Protokoll der Sitzung vom 12.01.2012

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Ein kleines Beispiel, wo durch den Einsatz freier, offener Technologie Geld gespart werden und gleichzeitig ein qualitativ besseres Angebot gemacht werden kann, ohne

dass Berliner mit einer Abmahnung ihres ehemaligen Verbraucherschutzsenators rechnen müssen, wenn sie den Anfahrtsweg zu ihrem Bürgeramt mit Kartenmaterial des aus öffentlichen Geldern finanzierten Portals berlin.de weiterreichen.

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Sie sprechen von einem industriepolitischen Dialog zwischen Politik, Kammern und Unternehmensverbänden und Gewerkschaften. Wo sprechen Sie von einem stadtentwicklungspolitischen Dialog mit dem Berliner Mieterverein, Wohnungsbaugenossenschaften und betroffenen Mietern? Meinen Sie das ernst, dass Sie sich hier auf industriepolitische Dialoge beschränken? Sie sollten die Expertise und Fachkompetenz in dieser Stadt außerhalb des Parlaments nicht unterschätzen.

[Beifall bei den PIRATEN]

Binden Sie die Betroffenen bei Ihren Entscheidungen mit ein! Tauschen Sie sich mit ihnen aus, fragen Sie nach, sorgen Sie dafür, dass gute Ideen den Weg zu Ihnen finden! Diese Möglichkeiten des direkten Austauschs mit den Bürgerinnen und Bürgern hat mit dafür gesorgt, dass wir Ihnen jetzt hier im Abgeordnetenhaus auf die Pelle rücken.

[Beifall bei den PIRATEN]

Machen Sie sich eigentlich keine Gedanken, weshalb die 15 Sitze nicht in Ihrer Fraktion gelandet sind? Beweisen Sie den Wählern, dass Sie nicht nur über netzpolitische Themen sprechen können, sondern es verstanden haben, Freiheiten der Menschen in dieser Stadt zu respektieren und weiter auszubauen und die Gesellschaft sowohl online als auch offline und interkulturell miteinander zu vernetzen. Wenn Sie uns kopieren, Herr Wowereit, dann bitte richtig! Aber auch dann werden Sie uns jetzt so schnell hier nicht mehr los.

[Beifall bei den PIRATEN]

Vielen Dank! – Die Fraktionen der SPD und der Linken haben noch ein wenig Restkontingent; die Fraktion der Piraten hat regelhaft bereits einen weiteren Redner angemeldet. Möchten Sie noch? – Dann bitte, Herr Lauer!

Wie viel Zeit habe ich denn noch?

Zehn Minuten!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wowereit! Andreas hat in

seiner Rede den programmatischen Aspekt der Regierungserklärung beleuchtet, und ich möchte an dieser Stelle das Wort ergreifen, um auf ein paar grundsätzliche Dinge hinzuweisen.

Die Piratenfraktion ist seit September letzten Jahres Bestandteil dieses Hauses. Und nach der anfänglichen Euphorie und den Bekenntnissen seitens der bereits im Haus vertretenen Parteien, jetzt etwas an ihrem Politikstil zu ändern, scheint sich langsam der Alltagstrott wieder eingeschlichen zu haben. Ich kann Ihre Hoffnung verstehen, dass wir uns eher Ihnen anpassen als Sie sich uns. Aber auch diese platte Schwarz-Weiß-Logik greift zu kurz. Der Einzug der Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus markiert eine Zäsur. Mit uns ist eine Partei eingezogen, deren Mitglieder durch die neuen Medien, durch das Internet sozialisiert worden sind. Dieses Faktum ist anzuerkennen, wenn man verstehen möchte, mit welchem Befremden wir auf das Geschehen in diesem Haus blicken. Wir sind in einer Welt aufgewachsen, die jedem, der sie betreten wollte, eine neutrale Plattform zur freien Entfaltung bot. Natürlich birgt diese Welt, das Internet, auch Gefahren. Aber nennen Sie mit bitte einen Ort, auf den das nicht zutrifft!

[Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Wir haben die Chancen des Internets immer als größer wahrgenommen. Und diese Chancengleichheit in der physikalischen Welt, von der in vielen Wahlprogrammen und auch in dieser Regierungserklärung und heute geredet worden ist, die ist im Internet umgesetzt. Denn dort interessiert es tatsächlich niemanden, aus welchem Land Sie kommen, welches Geschlecht Sie haben oder welcher Religion Sie angehören. Sie müssen nur durch die Dinge, die Sie tun, überzeugen. Eine solche Parallelgesellschaft – ich benutze hier sehr bewusst das Wort Parallelgesellschaft – wird in dem Moment umso wichtiger, in dem immer mehr Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft durch das Raster fallen oder sich nicht in die vorgefundenen Gesellschaftsnormen pressen lassen wollen. Mit den Piraten haben doch nicht die Klassenlieblinge die politische Bühne betreten, sondern die Nerds, die Außenseiter, diejenigen, die in der Schule nicht zu den Partys eingeladen worden sind,

[Oh! bei der SPD und der CDU]

und diejenigen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft standen. – Ja, und Sie haben vorhin in diesem Haus von Solidarität gesprochen und machen bei so was „Oh!“! Sie sollten sich schämen!

[Beifall bei den PIRATEN – Lachen bei der SPD]

Wir mussten uns – – Ich habe leider meiner Kresse vergessen. Wenn ich die Kresse dabeihätte, könnten Sie sie hier vorne abholen und dann die Kresse halten.

Verzeihung, Herr Lauer! – Meine Damen und Herren! Zwischenrufe sind eine Sache. Ein dauerhafter Geräuschpegel ist eine andere. Bitte lassen Sie das!

[Daniel Buchholz (SPD): Bei der Rede!]

Ich komme ja gleich zur Sache. – Wir befinden uns durch das Internet gerade mitten im Auge des Sturms einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, deren Ende wir noch gar nicht absehen können. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die das Internet als Technologie verursacht, sind aber schon spürbar, und wir sollten es uns nicht nehmen lassen, diese Veränderungen zu gestalten. Das Internet zerstört schonungslos die Paradigmen des 19. und 20. Jahrhunderts. Was ist Wissen, was ist Arbeit, was ist Qualifikation in einer Welt, in der mir alle Informationen per Knopfdruck zur Verfügung stehen? Wir beschäftigen uns bisher allenfalls mit den Symptomen einer sich verändernden Welt, wir müssen aber anfangen, uns mit den Ursachen auseinanderzusetzen. Dabei können wir nicht mit Lösungen aus dem 20. Jahrhundert auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagieren.

[Beifall bei den PIRATEN]

Das Internet kann mittlerweile mehr. Das ist nicht nur Google und eBay, sondern das ist die demokratische Beteiligung vieler. Als Parlament dürfen wir die technologischen Sprünge der letzten Jahre nicht ignorieren. Das Problem ist, dass dieses Haus keine Innovation belohnt, wieso sollte es auch. Es geht hier um die Beständigkeit, und es geht in dem Moment, in dem 149 Menschen als gewählte Volksvertreter 3,5 Millionen Berlinerinnen und Berliner vertreten, auch um eine Reduktion von Komplexität. Ja, und es geht auch um Macht. In dem Moment, in dem dieses Haus die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Berlins am politischen Prozess beschließt, geht es natürlich auch um die Angst, sich selbst abzuschaffen.

[Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Aber da kann ich Sie beruhigen: Wir haben das schon längst selbst geschafft mit dem Abschaffen. Denn was bedeutet Ihre Regierungserklärung denn eigentlich, Herr Wowereit? Sie haben heute verkündet, was in den nächsten fünf Jahren passieren soll. Wie wird das passieren? Durch Gesetze! Und wer beschließt diese Gesetze? Dieses Haus! Aber wo werden diese Gesetze geschrieben? Wer von den anwesenden Abgeordneten ist denn Herr oder Frau Referentenentwurf? Wo sitzt denn der Referent? Der sitzt in der Verwaltung. Es ist die traurige Realität, dass dieses Haus seiner verfassungsmäßigen Aufgabe, Gesetze aus seiner Mitte entstehen zu lassen, nicht mehr nachkommt.

[Beifall bei den PIRATEN]

Die traurige Realität wird es sein, dass jede Änderung in den nächsten fünf Jahren aus dem Senat kommen und in

diesem Haus vonseiten der Koalition mal mehr, mal weniger zähneknirschend abgenickt wird. Und die Opposition wird schreien. Und die Opposition wird Vorschläge machen, und die Koalition wird schreien. Hier spreche ich explizit die Hinterbänkler in den Fraktionen an: Habt ihr euch das so vorgestellt? Ist es euch das wert, fünf Jahre lang alles abzunicken, was Herr oder Frau Referentenentwurf in irgendeiner Senatsverwaltung geschrieben hat?

