Protokoll der Sitzung vom 22.05.2014

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Beifall von Anja Kofbinger (GRÜNE)]

Aber ich glaube, das spiegelt auch ein Problem wider, dem wir uns alle gemeinsam stellen müssen.

Vielen Berlinerinnen und Berlinern – leider auch hier im Haus – scheinen die EU, Brüssel und Straßburg weit weg zu sein. Die Regelungen, die da gemacht werden – es sind die Gurken angesprochen worden, und die finden Sie erstaunlicherweise auch in den Reden vieler Kandidatinnen und Kandidaten –, sind selbst, wenn sie auf Deutsch im Internet verfügbar sind, für viele Menschen oft unverständlich. Das ist, so meine ich, gewollt von denen, die in Brüssel und Straßburg den Ton angeben, und das sind zuerst die nationalen Regierungen der 28 Mitgliedsstaaten. Wenig überraschend spielen die Regierungschefs der großen Länder eine gewichtige Rolle.

So plakatiert die Union – Mitglied der EVP – ehrlicherweise zwar in Deutschland Angela Merkel zur Europawahl, die Mitgliedspartei der EVP in Griechenland, die Nea Dimokratia, hätte wohl ein erhebliches Mobilisierungsproblem damit.

[Beifall bei der LINKEN]

Eigentlich wählen wir auch kein Europäisches Parlament – das muss einmal gesagt werden –, sondern 28 Teilparlamente, die nach 28 Wahlrechten in 28 Mitgliedsländern gewählt werden und in Brüssel und Straßburg als ein Parlament zusammentreten.

Auf der anderen Seite erleben wir einen Wahlkampf, der eher Fragen hinterlässt als beantwortet. Die Union, also die CDU, gibt bekannt, dass alles schon werde. Die SPD kämpft für Mitbestimmung und Partizipation, aber wahrscheinlich nur auf europäischer Ebene. Die Grünen sind für Klimaschutz, und die Piraten können nicht, wenn jemand zuschaut. – Ah ja!

Dass es am Sonntag um eine wichtige Entscheidung geht, dass die Stimme der Bürgerinnen und Bürger Gewicht hat, dass es um nichts weniger als um den zukünftigen Weg der EU geht – – Wo finden die Bürgerinnen und Bürger diese Informationen? Das Parlament, das wir am Sonntag wählen, wird beispielsweise über die Frage entscheiden müssen, ob die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA weiterverhandelt werden bzw. in Kraft treten oder nicht. Ich würde mich da von wohlfeilem Wortgeklingel nicht beirren lassen. Während die SPD verkündet, sie lehne ISDS, den undemokratischen Investorenschutz, ab, stimmte sie am 16. April im Europaparlament einer Entschließung zu ISDS zu. Während die CDU uns mit Wohlstand und Arbeit bezirzt, zwingt ihre Politik im Süden Europas ganze Volkswirtschaften in die Knie und beraubt die Menschen, zum Beispiel in Griechenland, ihrer Zukunft. Glauben Sie denn im Ernst, eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent sei eine Bagatelle? Jede Familie in Griechenland hat die Hoffnungslo

sigkeit und die Zukunftsangst im Haus. So etwas zerstört eine Gesellschaft nachhaltig, und dem gilt es, ein Zeichen der Solidarität entgegenzusetzen.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Anja Kofbinger (GRÜNE) – Beifall von Alexander Spies (PIRATEN)]

Und dass die Freihandelsabkommen sehr wohl mit Berlin, mit uns, den Berlinerinnen und Berlinern, zu tun haben, will ich an einem Beispiel deutlich machen. Wir reden hier in der Debatte in der Stadt über Flüchtlinge, die auf der Suche nach einem sicheren Leben, Wohlstand und einer Zukunft für sich und ihre Familien hier herkommen. Diese Flüchtlinge verlassen ihre Heimat nicht aus freien Stücken, sondern sie werden durch Kriege und Unterentwicklung gezwungen. Deshalb ist es notwendig, Fluchtursachen zu bekämpfen und zu den Freihandelsabkommen Nein zu sagen, die auf der einen Seite den Wohlstand in einigen Ländern erhöhen, während sie die Unterentwicklung und Armut in Subsahara-Afrika und Lateinamerika verstärken. Deshalb ist es wichtig, wählen zu gehen. Es hat eben auch Auswirkungen auf unsere Stadt.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN – Beifall von Sabine Bangert (GRÜNE)]

