Vielen Dank! – Es wurde eine Kurzintervention angemeldet. Das Wort hat der Abgeordnete Oberg. – Bitte!
Frau Präsidentin! Herr Kollege Mutlu! Sie haben hier mit lauten Worten die Frage gestellt, warum wir nicht schon 2004 oder 2010 eine umfassende Schulreform zur Inkraftsetzung der Inklusion in Berlin umgesetzt haben. Da sind einige Richtigstellungen notwendig, da Sie hier recht hemdsärmlig den Eindruck erwecken, man könne das so ohne Weiteres einfach machen und die Regierung habe in den letzten zehn Jahren im Bereich der Bildungspolitik weitestgehend geschlafen oder nichts getan. Es geht hier nicht um ein Etikett, haben Sie gesagt. Das ist richtig. Es geht um ein umfassendes Konzept. Es geht aber auch nicht nur um Geld und ein paar Lehrerstellen, sondern um eine Schulreform, die von allen Beteiligten und Betroffenen getragen und akzeptiert werden muss.
Deshalb war es stets die Linie der SPD-geführten Regierung in diesem Haus, sich dafür Zeit zu nehmen und es nicht mit einer großen Schulstrukturreform zu vermischen, die die Integrierte Sekundarschule in Berlin eingeführt hat. Das war eine richtige Entscheidung. Wenn man nämlich zwei Dinge auf einmal macht und alles auf einmal möchte, kann man am Ende gegebenenfalls gar nichts hinbekommen. Deshalb ist es wichtig, jetzt anzufangen. Der Auftakt ist gemacht. Der erste Entwurf des Konzepts liegt vor. Die Diskussion mit den Beteiligten läuft. Wir sind mitten in dem Prozess, von dem Sie behaupten, Sie wollten ihn starten. Das ist typisch: Das Rennen läuft, und die Grünen rennen hinterher und schreien „Los!“. – Es läuft. Wir sind dabei. Deshalb sollten wir – das geht auch an die Adresse der Linkspartei – nicht mit ganz schnellen – vielleicht auch gut gemeinten – Vorstößen den Eindruck erwecken, man bekäme das problemlos hin. Wir haben es hier mit einem Feld zu tun, das hoch sensibel ist, weil es um die Bedürfnisse der Kinder geht. Wir haben es mit einem Feld zu tun, bei dem man nur etwas erreicht, wenn man die Beteiligten mitnimmt. Das tun wir. Deshalb werden wir dem Antrag nicht zustimmen, sondern ihn lediglich als einen weiteren Baustein in einer laufenden Diskussion betrachten. Wir werden uns die Zeit nehmen, gegebenenfalls zwei Jahre, um am Ende ein Ergebnis zu produzieren, das den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird und nicht im Konflikt, sondern im Konsens organisiert wird.
Deshalb ist es richtig, nicht das Spielchen „Opposition gegen Koalition“ zu spielen. Wenn Sie das einfordern, Herr Mutlu, hätten Sie sich die ersten anderthalb Minuten Ihres Beitrags sparen können, denn da haben Sie das alte Spiel aufgeführt. Sie haben uns beschimpft und der Untätigkeit bezichtigt, obwohl Sie es eigentlich besser wissen. Ich bin guten Mutes, dass wir einen langen Dialog – auch
Lieber Kollege Oberg! Sie haben einen Satz gesagt, den ich mir aufgeschrieben habe: „Deshalb werden wir nichts tun.“ – Das haben Sie gesagt, und das haben Sie die letzten zehn Jahre getan. Sie haben in diesem Bereich nichts getan. Diesen Vorwurf müssen Sie sich von hier aus machen lassen, ob es Ihnen passt oder nicht.
Es geht natürlich nicht darum, wie die Linke jetzt suggeriert, ein Gesetz zu ändern und damit Friede, Freude, Eierkuchen zu haben. Damit ist es nicht getan. Man muss die gesetzliche, personelle und materielle Grundlage schaffen, und man muss mit entsprechenden Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen die Schulen, die Lehrerinnen und Lehrer dazu befähigen, diese Mammutaufgabe bewältigen zu können. Da sind wir einer Meinung.