[Beifall bei den PIRATEN]

Das freie Mandat, verfassungsmäßig verankert, wird im Abgeordnetenhaus von Berlin von Woche zu Woche zu Makulatur. Wer hat denn hier noch das Rückgrat, seiner Fraktion öffentlich zu widersprechen? Dieses Unterordnen unter die Fraktion, die sich wiederum dem Senat unterordnet, das ist eine Gefahr für die Demokratie. Wenn wir hier von den Gefahren des Lobbyismus und mehr Transparenz im Haus sprechen, dann verkennen wir, dass der Lobbyist zu demjenigen geht, der das Gesetz schreibt, und nicht etwa zu demjenigen, der das Gesetz nur noch abzunicken hat. Es finden in diesem Haus keine Debatten mehr statt, sondern auf Koalition und Opposition verteiltes Kasperltheater.

[Beifall bei den PIRATEN]

Es findet eine Machtkonzentration auf den Senat statt, die nicht gesund ist. Angesichts der Herausforderung, vor der die Stadt Berlin steht, ist es bemerkenswert, dass wir als Parlamentarier, die lediglich ihrem Gewissen verpflichtet sind, uns so etwas gefallen lassen. Die Lösung ist denkbar einfach wie radikal. Die Landesverfassung sagt in Artikel 59 Abs. 2:

Gesetzesvorlagen können aus der Mitte des Abgeordnetenhauses, durch den Senat oder im Wege des Volksbegehrens eingebracht werden.

Lassen Sie uns gemeinsam „durch den Senat“ streichen!

[Beifall bei den PIRATEN]

Lassen Sie uns die Mitglieder dieses Hauses mit der Expertise ausstatten, dass wir wieder in der Lage sind, die Gesetze zu schreiben, damit hier tatsächlich Debatten stattfinden, sachbezogen und über das Kleinklein von Parteigrenzen hinweg! Versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, wie motivierend sein kann, wenn man nach einer harten Debatte ein Gesetz durchgebracht hat, an dem man selber mit Herzblut gearbeitet hat!

[Zurufe von der CDU und den GRÜNEN]

Aber mir ist natürlich klar, das ist nur Wunschdenken. Sie werden sich im Anschluss an meine Rede genug Gründe herbeiargumentieren, um zu erklären, warum das System, das wir seit über 50 Jahren haben, gut ist und so weitergeführt werden muss. Sie werden sich vor allem selbst erklären, dass Sie eine wichtige Rolle in dem spielen, was hier in diesem Haus stattfindet. Und selbst wenn das, was ich gerade gesagt habe, bei Ihnen angekommen sein sollte, dann werden Sie sich nicht trauen, innerhalb Ihrer

Fraktion, innerhalb Ihrer Partei darüber zu diskutieren. Im Wahlkampf hatten wir ein Plakat: „Warum hänge ich hier eigentlich? Ihr geht doch eh nicht wählen.“ – Analog dazu könnte ich über dieses Rednerpult eines hängen mit der Inschrift: „Warum rede ich hier eigentlich? Ich weiß doch eh, wie ihr abstimmt.“

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Der Erfolg der Piratenpartei ist das Ergebnis einer Vertrauenskrise in unser repräsentatives parlamentarisches System.

[Zurufe von der SPD]

Die Bürgerinnen und Bürger Berlins kämen doch nicht auf die Idee, nach mehr Bürgerbeteiligung zu verlangen, wenn sie das Gefühl hätten, dass sie hier im Sinne einer Volksvertretung vertreten werden.

[Beifall bei den PIRATEN]

Hat sich hier noch nie jemand die Frage gestellt, warum Menschen, für die Strom aus der Steckdose und Geld aus dem Automaten kommt, auf einmal Interesse daran haben, sich politisch zu beteiligen? Wenn wir die Berlinerinnen und Berliner aber davon überzeugen möchten, dass die demokratische Repräsentation durch Volksvertreter notwendig ist, dann sollten wir alle sehr schnell damit anfangen, Gründe zu liefern. Mit einem „Weiter wie bisher!“ wird das nicht funktionieren. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Vielen Dank! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Zur Vorlage Drucksache 17/0077 ist die sofortige Abstimmung beantragt worden.