Protokoll der Sitzung vom 18.09.2014

(Joachim Luchterhand)

Ich komme nun zum

lfd. Nr. 26:

Schluss mit dem Flickenteppich – Sprachförderung in Kita und Schule auf den Prüfstand

Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/1811

Eine Beratung ist mehr vorgesehen. Es wird die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie empfohlen. Gibt es hierzu Widerspruch? – Den gibt es nicht.

Die lfd. Nr. 27 steht auf der Konsensliste.

Wir kommen nun zur

lfd. Nr. 27 A:

Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht

Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Piratenfraktion auf Annahme einer Entschließung Drucksache 17/1819

Wird der Dringlichkeit widersprochen? – Das ist nicht der Fall. – In der Beratung beginnt die Piratenfraktion. Das Wort hat der Abgeordnete Kowalewski. – Bitte sehr!

Geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Thema für heute, aber ein ganz, ganz wichtiges! Ich hoffe, wir können uns alle noch kurz zusammenreißen.

Mit einem sogenannten Marsch für das Leben wollen am Samstag Antifeministinnen und Antifeministen, christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten und Nationalistinnen und Nationalisten durch Berlin ziehen. Unter dem Motto „Ja zum Leben – für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie!“ fordern sie ein europaweit komplettes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen und Sterbehilfe.

Das ist nur die Fassade. Neukonservativen und neurechten Teilnehmerinnen und Teilnehmern geht es um viel mehr. Die sogenannten Lebensschützer fordern den Erhalt der traditionellen Familie und vertreten ein patriarchales Weltbild, in dem Frauen zuallererst in ihrer Rolle als Mütter wahrgenommen werden. Alternative Lebensmodelle oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften haben in diesem Weltbild keinen Platz.

Die Gesellschaft, die diese Menschen herbeisehnen, lässt sich leider noch in vielen Teilen der Welt beobachten. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich ca. 47 000 Frauen an den Folgen von illegalisierten und daher unprofessionell durchgeführten Schwangerschafts

abbrüchen. Erst vor zwei Jahren – ich hoffe, die Medienberichte darüber haben uns alle geschockt – starb in Irland eine schwangere Frau, weil Ärzte sich weigerten, ihr Leben durch die Abtreibung ihres sterbenden Fötus zu retten.

Die Selbstbezeichnung als Lebensschützer, die diese Menschen tragen, ist eine krasse Lüge. Selbst die AfD möchte anscheinend nicht mehr öffentlich mit dieser Veranstaltung in Verbindung gebracht werden, taucht also in der Unterstützerliste nicht mehr auf. Das war letztes Jahr noch völlig anders, da marschierte die inzwischen für die AfD ins EU-Parlament gewählte Beatrix von Storch vorne mit. Sie wurde in der Vergangenheit häufig als prominenteste Figur der deutschen Tea-PartyBewegung wahrgenommen und ist uns allen noch in Erinnerung, seit sie im Vorfeld der letzten Abgeordnetenhauswahl mit ihrer Webseite „Abgeordnetencheck“ versuchte, alle Kandidierenden zu Aussagen gegen Sexualkunde an Berliner Schulen zu erpressen. Wer nicht in ihrem Sinn antwortete, wurde dann schon mal schnell auf der Titelseite der „BZ“ öffentlich angeprangert.

Bevor jetzt falsche Vorwürfe kommen: Wir fordern nicht, das Versammlungsrecht dieser Menschen einzuschränken. Aber es ist wichtig, dass wir als Parlament deutlich machen, dass wir die von diesen Menschen geforderte Einschränkung unserer Freiheit deutlich ablehnen. Diese Demo steht im krassen Gegensatz zu den wenigen Werten, die wir in diesem Haus über die Fraktionsgrenzen hinweg als gemeinsam bezeichnen können. Das können wir heute deutlich machen.

