Protokoll der Sitzung vom 19.06.2014

Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/1703

Wird der Dringlichkeit widersprochen? – Das ist nicht der Fall. In der Beratung beginnt die Fraktion Die Linke. Das Wort hat Frau Abgeordnete Kittler. – Bitte!

Danke, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Damen und Herren! Immer mehr Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf besuchen in Berlin die Regelschulen. Das finde ich gut, denn das entspricht den Forderungen der UNBehindertenrechtskonvention. – Es ist ein bisschen laut hier.

Meine Damen und Herrn! Könnten Sie bitte etwas leiser sein und aufmerksamer der Rednerin lauschen! – Danke!

In Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es dazu:

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem.

Und später weiter:

Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass … Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern (und) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem

(Elke Breitenbach)

Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.

Der SPD-CDU-Koalition und ihrem Senat ist das offensichtlich egal, denn sie machen die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen von der Kassenlage abhängig. Wie anders soll ich es sonst verstehen, wenn sich in den letzten drei Jahren, wie aus der Antwort des Senats auf meine Anfrage hervorgeht, immer wieder das Verhältnis von Integrationsschülern zu Lehrkräften verschlechtert. Standen für 8 172 Integrationsschülerinnen und -schüler der Förderschwerpunkt-Gruppe 1 im Jahr 2010 noch 791 Lehrstellen zur Verfügung, so sind es im laufenden Schuljahr – also nach drei Jahren große Koalition – für 9 922 Integrationsschülerinnen und -schüler nur noch 768 Stellen. Bei demnach 1 750 Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichsten Behinderungen mehr sind es nicht etwa adäquat mehr Lehrkräfte, sondern 23 weniger. Das bedeutet, dass die vorgesehene Förderung von 2,5 Stunden pro Schüler in der Grundstufe und von 3 Stunden in der Mittel- und Oberstufe überwiegend nicht mehr gewährt werden. Ich rede hier von Kindern und Jugendlichen, die sehbehindert oder schwerhörig sind, die eine Sprach- oder Lernbehinderung haben, die in ihrer körperlichen, motorischen, emotionalen oder sozialen Entwicklung verzögert oder gestört sind. Hier zeigt sich, dass die Forderung nach jährlich 150 zusätzlichen Stellen für die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf, wie sie die Fraktion Die Linke in den Beratungen zum Haushalt 2014/2015 erhoben hat, mehr als berechtigt war.

Als wenn die Verschlechterungen der letzten Jahre nicht schon schlimm genug sind. Es soll im nächsten Schuljahr noch schlimmer werden. Besonders an Regelschulen, die viele Schülerinnen und Schüler mit Behinderung integrativ beschulen, stehen dann bis zu drei Lehrkräfte für ihre Förderung weniger zur Verfügung. Das betrifft besonders Gemeinschaftsschulen, in denen der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf laut dem letzten Evaluationsbericht von vier auf zehn Prozent gestiegen ist. Auch an vielen integrierten Sekundarschulen gibt es das gleiche Problem. Das dürfen wir hier im Haus nicht zulassen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Jetzt muss das Abgeordnetenhaus, jetzt müssen Senat und Koalition handeln, um eine weitere Verschlechterung der Bedingungen für Kinder mit Behinderungen im gemeinsamen Unterricht in der Regelschule abzuwenden. Wie sonst will Berlin Akzeptanz unter Schülerinnen und Schülern, Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen für die inklusive Schule erreichen? Es muss sofort eine Beendigung der jetzigen Sparpolitik zulasten von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung geben.

[Beifall bei der LINKEN]

Ich fordere hiermit eine Behandlung dieses Antrags in den Ausschüssen und eine Beschlussfassung hier im Plenum noch vor der Sommerpause.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Alexander Spies (PIRATEN)]

Vielen Dank, Frau Kittler! – Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Abgeordnete Özışık. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kittler! Sie haben eine schriftliche Anfrage verfasst, und Sie haben auch eine Antwort der Senatsverwaltung erhalten. Leider haben Sie die gelieferten Daten falsch interpretiert. Deshalb bin ich nicht sicher, ob Ihre Schlussfolgerung richtig ist. Lassen Sie mich bitte meinen Punkt erklären. Im Prinzip verwenden Sie Zahlen aus der Anfrage, die natürlich korrekt sind. Sie vergleichen die Schülerinnen und Schüler aber komplett mit den Vollzeiteinheiten, die zugemessen werden. Das ist nicht ganz korrekt, weil die Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ pauschal pro Klasse zugemessen werden. Die Schülerinnen und Schüler in der Schulanfangsphase bekommen für diese Förderschwerpunkte pauschal vier Stunden je Klasse zugemessen. Inklusion findet in der Schulanfangsphase für diese beiden Förderschwerpunkte also bereits statt.