Nicht nur in Griechenland, sondern auch hier wenden sich Menschen von der EU und ihren Institutionen ab, weil sie allzu oft als Vorwand gebraucht werden. Viele Menschen hören oft: Wir können da leider nicht helfen. Die EU verbietet das. – Das ist feige, meine ich. Diese Regelungen der EU sind ja nicht vom Himmel gefallen. Die Feiglinge selbst haben diese Regelungen in Nachtsitzungen verabredet. Auch diese Feigheit, dieses Zeigen mit dem Finger nach Brüssel ist antieuropäisch und nicht der Protest dagegen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Wir treten als Linke für ein Parlament mit allen Rechten in der EU ein. Wir können wir das, wenn wir beim Beklagen der aktuellen Zustände bleiben? Wenn wir denen, die die EU und ihre Gründungsidee des Friedens und der Solidarität, der gemeinsamen Kultur, der Völkerverständigung und der Freiheit für ihre Zwecke missbrauchen, das Handwerk legen wollen, müssen wir zur Teilnahme an der Wahl ermutigen. Nur ein starkes und selbstbewusstes Europaparlament kann seine Stimme laut und deutlich erheben. Stärke und Selbstbewusstsein wachsen aber nicht auf einer niedrigen Wahlbeteiligung.

[Beifall]

Sie, liebe Berlinerinnen und Berliner, haben es in der Hand. Ihre Stimme entscheidet. Sie entscheidet nach dem Wegfall der 3-Prozent-Hürde auch, wie viele Stimmen in Deutschland notwendig sind, um einen Sitz, aber auch zwei oder drei zu bekommen. Ich will, dass von unserem Berlin ein klares Signal ausgeht. Nazis und Rechtspopulisten haben in unserer Stadt keine Chance.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall den PIRATEN]

Ob sie eine Chance haben, entscheiden Sie, liebe Berlinerinnen und Berliner mit ihrer Stimme für demokratische Parteien. Wenn Sie zu Hause bleiben, haben die Stimmen anderer für Nazis und Rassisten mehr Gewicht, oder, anders gesagt: Schlechte Politiker werden von guten Menschen gewählt, die nicht zur Wahl gehen.

Wir in Berlin haben nichts zu verschenken, unsere Stimme erst recht nicht. Deshalb gilt am Sonntag: Geht wählen, Nachbarn!

[Beifall]

Vielen Dank, Herr Schatz! – Für die CDU-Fraktion hat nun das Wort Frau Abgeordnete Bentele. – Bitte sehr!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 35,1 Prozent! Diese Zahl treibt mich um. Diese Zahl treibt mich an. Diese Zahl trieb mich in den letzten Wochen fast täglich hinaus an die Informationsstände, in Diskussionsrunden und vor Mikrofone, um zu werben, zu werben für die Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament am kommenden Sonntag. In Berlin haben 2009 nur 35,1 Prozent der 2,74 Millionen Wahlberechtigten, das waren 869 339 Menschen, an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilgenommen. Das ist ein Rekordtiefststand und kann eine Parlamentarierin und Demokratin eigentlich fast zum Verzweifeln bringen. Diese mickrigen 35,1 Prozent sind sicherlich auch der Hauptgrund, weshalb wir heute auch einen Allparteienantrag vorliegen haben.

Wir kämpfen gemeinsam dafür, dass die Bedeutung des Europäischen Parlaments, der einzigen direkt demokratisch legitimierten Institution in der Europäischen Union, besser gekannt, bekannt und auch anerkannt wird. Das Europäische Parlament ist die Institution, die durch jede Vertragsänderung an Kompetenzen hinzugewonnen hat. Kein europäisches Gesetz, kein EU-Haushalt kann heute ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen werden. Das ist ein enormer Fortschritt, wenn man sich die Anfänge des Parlaments vor 60 Jahren vor Augen führt.

Bei dieser Wahl kommt noch ein weiterer interessanter Aspekt dazu. Aufgrund einer unterschiedlich interpretierbaren Formulierung in Artikel 17 des Lissaboner Vertrags können Sie, sehr geehrte Wählerinnen und Wähler, den Machtpoker zweier Institutionen, zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat um die Besetzung des Postens des Kommissionspräsidenten durch Ihre Wahlentscheidung mit beeinflussen. Der Europäi

sche Rat wird nicht umhin können – davon bin ich als Parlamentarierin fest überzeugt –, einen Spitzenkandidaten, der bei den Wahlen sehr gut abschneidet und eine Zweidrittelmehrheit hinter sich versammeln kann, auch für das Amt des Kommissionspräsidenten vorzuschlagen.

