Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Problem der Einzelfallhilfe beschäftigt uns seit einigen Wochen. Ich würde sogar behaupten, dass die meisten von uns auf einer Veranstaltung, auf der wir gemeinsam saßen, überhaupt erst auf das Thema hingewiesen wurden. Das Rundschreiben wurde schon mehrmals angesprochen, und jetzt – so fordern zumindest Grüne und CDU in ihren Anträgen – soll es zurückgenommen werden. Ich teile viele Ihrer Kritikpunkte, was das Rundschreiben angeht. Aber das Problem wird nicht dadurch gelöst, dass man das Rundschreiben einfach zurücknimmt. Ich glaube, dass die Probleme vielschichtiger sind. Herr Hoffmann, ich widerspreche Ihnen auch: Die Probleme beschränken sich eben nicht allein auf Honorarsätze und Arbeitszeitbegrenzung. Aber ich stimme Ihnen zu, diese Arbeitszeitbegrenzung von 18 Stunden in der Woche führt schlicht und ergreifend dazu, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können. Und dagegen stehen wir. Das sagen wir immer, und das müssen wir auch deutlich machen. Und das wollen wir auch deutlich machen.
Deshalb habe ich mich doch sehr darüber gefreut, dass Senatorin Bluhm sich dazu entschlossen hat, die 18-Stunden-Regelung in einem ersten Schritt und sofort zurückzuziehen.
Die Einzelfallhilfe als Leistung der Eingliederungshilfe muss nicht nur gestärkt werden; sie muss auch gestärkt werden, keine Frage, aber wir brauchen ein transparentes System. Das Honorarmodell – ich will mich gar nicht gegen das Honorarmodell aussprechen – bringt viele Probleme mit sich. Die Einzelfallhelferinnen und -helfer arbeiten damit ganz vereinzelt. Sie sind komplett abhängig von den Fallmanagerinnen und Fallmanagern. Zu Recht verweisen die Grünen darauf, dass es keinerlei Qualitätsstandards gibt. Vor allem Letzteres ist eines der ganz großen Probleme, zumindest wenn man die Einzelfallhilfe aus Sicht derjenigen betrachtet, die diese Leistungen nutzen.
Ob das Trägermodell aus Tempelhof-Schöneberg, das hier auch mehrmals angesprochen wurde, der Weisheit
letzter Schluss ist, kann heute niemand sagen. Wir müssen uns die Auswertung der Evaluierung angucken. Es muss geprüft und diskutiert werden.
Ein Punkt, den die Grünen noch in ihrem Antrag hatten, dass die Einzelfallhilfe ein Teil des Psychiatrieentwicklungsplans werden soll, ist umstritten. Auch darüber müssen wir einmal länger diskutieren. Ich glaube, es spricht etwas dafür, aber es spricht auch eine ganze Menge dagegen.
Ich finde es, Herr Hoffmann, und auch da widerspreche ich Ihnen, richtig, dass es die Entscheidung der Senatorin gibt, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen und gemeinsam ein Konzept zu entwickeln. Ich finde das vor dem Hintergrund richtig, dass es eben nicht reicht, Honorarsätze und Arbeitszeiten zu verändern, sondern wir brauchen dort wirklich einen Systemwechsel. Das haben mir zumindest die vielen Gespräche gezeigt, die ich geführt habe. Sie werden sie auch alle geführt haben. Wir haben jetzt vereinbart, dass uns im Frühjahr ein Konzept vorgelegt wird und wir das dann diskutieren. Dazu gehört dann aber auch, dass wir über die Höhe von angemessenen Vergütungen entscheiden, und zwar völlig unabhängig davon, welches Modell oder welches System wir zukünftig wählen. – Danke!
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Einzelfallhilfe ist ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil im System der ambulanten Versorgung psychisch erkrankter und behinderter Menschen.
Diejenigen, die diese Arbeit leisten, erbringen täglich Höchstleistungen. Darum haben sie auch einen Anspruch darauf, dass ihre Arbeit ausreichend gewürdigt wird, auch finanziell. 20 Prozent der Eingliederungsmaßnahmen für psychisch erkrankte Menschen werden über die Einzelfallhilfe erbracht. Damit nimmt sie im Bereich der psychosozialen Versorgung eine wichtige Rolle ein. Trotzdem wird sie weder im Psychiatrieentwicklungsplan widergespiegelt, noch ist sie – Ausnahme im Bezirk Tempelhof-Schöneberg – in die bezirkliche Fallsteuerung einbezogen. Auch die Honorierung der Einzelfallhelfer unterscheidet sich, so z. B. von der der Familienhelferinnen und -helfer. Diese Situation haben wir übrigens mit und ohne das Rundschreiben Nr. 9/2009 der Senatsverwaltung für Soziales.