Die von Ihnen errechnete Verschlechterung gibt es in der Praxis gar nicht. Es gibt natürlich trotzdem ein Problem. Im Augenblick haben wir die Situation, dass die Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf stärker zunehmen, als die Stellen aus den abgebauten sonderpädagogischen Förderzentren gewinnen können.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten?

Nein! – Hier ist der Senat gefragt, genau zu diesem Punkt. Ich gehe davon aus, dass der Senat im Rahmen des Inklusionskonzepts hierfür auch eine Lösung finden wird.

[Beifall bei der SPD]

Ich stimme der Senatorin auch zu, dass wir dringend ein breit getragenes Inklusionskonzept in Berlin brauchen. Wir brauchen eine Marschroute, die Inklusion für alle möglich macht und trotzdem Wahlfreiheit lässt. Die größten Herausforderungen für das Inklusionskonzept sind die Versorgung mit Lehrkräften, die bauliche Gestaltung der Schulen und die Unterstützung der Schulen auf dem Weg der Inklusion. Wir wollen diesen Weg gehen und freuen

(Regina Kittler)

uns auf das hoffentlich bald kommende Konzept des Senats. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD – Lachen von Wolfgang Brauer (LINKE)]

Vielen Dank, Herr Özışık! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort Frau Abgeordnete Remlinger. – Bitte sehr!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Werte Kollegen! Ich hatte jetzt kurz den Eindruck, dass Frau Kittler intervenieren möchte. Das hätte ich auch gern zugelassen, denn, werter Herr Özışık, die von Ihnen genannten Zahlen und Fakten stimmen natürlich so nicht. Ich habe mir aber fest entgegen meiner Gewohnheit vorgenommen, Sie heute Abend nicht mit Zahlen zu langweilen und nicht über Zumessungsrichtlinien zu sprechen. Sie wissen, dass ich diese Zahlen sehr gern nachliefere. Ich kann es Ihnen aber auch noch einmal erklären, dass in der Tat Die Linke völlig recht mit ihrem Antrag hat. Eindeutig gibt es Hunderte von Lehrkräften zu wenig in den Schulen im Verhältnis zu den mit Förderbedarf vorhandenen Kindern. Zahlen liefere ich Ihnen gern nach.

Was wir heute Abend klären müssen, ist die Frage, worin jetzt das Problem besteht, wenn mehrere Hundert Lehrkräfte für diesen Bereich fehlen. Entweder haben wir aufgrund eines völlig falsch verstandenen Inklusionsbegriffs die Förderstunden heruntergefahren, weil wir denken, dass Inklusion heißt, dass kein Kind mehr Förderbedarf hat. Das wäre fatal. Wenn es aber nicht dieser falsche Inklusionsbegriff ist – das ist das Einzige, was ich positiv anmerken möchte, dass Sie, Herr Özışık, sich im Namen der SPD-Fraktion zum ersten Mal explizit pro Inklusion ausgesprochen haben – –

[Beifall bei den GRÜNEN]

Ja, da kann man einmal klatschen. – Es ist wichtig für das Haus und wichtig für die Kinder, es ist wichtig für die Schulen, denn bei Inklusion geht es nicht nur um eine soziale Hinwendung zu behinderten Kindern, sondern geht auch um Schulqualität. Jede Schule, die Inklusion kann, ist eine bessere Schule für alle Kinder.

[Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Ich habe aber noch eine Befürchtung. Ich bin mir nicht sicher, dass es wirklich dieser falsche Inklusionsbegriff ist. Ich dachte, wir waren weiter. Die Senatorin hat immer gesagt, dass sie verstanden hat, dass es nicht zum Nulltarif machbar ist. Wir brauchen dann auch die entsprechenden Zumessungen. Alle hatten eigentlich auch verstanden, dass es sich nicht allein durch eine Schließung von Förderzentren gegenrechnen lässt.

Wenn es also nicht ein falsch verstandener Inklusionsbegriff ist, dann ist es Lehrkräftemangel. Auch da bin ich jetzt überhaupt nicht bereit, in Zahlen und Details und sonst was einzusteigen. Was wir an der Stelle einmal brauchen, ist ein neuer Aufschlag. Es ist im Grunde ein Offenbarungseid des Senats. Er soll sich endlich einmal ehrlich und nackig machen.