Übrigens, tun Sie bitte nicht so, als wären Sie plötzlich erleuchtet und würden mit allen diskutieren! Als wir Ihr Inklusionskonzept, das uns dieser Senat vorgelegt hat, diskutiert haben, haben wir im Fachausschuss festgestellt, dass der Behindertenbeauftragte, der Landeselternausschuss und etliche andere nicht angehört wurden. Sie waren aber der Meinung, das Konzept sei in Ordnung und könne beschlossen werden.
An dieser Stelle finde ich es gut, dass Sie einsichtig sind und begriffen haben, dass die Beteiligten mitgenommen werden müssen. Da sind wir an Ihrer Seite. Unsere aktive Unterstützung haben Sie. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die inklusive Schule endlich kommt, von mir aus auch in zwei Jahren! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass es gelingt! Das darf aber nicht auf Kosten der Qualität und der Schülerinnen und Schüler gehen. Das passiert nämlich, wenn Sie Herrn Nußbaum folgen und versuchen, die Sache zum Nulltarif durchzusetzen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion der Linken zur Änderung des Schulgesetzes des Landes Berlin bringt ein Thema auf die Tagesordnung, mit dem sich die Bildungs- und Sozialpolitiker aller Fraktionen in der letzten Legislaturperiode ausführlich beschäftigt haben und das für die Eltern von rund 23 000 Kindern und für viele Hundert Lehrer und Sozialpädagogen in unserer Stadt eine große Bedeutung hat. Dank der Vorarbeiten unserer Kolleginnen und Kollegen und der Senatsverwaltungen liegt seit Januar des letzten Jahres das Gesamtkonzept „Inklusive Schule“ vor, das einen ersten Überblick über die Berliner Situation gibt. Die Berliner Situation – das wurde auch schon von den Vorrednern hervorgehoben – ist im bundesweiten Vergleich gar nicht so schlecht. In Berlin wird bereits jetzt fast jedes zweite Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit Kindern ohne sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet, wobei es im Bundesdurchschnitt nur jedes fünfte Kind ist.
Die Koalition hat sich vorgenommen, in dieser Legislaturperiode den in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierten Anspruch auf inklusiven Unterricht schrittweise umzusetzen. Leitprinzip bei der Umsetzung wird für uns in erster Linie die Qualität und die Quantität des sonderpädagogisch geschulten Lehrpersonals an den Regelschulen sein.
Gleichzeitig wollen wir einen Kern an qualitativ hochwertigen Sonderschulen, die in Zukunft eventuell auch als Kompetenzzentren fungieren könnten, erhalten, damit Eltern bei der Beschulung ihrer Kinder tatsächlich Wahlfreiheit haben.
Um das ein bisschen konkreter zu machen: Woran werden wir in den nächsten Monaten und Jahren arbeiten müssen, um den Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die am gemeinsamen Unterricht an allgemeinbildenden Schulen teilnehmen, zu erhöhen? – Zunächst einmal wird im Bereich der Diagnosefähigkeit, der Qualitätssicherung und der Gewährleistung von Unterstützungssystemen noch einiges an konzeptioneller Arbeit erforderlich sein. Es müssen einheitliche und verbindliche Standards sonderpädagogischer Förderung unabhängig vom Lernort definiert werden. Diagnose- und Feststellungsverfahren müssen möglichst frühzeitig in der Schulkarriere des Kindes greifen und sollten einheitlich und unabhängig durchgeführt werden. Es muss ein Konzept vorgelegt werden – ganz richtig, Herr Mutlu! –, wie
sonderpädagogische Lehrinhalte in alle Lehramtsstudiengänge und Fortbildungen integriert werden können und wie dauerhaft alle zehn sonderpädagogischen Fachdidaktiken erhalten werden können, damit sichergestellt ist, dass die Kinder tatsächlich gemäß ihren individuellen Fähigkeiten gefördert werden.