Ich bin auch gereizt, den Ball aufzunehmen und der von einer linken Politikerin geführten Senatsverwaltung die Förderung prekärer Beschäftigungen vorzuwerfen. Ich
habe nun gehört, dass sich da etwas bewegen wird. Ich bin frohen Mutes an dieser Stelle. Wie immer möchte ich aber sachlich bleiben und mich an den Tatsachen orientieren.
Seit die rot-grüne Bundesregierung den Tatbestand der Scheinselbstständigkeit eingeführt hat, müssen Auftraggeber aufpassen, dass ihre Auftragnehmer sich nicht in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse einklagen können und dass nicht nachträglich von den Sozialversicherungsträgern die Sozialversicherungspflicht festgestellt werden kann. Auch die Bezirke und der Senat sind davon betroffen und stehen in der Pflicht, Vorkehrungen zu treffen, damit keine unerwarteten Kosten auf die sowieso schon belasteten Haushalte zukommen.
Es wird moniert, dass Einzelfallhelfer zukünftig höchstens 18 Stunden pro Woche im Auftrag der Bezirke tätig sein dürfen. Das dürfte an der jetzigen Situation nicht viel ändern. So ist doch bereits jetzt der überwiegende Teil der Einzelfallhelfer nicht länger als 20 Stunden in diesem Bereich tätig. Die meisten arbeiten nebenberuflich oder haben neben der Tätigkeit als Einzelfallhelfer einen oder mehrere Nebenjobs. Prekär dürfte es also bereits jetzt in diesem Bereich zugehen.
Problematisch ist auch, dass die Fluktuation in diesem Bereich sehr hoch ist. Das bedeutet, dass sich die zu Betreuenden oft an neue Bezugspersonen gewöhnen müssen. Auch das hochgelobte, teure Trägermodell im Bezirk Tempelhof-Schöneberg ist letzten Endes ein Honorarmodell. Nur 20 Prozent der dortigen Einzelfallhelfer sind fest angestellt, und den geringsten Teil ihrer Arbeitszeit verbringen diese fest Angestellten mit Tätigkeiten in der Einzelfallhilfe, den größten Teil verbringen sie in anderen Angeboten der Träger. Außerdem bleibt es den Einzelfallhelfern unbenommen, neben den 18 Stunden für die Bezirke auch für Träger oder im Rahmen des persönlichen Budgets tätig zu werden. Ganz nebenbei, das ist ein zusätzliches Argument dafür, die Rahmenbedingungen für das persönliche Budget weiter zu verbessern.
Trotzdem halte ich es für angezeigt, das Rundschreiben nochmals zu überarbeiten. Insbesondere die Frage, wann Scheinselbstständigkeit in der Einzelfallhilfe vorliegt, sollte nochmals überprüft werden.
Insgesamt sollte die Einzelfallhilfe gestärkt werden. Dazu gehören selbstverständlich fachlich-qualitative Standards und eine gerechte Vergütung. Grundsätzlich müssen wir uns fragen, was uns eine qualitativ hochwertige und verlässliche Versorgung psychisch erkrankter und behinderter Menschen wert ist.
In der jetzigen Form scheint es einen erheblichen Optimierungsbedarf in der Einzelfallhilfe zu geben, unabhängig von Träger- oder Honorarmodell, ob mit oder ohne Rundschreiben, beide Anträge geben dazu erste Vorstöße.
Wir sollten diese Fragen sachlich im Ausschuss weiterbehandeln, im Sinne der Betroffenen, der Menschen, die die Hilfe benötigen, und derjenigen, die die Hilfe leisten. – Vielen Dank!
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Lehmann! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Vorabüberweisung der Drucksache 16/2709 hatten Sie eingangs bereits zugestimmt.
Zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2745 empfiehlt der Ältestenrat ebenfalls die Überweisung an den Ausschuss für Integration, Arbeit, berufliche Bildung und Soziales, wozu ich keinen Widerspruch höre.
