Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen, den ich für wesentlich erachte, auf den aber gar nicht eingegangen wird. Was soll eine „ökologische Industriepolitik“ sein? – Das ist nichts weiter als eine Worthülse. Das ist eine Worthülse, die man gut verkaufen kann: Wir machen jetzt eine ökologische Industriepolitik. – Definieren Sie, was daran ökologisch ist. Weshalb nicht eine gerechte, eine gegenderte oder was für eine Industriepolitik auch immer

[Björn Jotzo (FDP): Nachhaltige!]

oder eine nachhaltige? Natürlich, „nachhaltig“ ist auch immer sehr gut. Wenn ich einfach Begriffe zusammenpappe und behaupte, es handele sich um etwas Neues, dann kann ich auch gleich träumen.

Es geht weiter, wenn ich mir den Titel ansehe, mit dem Begriff „Green Economy“. Über Green Economy wird geredet. Ich bin sehr dankbar, dass es gleich zu Beginn der Antwort zu Frage 1 heißt, der Begriff sei unscharf und sei auch nicht vollständig, denn alle Dienstleistungen seien davon ausgenommen. Man kann es mit Umweltwirtschaft übersetzen. Dann machen Sie einen geschickten Sprung und schreiben, Sie redeten gar nicht mehr von Green Economy, sondern von Green Technology – Green Tech. Green Tech orientiert sich nicht mehr an der Produktion, sondern an Leitmärkten. Wenn ich so vorgehe, kann ich alles Mögliche erklären, ohne etwas sagen zu müssen.

[Beifall bei der FDP]

Was wir wollen, ist viel bescheidener, aber nachvollziehbarer. Wir brauchen keine Green-Economy-, wir brauchen keine Green-Tech-Diskussion, was wir brauchen, ist eine vernünftige, in sich widerspruchsfreie Wirtschaftspolitik. Das ist es, was dieser Stadt fehlt.

[Beifall bei der FDP]

Als Letztes, weil man mir anzeigt, dass ich nur noch 60 Sekunden Redezeit zur Verfügung habe, ein Hinweis zu Tegel: Auch hier bin ich sehr nah bei der Antwort auf die Große Anfrage. Zur Frage 11 haben Sie ausgeführt:

Tegel hat das Potenzial, sich als Standort für moderne Industrien und Gewerbe zu entwickeln.

Genau richtig! Wir meinen auch, dass die bestehenden Cluster gestärkt werden müssen, und zwar durch energieeffiziente, emissionsarme Unternehmensansiedlungen. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. Jeder Arbeitsplatz ist uns willkommen. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Thiel! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit ist die schriftliche Beantwortung der Großen Anfrage besprochen.

Ich rufe die lfd. Nr. 4.4 auf, das ist die Priorität der Fraktion der CDU unter dem Tagesordnungspunkt 34,

lfd. Nr. 4.4:

Endlich den Ärztemangel im Öffentlichen Gesundheitsdienst – ÖGD – stoppen!

Antrag der CDU Drs 16/3415

in Verbindung mit

Stichtagsregelung für Einschulungsuntersuchungen einführen

Antrag der CDU Drs 16/3414

Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die antragstellende Fraktion – die CDU. Herr Czaja hat das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen, meine Herren! Bei vielen Bürgergesprächen zur Berliner Gesundheitspolitik stelle ich immer wieder fest, dass viele mit dem Begriff „öffentlicher Gesundheitsdienst“ wenig anfangen können. Kommt man jedoch auf Prävention und Gesundheitsförderung, auf Einschulungsuntersuchungen, Kinderschutzmaßnahmen, Infektionsschutz, Lebensmittelkontrollen und Katastrophenschutz zu sprechen, wird die große Bandbreite des öffentlichen Gesundheitsdienstes schnell deutlich. Wir alle wissen, dass in Berlin mit diesen Begriffen große und immer größer werdende Probleme verbunden sind. Grausame Fälle von Kindesverwahrlosung haben uns aufgewühlt. Die SchweinegrippenPandemie hat die Berliner wochenlang beschäftigt, und auch das Gammelfleisch war für Frau Senatorin Lompscher, die bei dieser Debatte scheinbar nicht anwesend ist – doch, da drüben sehe ich sie –, ein nicht ganz unwichtiges Thema.

[Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Ihre Fraktion ist nicht anwesend! Die sind alle beim Arzt!]

Herr Kollege Albers! Wir wissen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst gestärkt werden muss. Die CDU möchte den öffentlichen Gesundheitsdienst stärken. Wir wollen den engagierten Mitarbeitern die Instrumente in die Hand geben, um die großen Herausforderungen des ÖGD zu bewältigen.