Dann muss der Platz- und Lehrerbedarf an den Grundschulen, Oberschulen, Förderzentren und Berufsschulen eruiert werden, und es muss überprüft werden, welche Schulen pro Bezirk sich tatsächlich als Inklusionsschulen eignen. In einem weiteren Schritt werden wir bauliche Maßnahmen insbesondere zur Herstellung der Barrierefreiheit definieren müssen, und abschließend – ganz richtig – muss ein Gesamtfinanzierungsplan vorgelegt werden.
Dieser Ansatz, der auf einer schrittweisen und umfassenden Vorgehensweise beruht, die auf Qualität abstellt und sich an den Realitäten orientiert, erscheint mir zielführender als der von der Fraktion der Linken vorgelegte Vorschlag zur Änderung des Schulgesetzes, der aus meiner Sicht der falsche Schritt zum falschen Zeitpunkt ist, der falsche Erwartungen weckt und im ungünstigsten Fall auch zu Klagen führen könnte.
Bei der Umsetzung der Inklusion müssen wir alle mitnehmen – die betreffenden Schüler und ihre Eltern, die Sonderpädagogen, die Lehrer, Eltern und Schüler der aufnehmenden Regelschulen. Und wir sollten uns und auch niemand anderem etwas vormachen, was die Kosten der Inklusion anbetrifft. Diese wird es nicht zum Nulltarif geben. Ohne heute die Haushaltsberatungen in den nächsten Wochen vorwegnehmen zu wollen: Es sieht so aus, als ob wir mit diesem Doppelhaushalt auch den finanziellen Einstieg in die weitere Umsetzung der Inklusion in Berlin schaffen können. Insofern bin ich zuversichtlich, dass wir im Rahmen der Koalition und im Rahmen der nun folgenden Ausschussberatungen gute Fortschritte im Bereich der Inklusion in Berlin machen werden. – Vielen Dank!
Die Linke arbeitet Vergangenes auf, und das ist auch gut so. Ich habe mir das mal ausgedruckt. Das sind 40 Seiten.
Doch! Das sind 40 Seiten – die UN-Behindertenrechtskonvention bzw. das, was die Bundesregierung als verpflichtend für die Gesetzgeber der Länder und des Bundes beschlossen hat. Das ist von 2009. Das wissen Sie, und wir haben ja auch schon gehört, dass 2011 – zwei Jahre später – vom vorigen Senat ein Gesamtkonzept „Inklusive Schule“ vorgelegt wurde, das – und das ist auch richtig, Herr Mutlu! – nicht alle Beteiligten, wie von der Behindertenrechtskonvention gefordert, einbezogen hat und deswegen auch nicht beschließbar war. Völlig richtig!
Wie sieht die Realität aus? – Der Antrag der Linken – so interpretiere ich ihn mal – möchte die Realität abbilden und erweitern. Die Realität sieht folgendermaßen aus: Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist längst eine Grundaufgabe der meisten regulären Schulen in Berlin. Das haben wir auch schon gehört – Berlin sei spitze. Jedes zweite Berliner Kind oder jeder zweite Berliner Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf wird gefördert. Die Realität beschränkt sich dann doch auf etwas weniger schöne Zahlen: Jedes zweite dieser Berliner Kinder wird im Durchschnitt mit einem sonderpädagogischen Aufwand von zwei Stunden gefördert. Zwei Stunden, und zwar nicht am Tag, sondern in der Woche, sollen für Kinder oder Jugendliche, die im normalen Unterricht sonderpädagogisch gefördert werden müssen, ausreichend sein. Zwei Stunden! Das reicht mir nicht, und das reicht mir auch nicht in zwei Jahren. Herr Mutlu! Sie haben gerade genickt.
Der Antrag der Linken möchte den Konjunktiv streichen. Der Antrag der Linken sagt: Es ist ein Rechtsanspruch von Berliner Schülerinnen und Schülern auf eine besondere Förderung, wenn sie das nötig haben, und sie müssen nicht entscheiden, dafür an eine andere Schule oder an eine Sonderschule zu gehen. Wenn ich mir allerdings angucke, wie das realisiert werden soll, sehe ich ein bisschen schwarz.