Den Tagesordnungspunkt 6 d – Priorität der Linksfraktion – haben wir bereits unter der lfd. Nr. 6 a behandelt.
Das ist Tagesordnungspunkt 7. Ich eröffne die I. Lesung. Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die antragstellende Fraktion der FDP. – Herr Abgeordneter Thiel, bitte sehr, Sie haben das Wort!
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Berlin ist ein Tourismusmagnet. Wem sage ich das! Wir freuen uns alle darüber, und auch gerade in diesen Tagen haben wir wieder sehr erfreut und sehr begeistert die vielen Gäste in unserer Stadt begrüßen dürfen. Ich hoffe, dass noch eine ganze Reihe von Gästen verlängert hat und noch unter uns ist. Warum sage ich das? – Wir haben pro Jahr etwa 15 Millionen Passagiere im Flughafen Tegel und 110 Millionen auf dem Hauptbahnhof, einem der größten Kreuzungsbahnhöfe Europas, hier zu begrüßen. Der erste Eindruck unserer Gäste ist sicherlich von unserer Stadt: Herzlich willkommen in Berlin! – außer: in Zukunft an Sonn- und Feiertagen nicht so sehr und nicht so gerne. Warum? – Plötzlich, nach über drei Jahren, taucht das Problem auf: Im Hauptbahnhof sind etwa 80 Geschäfte geöffnet, die gar nicht geöffnet haben sollten. Man überlegt durchzusetzen, dass diese Geschäfte am Sonntag und an Feiertagen geschlossen werden sollen. Wozu wird das führen? – Leere Hallen, entsprechend dem Wetter, graue, nasskalte Atmosphäre, und das ist etwas, was unsere Gäste zuerst von unserer Stadt mitbekommen.
Seit 2006 war das normaler Alltag, die Geschäfte waren offen. Jetzt kommen Bedenken aus dem Landesamt für Arbeitsschutz, aber auch durch das Berliner Ladenöffnungsgesetz. Da ist etwas zu regeln.
Und was machen Sie? – Sie regeln gar nichts, sondern Sie versuchen, auf Zeit zu spielen. Diese Peinlichkeit versteht außerhalb von Berlin niemand.
Wir vergleichen uns ja immer gerne international, aber es wird schon peinlich, wenn wir nur nach Leipzig oder Hamburg schauen. Dort haben wir Öffnungsgesetze – mit Ausnahmen –, die mit Unterstützung der CDU durchgesetzt wurden, und so wirbt Hamburg mit: „Kaufen Sie an 365 Tagen am Hamburger Hauptbahnhof ein – herzlich willkommen!“ In Klammern: so nicht in Berlin. Wenn wir noch einen Schritt weitergehen – schließlich wollen wir in der ersten Liga mitspielen – und z. B. nach London, Paris oder Madrid schauen: Glauben Sie, das irgendjemand versteht, worüber wir uns hier den Kopf zerbrechen? – Ich glaube nicht.
Ich möchte auf zwei Argumente, die sicherlich sehr gewichtig vorgebracht werden, kurz eingehen. Zum einen wird gesagt: Um Gottes willen nicht zu diesem Zeitpunkt, das Bundesverfassungsgericht entscheidet Anfang Dezember über die Rechtmäßigkeit des Ladenöffnungsgesetzes. Sie wissen aber genauso gut wie ich, dass die Richterinnen und Richter sehr genau unterscheiden können, worum es in der Feststellung geht, nämlich, ob die zehn offenen Sonntage in Widerspruch zum Grundgesetz stehen oder ob wir eine Regelung vornehmen, die in anderen Bundesländern vollkommen zur Selbstverständlichkeit gehört. Das sind zwei Paar Schuhe, und mein Vertrauen in die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter ist dergestalt, dass ich davon ausgehe, dass sie das sehr genau unterscheiden werden.
Das zweite Argument, das bestimmt kommen wird, ist die Keule: Das ist ja alles Wettbewerbsverzerrung, wenn wir an Bahnhöfen Geschäften erlauben, zu öffnen. – Wann haben Sie das letzte Mal einen Einkaufsbummel unternommen? Und wann waren Sie das letzte Mal zu einem gemütlichen Einkaufsbummel auf dem Berliner Hauptbahnhof?