[Beifall bei der CDU]

Auch der Senat war dieser Auffassung. Bereits am Beginn der letzten Wahlperiode hat er die Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den Mittelpunkt seiner Beratungen gestellt. Zahlreiche Gespräche wurden geführt, Experten eingeladen, und es sollte sogar die Opposition eingebunden werden. Aber die Ergebnisse der darauffolgenden Reform waren seit ihrem Beginn heftig umstritten, weil das Sparprogramm und nicht die inhaltliche Stärkung des ÖGD im Vordergrund stand. Bis zur Beschlussfassung des ÖGD-Reformgesetzes wurden insgesamt 1,2 Millionen Euro gespart, die Beratungsstelle für Sinnesbehinderung geschlossen, die Tuberkulosefürsorgestellen bis auf eine abgebaut und der zahnärztliche Dienst für schwermehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche eingestellt. Hinzu kamen die allgemeinen Personaleinsparungen. Von 2 000 Mitarbeitern im Jahr 2004 sind heute in den Berliner Gesundheitsämtern noch 1 500 beschäftigt.

Welche dramatischen Auswirkungen dieser Aderlass auf die Erfüllung der Pflichtaufgaben nach dem Gesundheitsdienstgesetz des Landes hat, sehen wir nun in einem sehr sensiblen Bereich: Vor zwei Wochen wurden 24 000 Kinder in Berlin eingeschult. Kaum eines dieser Kinder hat rechtzeitig – nämlich vorher – eine Einschulungsuntersuchung besuchen können. Durch den Ärztemangel in den kinder- und jugendärztlichen Diensten wurden in keinem der Bezirke die Einschulungsuntersuchungen bis Ende April durchgeführt. Vier Bezirke konnten die Untersuchungen bis Ende Mai abschließen, zwei im Juni, zwei im Juli, und zwei weitere werden es erst im Laufe dieses Monats – also im September – schaffen.

Für die CDU ist dies eine unhaltbare Situation. Wir nehmen uns deshalb dieses Problems an. Wir haben eine Anhörung im Ausschuss beantragt, und die Ergebnisse dieser Anhörung haben zu der heutigen Debatte und zu unserem heutigen Antrag geführt.

[Beifall bei der CDU]

Was ergab die Anhörung? – Die Kollege aus dem Gesundheitsausschuss wissen es: Nach der vom Senat selbst vorgeschlagenen ÖGD-Zielstruktur sind in den bezirklichen Gesundheitsämtern 27,7 Kinderarztstellen nicht besetzt. 10 der 12 Gesundheitsämter sind davon betroffen. Legt man den festgelegten Schlüssel – zwei Ärzte auf 10 000 Kinder – zugrunde, so bedeutet das, dass für ca. 140 000 Kinder und Jugendliche von 0 bis 18 Jahren keine Leistungen nach dem Gesundheitsdienstgesetz erbracht werden können – wie z. B. Einschulungsuntersu

chungen, Kita-Aufnahmeuntersuchungen, Impfungen, Kinderschutzgutachten, Jugendarbeitsschutzuntersuchungen usw.

Ergebnis: Viele Eltern wissen bis heute nicht, ob ihr Kind schulreif ist, und die Schulen konnten keine Vorkehrungen für individuelle Fördermaßnahmen tätigen. Das ist aus unserer Sicht ein denkbar schlechter Schulstart, bei dem negative Folgeerscheinungen vorprogrammiert sind.

[Beifall bei der CDU]

Wir wollen deshalb – als Ergebnis der Anhörung –, dass einerseits verpflichtende Regelungen für den zeitlichen Abschluss der Schuleingangsuntersuchung vor dem Schulbeginn festgelegt werden. Wir haben einen Antrag zu Stichtagsregelung vorgelegt. Und wir möchten, dass die Bezahlung der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst an die Bezahlung der Ärzte in den öffentlichen Krankenhäusern und an die Bezahlung im medizinischen Dienst der Krankenkassen angepasst wird. Wir haben im Ausschuss erfahren, dass wir keine Kinderärzte in den Bezirken bekommen werden, wenn wir dies nicht vornehmen. So sagte die Amtsärztin aus Lichtenberg, dass der Gehaltsunterschied zu der Bezahlung im MDK zwischen 800 bis 1 400 Euro im Monat liegt und deshalb keine Ärzte zu finden sind.

Herr Czaja! Ihre Redezeit ist beendet. Wenn Sie bitte zum Schluss kommen!

Die CDU-Fraktion nimmt sich dieses schwerwiegenden Problems an. Wir wollen das Problem der mangelnden Einschulungsuntersuchung angehen. Unser Antrag bietet Lösungen dafür, und wir hoffen auf eine konstruktive Debatte.