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Jetzt gucke ich mal geradeaus. Die Berliner Jusos und die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen, die im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung organisiert sind, wären bitter enttäuscht, wenn die SPD-Fraktion diese Entschließung nicht mittragen würde. Ihre MdB Mechthild Rawert wird am Samstag, wie im letzten Jahr auch, bestimmt wieder eine ganz besonders kämpferische Rede gegen den Neokon-Marsch halten.

[Heiterkeit bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Das hat sie letztes Jahr gut gemacht und macht sie dieses Jahr bestimmt auch wieder gut,

[Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

und das, obwohl sie jetzt auch in einer großen Koalition gefangen ist. Da können Sie als SPD im Abgeordnetenhaus diesen Antrag nicht mit der Ausrede zum Sterben in die Ausschüsse schicken, Sie könnten so schnell keine Verständigung herbeiführen.

Die SPD war es, die 1974 für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gekämpft hat und ihn auch durchsetzen konnte. Von ihr erwarte ich am deutlichsten

(Vizepräsidentin Anja Schillhaneck)

klare Kante, wenn diese Errungenschaft von der neuen Rechten infrage gestellt wird. Ich bin gespannt, was von Ihrer Seite kommt. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Vielen Dank, Herr Kowalewski! – Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Abgeordnete Czyborra. – Bitte!

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, uneingeschränkt ja! Ich persönlich habe die Bündniserklärung schon vor längerer Zeit unterschrieben. Ich werbe dafür. Ich werde am Sonnabend auf der Seite des Bündnisses demonstrieren wie schon in den vergangenen Jahren.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Ich habe der Anfrage des Bundesverbandes Lebensrecht nach Unterstützung eine klare Absage erteilt und das auch ausführlich begründet. Natürlich habe ich darauf keine Antwort bekommen. Wie schon der Kollege Kowalewski erwähnte, sind die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen und die Jusos Teil dieses Bündnisses. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen – Mechthild Rawert wurde schon erwähnt – wurden für einige Äußerungen, die sie in diesem Zusammenhang getan haben, öffentlich diffamiert.

Berlin ist eine liberale Stadt in bester Tradition. Ich bin alt genug, um mich an die Auseinandersetzungen der Achtzigerjahre um § 218 zu erinnern. Ich war mittendrin. Das ist ein wesentlicher Bestandteil meiner politischen Biografie. Viele Aspekte in dieser Auseinandersetzung scheinen heute vergessen zu sein: das Elend von Frauen, die Verzweiflung bis zum Selbstmord, die illegalen Abbrüche mit ihren gesundheitlichen Risiken, der Tourismus in die Niederlande, den sich die Besserbetuchten leisten konnten. Viele Geschichten kennen wir heute nur noch aus dem Ausland: Eine junge Frau musste vor nicht mal zwei Jahren in Irland sterben, weil sich die Ärzte weigerten, ein nicht lebensfähiges Kind zu holen und so ihr Leben zu retten. Was das mit Respekt vor dem Leben zu tun hat, ist mir persönlich völlig schleierhaft.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Hier sehen wir, dass es nicht um das Leben an sich geht, sondern um ganz andere Fragen, von Kontrolle, vom Familien- und vom Frauenbild.

Seit Anfang der Neunzigerjahre haben wir nun in Deutschland die Fristenregelung. Das ist ein gesellschaftlicher Kompromiss. Der gefällt vielen Leuten nicht, das ist das Wesen von Kompromissen. Es gibt Gegner dieses Kompromisses, und die demonstrieren. Das ist deren gutes Recht, das ist deren Freiheit.

Kein gutes Recht hingegen ist es, mit Gewalt gegen Beratungseinrichtungen vorzugehen, Frauen auf der Straße anzumachen und am Betreten von Einrichtungen zu hindern, gegen Gynäkologen vorzugehen und zu versuchen, sie wirtschaftlich zu schädigen usw.