Kleine Geschichte am Rande: Mich erreichen Bürgerbriefe, wo mir von schwerstsehbehinderten Jugendlichen erzählt wird – in einem speziellen Fall von einer Jugendlichen an einem Gymnasium in Steglitz, die ganz ohne sonderpädagogische Förderung ihr Abitur machen möchte und muss. Da hilft ihr niemand. Anträge, die notwendig sind, um eine sonderpädagogische Förderung an ihrer Schule zu ermöglichen, werden nicht rechtzeitig bearbeitet werden. Das ist eine herausragende Leistung dieser Jugendlichen, aber das kann nicht die Regel sein.
Warum das Gesetz auch hier nicht hilft – da stimme ich mit den meistens Vorrednerinnen und Vorrednern überein –, ergibt sich aus dem § 37 Abs. 3 des Schulgesetzes.
Ich verkürze: Es wird auf der Grundlage einer Empfehlung des Ausschusses und unter Beachtung der personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten über die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers entschieden. – Wenn man die Behindertenrechtskonvention, wie von der Bundesregierung 2009 beschlossen, umsetzen will, muss man den Absatz 3 des § 37 des Berliner Schulgesetzes restlos streichen. Eine Einschränkung des Rechtes und des Rechtsanspruchs von Kindern und Jugendlichen kann ich hier in diesem Pamphlet nicht erkennen.
Deswegen: Ja, Unterstützung dieses Antrags der Linken! Ja, es ist dringend Zeit, dass wir das auch im Gesetz festschreiben. Ja, es ist aber auch unbedingt wichtig, dass nicht nur die Koalition – da danke ich für die Gesprächsbereitschaft –, sondern auch der Senat – ich gucke Sie da an, Frau Scheeres! – das Notwendige tut, um das auch umsetzen zu können. Sie haben in der letzten Ausschusssitzung gesagt: Ja, Inklusion ist ein tolle Sache, und das wollen wir auch machen, aber darüber muss man noch mal diskutieren, und das dauert seine Zeit, und das ist alles noch diskussionswürdig. – Das reicht mir nicht.
Nein, ich habe nur noch eine Redezeit von 60 Sekunden. – Wir brauchen mehr eingestellte Sonderpädagogen, wir brauchen eine Weiterbildung von allgemeinen, normalen Lehrerinnen und Lehren in dieser Stadt, und vor allem brauchen wir die notwendigen Mittel, und zwar nicht erst in zwei Jahren, sondern möglichst schnell, damit die Schulen und die Schülerinnen und Schüler in Berlin vernünftig arbeiten und ihre Aufgabe erledigen können, nämlich das Lernen und das Lehren. – Danke schön!
Kurz zur Klarstellung: Wenn Sie eine Kurzintervention anmelden möchten, müsste das direkt hier geschehen. Ich gehe jetzt mal davon aus, dass das hiermit geschehen ist. – Bitte, Sie haben das Wort!
Ich lerne ja noch. – Ich will auf eine Sache eingehen, weil mir von Herrn Mutlu vorgeworfen wurde, wo ich denn die letzten zehn Jahre war. Ich war in einer Schule, übrigens in einer behindertengerechten Schule.
Lassen Sie mich doch mal ausreden. – Dort habe ich sehr viel auch mit behinderten Kindern gearbeitet. Die Frage, die jetzt hier gestellt wird, ob wir uns nicht noch Zeit lassen müssen, und noch zwei Jahre, und wir doch mal alles in Ruhe machen sollen, der kann ich nicht beipflichten. Ich finde, jetzt müssen wir anfangen und nicht erst in zwei Jahren mal zu einem Ende kommen. Wir haben ein Konzept – das ist übrigens noch ein Entwurf –, das ist überhaupt nicht beschlossen, und dafür müssen wir erst einmal eine Grundlage legen. Die Grundlage ist genau diese Gesetzesänderung und nichts anderes. Und da können Sie mir sonst was erzählen, das müssen wir jetzt endlich tun.
[Torsten Schneider (SPD): Auf wen reagiert die Frau? – Özcan Mutlu (GRÜNE): Auf mich! – Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]