr mangelhafte Kenntnisse verfügt.

Herr Zillich! Eigentlich ist Ihre Redezeit sowieso gleich um, aber Herr Mutlu würde gern noch eine Zwischenfrage stellen.

Wenn die Zeit um ist, gestatte ich auch keine Zwischenfrage. Ich möchte den Gedanken noch zu Ende führen. – Das Erschreckende ist vor allem, dass sich die Situation derjenigen, die über mangelnde Kenntnisse beim Lesen und Schreiben verfügen, in der Zeit seit der Grundschule – seit dem IGLU-Test – nicht verbessert hat. Die Schule fördert also genau in diesem Zeitraum in dieser Form nicht. Das hat etwas mit Selektion zu tun, hat aber auch etwas mit dem Grundverständnis der Schule zu tun.

Herr Zillich, Sie müssten jetzt zum Schluss kommen!

Ich komme zum letzten Satz: Analphabetismus ist ein wichtiges Thema. Wir sollten es weiterhin beachten, und zwar nicht nur anlässlich von Gedenktagen. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu (Grüne): Dann fangen Sie an, etwas zu tun, statt nur zu reden!]

Für die FDP-Fraktion hat jetzt Frau Abgeordnete Senftleben das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Herren, meine Damen! Liebe, verehrte Frau Harant! Ihre Krokodilstränen, die Sie soeben bei der Rede zu diesem Thema vergossen haben, kann ich überhaupt nicht ernstnehmen, denn die Frage lautet: Wer regiert hier eigentlich?

[Beifall bei der FDP]

Analphabetismus mit Tuberkulose zu vergleichen, das ist mehr als merkwürdig,

[Mirco Dragowski (FDP): Das ist doch krank!]

denn gegen Tbc hilft eine Impfung. Wie sieht es aber beim Abc aus? – Großes Fragezeichen!

[Beifall bei der FDP]

Seit PISA wissen alle, die es wissen wollen, dass es eine beträchtliche Anzahl von funktionalen Analphabeten in unserer Gesellschaft gibt. Gleichzeitig werden Unterschiede zwischen einzelnen Schulen und einzelnen Bundesländern deutlich. Zum gegenwärtigen Stand – ich zitiere –:

in einzelnen Bundesländern knapp 50 Prozent unterhalb der Mindeststandards in Mathematik, in anderen Bundesländern 15 Prozent, Hauptschulen im bundesweiten Durchschnitt mit mehr als 50 Prozent auf niedrigstem Niveau, Gesamtschulen nahe bei 30 Prozent! Das sind Werte, da fällt man vom Stuhl.

So Professor Tenorth! Ich kann nur sagen: Recht hat er, der Professor aus Berlin.