[Beifall bei der CDU]

Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Isenberg das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werter Kollege Czaja! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU! Keineswegs ist die Welt so schwarz, wie Sie sie schwarzmalen. Wir haben 2006 ein ÖGDGesetz verabschiedet, welches den Einstieg in einen modernen öffentlichen Gesundheitsdienst skizziert und Wege aufzeigt, dieses bis zum Jahr 2015 zu erreichen. Die Vorlage einer verbindlichen Zielstruktur für den ÖGD des Landes Berlin ist richtig für diesen Prozess. Seit 2001 hatte der ÖGD immense Anpassungsleistungen zu verwirklichen. Ich erinnere an die Fusion der Bezirke und an die Einführung der Kosten-Leistungsrechnung. Ich e

rinnere daran, dass wir auf die Bedarfslagen besonderer Bevölkerungsgruppen fokussieren, an die Debatten, die wir gemeinsam geführt haben – mit den entsprechenden Resolutionen zum Thema Kinderschutz, Gewaltprävention –, und an die Sozialraumorientierung u. a. auch im Bereich der Jugendhilfe.

Wir wollen – und das ist der moderne Weg eines ÖGD – eine Schwerpunktbildung: Weg von einem individuellen Einzelfall hin zu einem bevölkerungsbezogenen Ansatz, der sozialkompensatorisch ist, sich speziell an den Menschen ausrichtet und die Voraussetzungen für Teilhabe und Chancengleichheit liefert! Dazu ist eine einheitliche Struktur in allen 12 Bezirken gewährleistet worden. Wir haben Zentren gebildet und gebündelt – beispielsweise die Ressourcen für Sinnesbehinderte, für Tuberkulose und anderes neben den Landesämtern. In diesem Prozess, der eingeleitet worden ist, kommt es darauf an, dieses auch so zu gestalten, dass dabei Effizienzgewinne ermöglicht werden. Es ist ein Einstieg bis 2015. Wir haben begleitende Initiativen wie das Gesundheitsdienste-Zuständigkeitsgesetz, die Kindertagesstätten-Untersuchungsverordnung und Weiteres verabschiedet.

Die vorliegende verbindliche Zielstruktur ist ein Erfolg. Sie ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg hin zum Jahr 2015. Wir haben teilweise Stellenverbesserungen realisiert und insbesondere – das ist das Wichtige – auch für die Beschäftigten im ÖGD Planungssicherheit gewährleistet. Ich möchte mich an dieser Stelle auch für meine Fraktion bei den vielen Hunderten Beschäftigten bedanken, die diesen Reformprozess mitgemacht haben, die tagtäglich hochmotiviert beim ÖGD ihren Dienst verrichten und einen substanziellen Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit in dieser Stadt leisten.

[Zuruf von Kai Gersch (FDP)]

Ihre Bedenken in Bezug auf die Schuleingangsuntersuchung sind ein interessantes Beispiel dafür, dass es im Prozess der Umsetzung noch hapert. Wir als SPD – das waren ja nicht Sie – haben in die Anhörungsbesprechung den Antrag mit hineingebracht und im Ausschuss dieses Thema mit zur Diskussion gestellt. Es ist in der Tat nicht schön, dass einzelne Bezirke in der Umsetzung ihrer Aufgaben Anfang des Jahres offensichtlich noch nicht so weit gekommen sind, wie sie hätten kommen können. Wir haben als Instrument Zielvereinbarungen mit den Bezirken. Wir wollen die Prioritäten in den Bezirken für Einstellungen auch im öffentlichen Gesundheitsdienst weiter erhöhen. Im Übrigen werden wir uns im Ausschuss auch weiter gemeinsam über fachspezifische Einstellungskorridore unterhalten, die es vielleicht den Bezirken noch besser ermöglichen, hier tätig zu werden.

Sie von der CDU hingegen sagen, es braucht nur mehr Geld. Das ist zu einfach. Ja, es ist richtig, die Bezahlung im ÖGD ist im Vergleich zu anderen ärztlichen Dienstleistungen nicht so hoch, wie es sonst der Fall ist. Aber dass gerade Sie von der CDU, die Sie sonst keinen Mindestlohn einführen wollen und mit Ihrer Sozialpolitik auch auf Bundesebene dazu beitragen, dass die sozialen

Lebenslagen für die Menschen in dieser Stadt schlechter werden, jetzt sagen, Sie brauchen mehr Geld für die Ärzte, ist auch nicht der richtige Ansatz.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Im Übrigen ist das Berufsbild fantastisch geeignet für jeden, der Familie und Erwerbsarbeit mit einer ärztlichen Angestelltentätigkeit in Verbindung bringen möchte. Lassen Sie uns gemeinsam im Ausschuss mit den jeweiligen Fachverbänden eine Diskussion starten, wie dieses Berufsbild aufgewertet werden kann! Lassen Sie uns unsere Ressourcen, die wir in der Hochschullandschaft haben, einbringen und weiter mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst verschränken, damit die angestellten Ärztinnen und Ärzte noch mehr als bisher versorgungs- und forschungsmäßig im Public-Health-Bereich tätig sein können, das Berufsbild sich weiter professionalisiert und eine erhöhte Attraktivität bekommt in Ergänzung zu einer Diskussion über sicherlich auch notwendige Gehaltsveränderungen, die aber sicher nicht so hoch ansteigen können. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]