[Beifall bei der SPD]

Hier ging es heute schon um religiöse Fanatiker und ihre Versuche, anderen ihre Weltanschauung aufzudrücken, auch unter Anwendung von Gewalt und gegen unser Rechtssystem. Religiöser Fundamentalismus an sich ist nicht strafbar, Übergriffe auf Andersdenkende und deren Einschüchterung aber schon. Das wurde vorhin schon in verschiedenen Zusammenhängen geäußert. Militante Aktionen, Gehsteigberatungen, Diffamierungen als Massenmörder und Verleumdungen können wir nicht dulden. Die Betroffenen müssen wir aktiv schützen. Es darf kein unterschiedliches Recht für Anhänger verschiedener Religionen herrschen. Toleranz muss von allen gefordert werden. Aber es gab und gibt auch viele Katholiken, die den damals erzwungenen Ausstieg aus den Schwangerenkonfliktberatungen für falsch hielten und bedauerten.

Was stört mich am vorliegenden Antrag? – Zunächst mal die pauschale Verurteilung von allen, die am Sonnabend marschieren und ihr Demonstrationsrecht in Anspruch nehmen. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich prominente Teilnehmer, z. B. aus dem katholischen Klerus, deutlich von gewalttätigen Vertretern abgrenzen. Ich respektiere jede Frau, die einen Schwangerschaftsabbruch für sich ausschließt, und ich wünsche ihr in der Krisensituation alle Hilfe und Unterstützung, damit sie und das Kind würdevoll leben können, so wie ich es allen Kindern, insbesondere den Flüchtlingskindern und denen in Krisenregionen, wünsche. Ich will aber nicht pauschal alle diffamieren, in die in dieser Frage anderer Auffassung sind als ich. Die Kirchen sind oft unsere Bündnispartner bei der Armutsbekämpfung und der Aufnahme von Flüchtlingen. Der letzte Satz des Ursprungsantrags war sogar den Antragstellern und Antragstellerinnen zu viel, sodass sie ihn gestrichen haben.

Formal stören mich noch die Dringlichkeit und die Sofortabstimmung. Diese Instrumente werden heute etwas überstrapaziert. Dass die Lebensschützer auch in diesem September demonstrieren würden, war klar. Das tun sie seit Jahren recht unbemerkt an diesem Septemberwochenende. Die Bündniserklärung war seit langem bekannt.

[Zuruf von Evrim Sommer (LINKE)]

(Simon Kowalewski)

Dass in dieser Stadt Demonstrationen stattfinden, auch mit noch so wünschens- oder ablehnenswerten Forderungen, kann kein Grund sein, parlamentarische Grundsätze über Bord zu werfen und mit wenigen Tagen Vorlauf vorbei an parlamentarischen Regeln Zustimmung zu einer Entschließung zu fordern. Die Antragsteller verlangen die Unterstützung eines Demoaufrufs. Wir sind aber kein Parteitag.

[Beifall bei der SPD]

Das alles lässt manchmal etwas an der Ernsthaftigkeit zweifeln. Es geht hier um ethische Fragen, die nach Wissen und Gewissen abgewogen werden müssen. Es gibt gar keinen Handlungszwang, denn der gesellschaftliche Kompromiss der Fristenlösung steht momentan nicht infrage. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass in diesem Haus im Augenblick niemand ernsthaft dagegen opponiert – abgesehen von diesen paar Demonstranten, die ihre Meinung zum Ausdruck bringen.

Ob dort eine politische Kraft wächst, die ein reaktionäres Frauen- und Familienbild in die Parlamente trägt, werden wir sehen, auch in Berlin. Wir werden das sehr ernsthaft in Debatten in dieser Stadt aufgreifen. Die Frage der oben angesprochenen Übergriffe ist allerdings ein sehr ernstes Thema, das der gründlichen parlamentarischen Analyse und Beratung wert ist. Daher bitte ich um die Überweisung in den zuständigen Ausschuss.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Frau Dr. Czyborra! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort Frau Abgeordnete Kofbinger. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Dr. Czyborra! Ich bin mehr oder minder entsetzt, wie Sie hier mit wirklich wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen umgehen.