Durch die Teilnahme an der Wahl stärken wir also nicht nur der einzig demokratisch legitimierten Institution in der EU den Rücken, sondern wir werden durch diese Wahl auch zu einer ersten Demokratisierung der Europäischen Kommission kommen. Wir Wählerinnen und Wähler haben es also in der Hand, ob es in der EU mit einem starken, selbstbewussten Parlament und einem politischen Kopf an der Spitze der Europäischen Kommission weitergeht, oder ob durch eine geringe Wahlbeteiligung und eine weitere parteipolitische Aufsplitterung die Mitgliedsstaaten gegenüber dem Parlament an Hoheit gewinnen werden und dadurch die nationalen Interessen gegenüber den europäischen.

Neben den genannten grundsätzlichen Gründen, an der Europawahl teilzunehmen, gibt es aber auch noch eine Reihe ganz konkreter, handfester Gründe, weshalb die Europäische Union und damit die Arbeit des Europäischen Parlaments positive Auswirkungen für uns Berliner hat. In jedem Bezirk gibt es aus EU-Mitteln geförderte Projekte für nachhaltiges und besonders innovatives Wirtschaften, zum sozialen Zusammenhalt oder zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. In der letzten sechsjährigen Förderperiode hat Berlin insgesamt 1,2 Milliarden Euro zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung bekommen. Tausende Berliner Studenten nehmen an den Austauschprogrammen der Europäischen Union teil. Für die Berliner Hochschulen sind die EU-Forschungsmittel inzwischen ein wichtiger Bestandteil ihrer Finanzierung. Europa entfaltet seine positiven Wirkungen also ganz konkret vor Ort. Wer möchte, dass diese Politik der solidarischen Unterstützung weitergeht, der sollte dies an diesem Sonntag durch die Teilnahme an der Wahl auch zum Ausdruck bringen.

[Allgemeiner Beifall]

Ich habe mit einer Zahl angefangen und möchte mit einer Zahl schließen, denn es gibt eine zweite, die mir nicht aus dem Kopf geht. 25 Prozent soll der Front National in Frankreich laut der letzten Umfrage bei der Europawahl bekommen. Damit würde der fremdenfeindliche Front National stärkste Kraft. Nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Niederlanden, in Ungarn, in Griechenland gibt es zunehmend politische Bewegungen, die die Werte der EU infrage stellen und das Europäische Parlament nicht zur Mitgestaltung nutzen, sonders es paralysieren wollen. Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Wählerinnen und Wähler! Ich bin nicht dafür, dass wir diese Entwicklungen ignorieren und uns inhaltlich überhaupt nicht damit auseinandersetzen. Dadurch, dass wir in diesem Jahr zum ersten Mal Ansätze einer europäischen Kampagne haben, werden uns die politischen Probleme in den anderen EU-Mitgliedsstaaten auch stärker bewusst.

(Carsten Schatz)

Wir müssen uns mit dem Politikversagen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Migration oder der Kriminalität auch in den anderen EU-Mitgliedsstaaten auseinandersetzen.

Ich bin aber trotzdem der Ansicht, dass ein Abgeordnetensitz im Europäischen Parlament zu wertvoll ist, um ihn Europafeinden zu überlassen. Ein deutscher Europaparlamentarier repräsentiert rund 850 000 Bürger. Das ist eine sehr hohe Verantwortung. Deshalb appelliere ich zum Schluss auch ganz eindringlich an Sie, diese Wahl auch dazu zu nutzen, den EU-Feinden die rote Karte zu zeigen, und die pro-europäischen Kräfte im Europäischen Parlament zu stärken. – Ich danke Ihnen!

[Allgemeiner Beifall]

Vielen Dank, Frau Bentele! – Für die Piratenfraktion hat jetzt das Wort der Herr Abgeordnete Spies. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allem, liebe Berlinerinnen und Berliner! Die Zukunft Europas ist in Gefahr. Mit diesem Satz begann der Parlamentspräsident Martin Schulz vor zwei Jahren seine Berliner Rede. Er hat nichts an Aktualität eingebüßt. Wir stehen vor wichtigen Entscheidungen. Wir stehen davor, dass wir vielleicht wieder in nationalstaatliche Egoismen zurückfallen und möglicherweise auch wieder europäische Bürgerkriege wie im vergangenen Jahrhundert möglich werden.