[Heiterkeit]

Bei nackig machen geht es mir nicht darum, wie sexy diese Vorstellung wäre, sondern geht mir darum, dass es notwendig ist. Es ist notwendig, dass wir endlich in eine neue Gesprächskultur miteinander über Zahlen und Fakten eintreten. Ich befürchte, dass wir uns in einem Teufelskreis befinden, wo wir als Opposition gar nicht so schnell anfragen und Anträge schreiben können, wie wir es eigentlich müssten, um dieses heillose Chaos zu lichten, das im Moment herrscht.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Man fühlt sich schon schlecht, weil man es tut, weil man Angst hat, dass man die letzten Verwaltungskräfte, die jetzt noch irgendwie dringend diese Probleme lösen sollten, vom Arbeiten abhält.

Ich erwarte also ein Angebot von der Senatorin, wie sie in eine neue Gesprächskultur eintritt. Denn ich komme mir zur Zeit vor, als wäre ich im Jahr 1984 bei George Orwell gelandet und wäre vor einem Televisor eingeschlafen und kann aus diesem realitätsfremden Schlaf nicht mehr aufwachen, weil ich mit Neusprech aus dem Ministerium für Wahrheit vollgetextet werde. Ich kann Ihnen aber versichern, dass weder wir als Opposition noch die Lehrkräfte, Eltern, Schulen noch die Kinder in Berlin Winston Smith sind. Wir lassen uns nicht kleinkriegen. Wir lassen uns auch nicht kirre machen. Also lassen Sie uns Methoden finden, wie wir uns ehrlich machen und wie wir mit dem Lehrkräftemangel in Berlin umgehen und das Schlimmste verhindern können. – Vielen Dank!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Vielen Dank, Frau Remlinger. – Für die CDU-Fraktion hat nun das Wort Frau Abgeordnete Bentele. – Bitte sehr!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Linken zielt auf die Kernfrage und auf die größte Herausforderung, die die Integration behinderter Schüler in die Regelschulen mit sich bringt, nämlich wie es um die Relation von Sonderpädagogen zu behinderten Schülern bestellt ist. Ich konnte in der Kürze der Zeit von gestern auf heute nicht abschließend prüfen, ob es wirklich zu einer Verschlechterung der Sonderpädagogen-Schüler-Relation gekommen

(İlkin Özışık)

ist, da auch berücksichtigt werden muss, dass in der Schuleingangsphase LES-Schüler nicht mehr individuell Stunden zugemessen werden, sondern dass die Zumessung nur noch pauschal vier Stunden pro Klasse beträgt.

Unabhängig davon ist es richtig und wichtig, dass wir uns jenseits von Rekordmeldungen zur Inklusion, die für Berlin immer schnell auf dem Papier stehen, uns immer wieder genau die Bedingungen anschauen, unter denen Inklusion an Berliner Schulen tatsächlich stattfindet. Ich befürchte allerdings, dass, wenn es wirklich so sein sollte, wir die in der Verordnung gesetzten Zielmarken nicht erreichen, wie von der Linksfraktion angeführt, was nicht an einer Sparpolitik liegt, sondern eher daran, dass wir im Land Berlin einfach nicht genug Sonderpädagogen haben, um die ständig wachsende Anzahl an Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf adäquat zu betreuen.

Angesichts dieser Personalsituation sollten wir uns jeden weiteren Schritt bei der Inklusion ganz genau überlegen und die Diskussion im Bildungsausschuss fortführen. – Danke!

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Vielen Dank, Frau Bentele! – Für die Piratenfraktion hat jetzt das Wort der Abgeordnete Spies. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Antrag geht es um nicht weniger als darum, wie ernst wir es hier in Berlin mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nehmen. Bildungspolitik fällt nicht vom Himmel, ebenso wenig die Kritik vieler Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Sie wollen die inklusive Bildung umsetzen. Über das hier vorhandene Engagement zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sollten wir uns alle freuen. Nach Artikel 24 dieser Konvention soll ein inklusives Schulsystem, übrigens at all levels, also Gymnasien inklusive, geschaffen werden. Es ist vorgesehen – Artikel 24 Abs. 2 Buchstaben c und d –, „angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des einzelnen“ zu treffen. Hieran krankt die Berliner Bildungspolitik.