Protokoll der Sitzung vom 19.06.2014

Keiner in diesem Saal will irgendjemand irgendwo „verrecken“ sehen. Unverschämtheit, kann ich da nur sagen.

[Beifall bei der CDU – Beifall von Raed Saleh (SPD) – Zurufe von den PIRATEN]

Sie haben mir anscheinend nicht zugehört oder sich mit anderen Dingen beschäftigt. Mag ja sein. Ich habe sehr wohl gesagt, dass die Zahl steigt und dass wir hier Schwierigkeiten haben. Wenn Sie mit den Fachleuten reden – wir hatten gestern z. B. bei der überparteilichen

Fraueninitiative eine wunderbare Veranstaltung mit vielen Frauen und Experten und Expertinnen zu diesem Thema –, so sagen viele, dass das Hilfesystem in Berlin durchaus sehr gut ist. Man muss es auch nicht schlechtreden, und darin, dass wir es verbessern und das Angebot erweitern müssen, sind wir uns, glaube ich, alle einig. Ich bitte deshalb, da mit etwas Augenmaß und auch mit einer angemessenen Wortwahl heranzugehen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Vielen Dank! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der Abgeordnete Beck.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Damen und Herren! Wiederholt haben wir in den letzten Jahren über die Situation der Obdachlosen in unserer Stadt diskutiert und Verbesserungen für die Ärmsten in unserer Gesellschaft vorgeschlagen. Passiert ist leider sehr wenig, und die Probleme für die Betroffenen wachsen. Herr Senator Czaja scheint sich mehr für die Gewinnmargen in der Gesundheitswirtschaft zu interessieren, als seinen Beitrag zur Bewältigung der Wohnungsnot leisten zu wollen. Die unrealistischen Richtwerte der Wohnaufwendungenverordnung verdrängen einkommensschwache Familien an den Stadtrand. Auch Menschen mit Einkommen werden gezwungen, ihren Innenstadtkiez zu verlassen, und landen häufiger in Wohnheimen. Eine Wohnungslosenstatistik wird nicht für nötig gehalten, und die veralteten Leitlinien zur Wohnungslosenhilfe werden nicht den aktuellen Verhältnissen angepasst. Der Zustrom von osteuropäischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen wird ignoriert. Die Gewerkschaften versuchen regelmäßig, auf den Missbrauch von Arbeitskräften hinzuweisen, die zu Hungerlöhnen auf vielen Baustellen arbeiten müssen. Erst wenn sie auch noch aus ihren provisorischen Behausungen geworfen werden, nimmt die Öffentlichkeit davon Notiz. Präventive Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit werden nicht ernsthaft unterstützt. Erst wenn die Menschen im Hilfesystem für Wohnungslose gelandet sind, beginnt der Senat zu agieren.

Kleine positive Maßnahmen konnten wir mit durchsetzen. Es gibt mehr Plätze in der Kältehilfe, obwohl immer noch viel zu wenige vorhanden sind. Es gibt mehr Plätze für obdachlose Frauen und auch minimale psychologische Unterstützungsangebote. Bei der dramatischen Entwicklung in den letzten Jahren sind das jedoch nur kleine Trostpflaster. Zum Glück gibt es viele Menschen, die sich freiwillig in Projekten engagieren, um den Schwachen in unserer Gesellschaft zu helfen. Vielen Dank an alle Berlinerinnen und Berliner, die aus Nächstenliebe ihre zeitliche oder finanzielle Unterstützung anbieten!

[Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Joachim Krüger (CDU) und Alexander Spies (PIRATEN)]

Für die politische Verweigerung, mehr professionelle Hilfen anzubieten, kann ich keine vernünftige Erklärung finden. Lieber Herr Kollege Spies! Also bleiben Ihrer Fraktion auch wieder einmal nur kleinteilige Verbesserungsvorschläge für eine komplett verfehlte Politik. Ihr Engagement ehrt Sie.

[Beifall von Martin Delius (PIRATEN)]

Auch unsere Fraktion setzt sich für adäquate Standards in Berliner Obdachlosenunterkünften ein. Erst jüngst haben wir darauf hinweisen müssen, dass einige vertragsfreie Unterkünfte die Aufnahme ausländischer Wohnungsloser verweigert haben.

[Martin Delius (PIRATEN): Unerhört!]

Wie kann es sein, dass solche Betreiber weiter belegt werden, weil die Verwaltung keine anderen Anbieter finden kann?

Es ist an der Zeit, endlich den Mitarbeiterstamm in diesen Bereichen von Stellenkürzungen auszunehmen und bei Bedarf auch aufzustocken. Nur dann sind eventuell einige der Forderungen aus dem Antrag der Piraten umsetzbar. Eine Abschaffung vertragsfreier Unterkünfte halte ich in naher Zukunft für nicht realistisch. Fragen Sie mal in den Bezirksämtern nach, Herr Spies! Wir brauchen aktuell nicht primär mehr Kontrollen, sondern überhaupt geeignete Gebäude, und datenbasierte Prognosen kann der Senat nicht erstellen, weil er schon keine statistischen Erhebungen durchführen will. Unser entsprechender Antrag scheiterte an den Regierungsfraktionen. Also arbeiten wir Oppositionsparteien weiterhin hartnäckig an ins Leere laufenden Anträgen, die im Ausschuss von der sozialen und christlichen Koalition versenkt werden.

[Martin Delius (PIRATEN): Ist nicht so schlimm, nicht locker lassen!]

Ich bin mir sicher: Fortsetzung folgt garantiert.

[Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Vielen Dank, Herr Beck! – Für die CDU-Fraktion hat nun das Wort der Herr Abgeordnete Krüger. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre ja schön, wenn man mit ein paar starken Worten und ein paar Federstrichen die Problematik aus der Welt schaffen könnte, aber so lange, wie ich mich mit Politik beschäftige, haben wir diese Thematik, und wir werden immer wieder daran gemessen werden, wie wir im Einzelnen mit ihr umgehen.

(Ülker Radziwill)

Für die CDU-Fraktion stelle ich fest: Der Senat bemüht sich regelmäßig, aktuelle Erkenntnisse über die, wie wir alle wissen, wachsende Zahl von Wohnungslosen zu gewinnen. Selbst Sie weisen in Ihrer Begründung ja auf Senatsquellen und auf Äußerungen von Staatssekretär Gerstle hin. Seit Januar 2014 existiert die Regelung zur anonymisierten Datenermittlung über bezirklich untergebrachte Personen und Haushalte gemäß ASOG. Ich denke, dass das ein wichtiger Schritt ist, denn da können gesicherte Zahlen zumindest ermittelt werden. Trotz allem muss ich immer wieder feststellen: Prognosen bleiben ungenau, und sie machen die Planung nicht immer leichter.

[Martin Beck (GRÜNE meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein! Ich möchte im Zusammenhang sprechen. Wir werden im Ausschuss sicherlich intensiv die Thematik weiterdiskutieren.

An der Zuständigkeit der Bezirke bei der Unterbringungspflicht Wohnungsloser – und dazu gehört auch die Kontrollpflicht – soll nach Auffassung beider Partner – der Bezirke und des Senats – nichts Grundlegendes geändert werden. Nichtsdestoweniger erkennen wir an – und das habe ich hier an dieser Stelle auch schon mehrfach gesagt –, dass es sich hierbei um eine Aufgabe mit gesamtstädtischer Bedeutung handelt. Die Zurverfügungstellung der Buchungssoftware für Unterbringungsplätze, wie es der Senat in Abstimmung mit den Bezirken gemacht hat, war ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Auch die Mängelermittlung und die Mängelbeseitigung bei ASOG-Einrichtungen gehören in diese Verhandlungs- und Diskussionsebene. Das neu geschaffene Kooperationsgremium zwischen den Bezirken und der Berliner Unterbringungsleitstelle ist ja eben schon angesprochen worden. Das soll – und diese Aufgaben werden wir natürlich genau überwachen – Themen wie die Begehungsrichtlinien und die Mindeststandards bearbeiten. Auch die Zielgenauigkeit der Beratung wird hier mit in den Dialog zwischen dem Senat und den Bezirken eingebunden sein, und wir werden das genau beobachten.

Richtig ist die Tendenz, mehr vertragsgebundene ASOGEinrichtungen und weniger vertragsfreie Unterkünfte zu wollen. Aber, liebe Freunde, das lässt sich natürlich sehr leicht sagen – unter zwei Aspekten: Wir dürfen erstens nicht übersehen, dass die Bezirke auch mit Senatshilfe jetzt schon auf große Schwierigkeiten stoßen. Stichwort: Immobiliengewinnung! – Und das Zweite: Wir wollen natürlich von dem Grundsatz nicht abgehen, dass kein Wohnungsloser aus Not auf der Straße bleiben soll, und

dann nehmen wir natürlich eher die schwächere Einrichtung als gar keine. Es ist auch nicht ganz richtig, wenn immer wieder behauptet wird, dass es für die vertragsungebundenen Obdachlosenunterkünfte keine Mindestanforderungen gebe. Gerade Ihre Partei hat das vor einem Jahr im Juni 2013 noch einmal in einer Kleinen Anfrage abgefragt und sich dazu sehr genau informiert.

Ich setze auch hier auf das neu geschaffene Kooperationsgremium, dass der Rahmen für die Durchsetzung verbessert wird und wir dazu kommen, dass diese dreieinhalb Seiten Text mit Mindestanforderungen auch tatsächlich in der Realität durchgehalten werden.

Weitere Aspekte des Antrags sowie der Partei- und Senatsposition – ich unterstreiche ausdrücklich das, was Frau Radziwill zum Genderaspekt gesagt hat – werden wir im Ausschuss diskutieren. Dabei – da können Sie sicher sein – werden wir die Menschenwürde der Betroffenen nicht aus dem Blick verlieren. – Schönen Dank!

[Beifall bei der CDU – Beifall von Ülker Radziwill (SPD)]

Vielen Dank, Herr Krüger! – Für die Linksfraktion hat jetzt Frau Abgeordnete Breitenbach das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war jetzt Herr Krüger, der gesagt hat: Ich muss mal feststellen, dass der Senat sich regelmäßig bemüht. – Das kann man so sehen, und wer sich mit Arbeitszeugnissen auskennt, weiß, wenn jemand einen solchen Satz im Zeugnis hat, wird er keinen Job mehr finden. Ja, Herr Krüger, ich finde auch, auf dieser Seite könnte viel mehr gemacht werden. Beim Thema Wohnungslosigkeit – das konnten wir bei der Anhörung alle erfahren, die wir im März hatten – in dieser Stadt liegt vieles im Argen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Die Anzuhörenden haben uns dazu viele Vorschläge gemacht und umfassende Maßnahmen vorgestellt, die eigentlich angepackt werden müssten, aber – schade, schade – offensichtlich hat der Senat einen anderen Schwerpunkt, und der lautet: Unterbringung zuallererst in ASOG-Einrichtungen. Das, liebe Kollegin Radziwill, wollte ich noch einmal betonen. Bei der Anhörung wurde auch gesagt, dass die Unterbringung in ASOGEinrichtungen das besondere Problem hat, dass viele Menschen, die dort untergebracht sind, dort nicht so schnell wieder herausfinden. Deshalb halte ich es für grundsätzlich falsch und problematisch, wenn man sagt, alle sollen in ASOG-Einrichtungen gehen.

(Joachim Krüger)

Wenn das aber der Schwerpunkt dieser Koalition ist und die Menschen dort auch so lange drin sein müssen, dann ist der Antrag der Piraten die logische Konsequenz aus dieser Politik. Wenn die Menschen massenhaft in ASOGEinrichtungen gehen, wenn sie dort bleiben müssen, dann brauchen wir völlig andere Mindeststandards.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN – Zuruf von Joachim Krüger (CDU)]

Herr Krüger! Es gibt Standards, aber es geht um andere, weitergehende Mindeststandards. Herr Spies hat die genannt.

Zum Personal gibt es gar keine Standards. Ich zitiere mal eine Anzuhörende, die sagte:

Es ist nicht definiert …, ob die Menschen Ansprechpartner vor Ort antreffen, um unterstützt zu werden und um die Obdachlosenunterkunft perspektivisch irgendwann, eines Tages, wieder verlassen zu können.

Das bringt es auf den Punkt. Das muss sich ändern. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Piraten, der uns hier vorliegt. Er würde erst einmal Verbesserungen in den Einrichtungen bringen, in denen die meisten Menschen untergebracht sind. 60 Prozent dieser Einrichtungen sind privat. Ganz viele davon können schalten und walten, wie sie wollen, weil es keine Verträge gibt. Es wird mir immer ein Rätsel sein, warum man keine Verträge macht, wenn man Einrichtungen hat. Das sollte sich ändern.

Ich stimme Frau Radziwill zu: Auch uns fehlen zwei Punkte in diesem Antrag. Den einen hat Frau Radziwill angesprochen. Immer mehr Frauen werden wohnungslos, und es gibt für sie kein ausreichendes Angebot. Diese Frauen brauchen besondere Schutzräume. Sie brauchen besondere Unterbringungsmöglichkeiten, auch, um vor Gewalt und Übergriffen geschützt zu werden, denen sie massenhaft ausgesetzt sind.

Es gibt einen zweiten Punkt: Auch die Anzahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die wohnungslos werden, nimmt zu. Auch in diesem Bereich brauchen wir eine interkulturelle Öffnung. Für diese Menschen gibt es gar kein Angebot. Diese interkulturelle Öffnung muss sich nicht nur auf die Räumlichkeiten und die Unterbringung selbst beziehen, sondern sie muss auch entsprechende Anforderungen an das Personal festlegen. Hoffentlich wird demnächst klar definiert, was die Anforderungen insgesamt sind. Dann wären wir zumindest einen kleinen, aber nicht unwichtigen schritt weiter.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Vielen Dank, Frau Breitenbach! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Es wird die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Gesundheit und Soziales und an den Hauptausschuss empfohlen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann verfahren wir so.

Der Tagesordnungspunkt 16 steht als vertagt auf der Konsensliste. Tagesordnungspunkt 17 war Priorität der Piratenfraktion unter Punkt 4.2.

Kommen wir nun zur

lfd. Nr. 17 A:

Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen fördern – ohne Wenn und Aber

Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/1703