Das alles wollten Sie, liebe Berlinerinnen und Berliner, und die Bürgerinnen und Bürger Europas nach dem Zweiten Weltkrieg verhindern. Denn das europäische Projekt ist und war immer ein Projekt der Bürgerinnen und Bürger.

Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, dass wir hier im Abgeordnetenhaus als Vertreter der Berlinerinnen und Berliner uns an Sie, liebe Wählerinnen und Wähler, wenden. Sie sollen wissen, dass sich alle Parteien und alle Fraktionen hier im Abgeordnetenhaus für den Fortschritt des europäischen Projekts einsetzen.

[Allgemeiner Beifall]

Aber was ist mit Ihnen, liebe Berlinerinnen und Berliner? Sind Sie noch begeistert von Europa? Brennen Sie für die europäische Idee? Ich möchte dafür werben. Ich möchte, dass Sie alle zu den Europawahlen gehen und dies durch Ihre Stimme bekunden, dass Sie möchten, dass dieser europäische Fortschrittsprozess weitergeht, dass wir in Zukunft mehr Solidarität in Europa haben und weniger nationalstaatliche Egoismen eine Rolle spielen.

[Allgemeiner Beifall]

Letztlich sind es auch solche Egoismen, die zeitweise den europäischen Prozess lähmen und die dazu führen, dass Sie sich leider immer mehr von Europa abwenden. Und wenn Sie die Entwicklungen bedenken, also auch die, die von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern angesprochen worden sind, die Gefahr, dass das Europäische Parlament mit sehr vielen Abgeordneten, die antieuropäisch eingestellt sind, in die nächste Legislaturperiode zieht, dann ist das auch eine große Gefahr für Europa; denn das Europäische Parlament ist in der nächsten Legislaturperiode gestärkt, es hat mehr Mitspracherechte, es bestimmt tatsächlich über vieles, was die Zukunft Europas betrifft und was auch Sie, liebe Berlinerinnen und Berliner, im Alltag betrifft. Und das wissen wir hier im Abgeordnetenhaus, denn wir beschäftigen uns auch mit der europäischen Gesetzgebung.

Das sind viele Dinge, die Berlin zugutekommen. Sie wissen vielleicht nicht, dass auch wir sehr viel von dem Europäischen Sozialfonds, von dem Europäischen Regionalfonds, profitieren und dass das auch ein Ausdruck der gemeinsamen europäischen Politik ist, die auf Solidarität gegründet ist.

Auch die Probleme, die wir in anderen EU-Mitgliedsländern haben, müssen uns etwas angehen. Wir können es nicht zulassen, dass wir hier im industriellen Kern wirtschaftlich sehr stark von dem gemeinsamen Markt profitieren, aber gleichzeitig die Peripherie anderer Staaten abgehängt wird.

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Genau darum wird es in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments gehen. Deshalb brauchen wir im Europäischen Parlament die überzeugten Europäerinnen und Europäer, die Sie, liebe Berlinerinnen und Berliner, dort repräsentieren. Sie haben es in der Hand, sie am kommenden Sonntag zu wählen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

[Allgemeiner Beifall]

Vielen Dank, Herr Spies! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Anträge Drucksachen 17/1633 und 17/1665 sind nunmehr zurückgezogen worden. Wer dem Antrag aller fünf Fraktionen, Drucksache 17/1668, zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der SPD, der CDU, Bündnis 90/Die Grünen, die Linksfraktion, die Piratenfraktion und der fraktionslose Abgeordnete. Gegenstimmen? – Eine Gegenstimme aus dem Kreis der Piratenfraktion! Enthaltungen? – Eine Enthaltung aus dem Kreis der Piratenfraktion! Dann ist dieser Antrag so angenommen.

(Hildegard Bentele)

Mir wurde signalisiert, dass für eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten gem. § 72 unserer Geschäftsordnung der Abgeordnete Lauer das Wort wünscht. – Bitte sehr!

Christopher Lauer (PIRATEN) [Erklärung zur Abstimmung gemäß § 72 GO Abghs]: