Dreiundzwanzigster Tätigkeitsbericht des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Gesetz über den Beauftragten bzw. die Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin (Berliner Aufarbeitungsbeauftragtengesetz – AufarbBG Bln)
zum Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP Drucksache 18/0416
Zum Tagesordnungspunkt 3 begrüße ich ganz herzlich den Landesbeauftragten Herrn Martin Gutzeit. – Herzlich willkommen in unserer Runde!
Der Dringlichkeit zu Tagesordnungspunkt 5 hatten Sie bereits eingangs zugestimmt. Ich eröffne die zweite Lesung zum Gesetzesantrag und schlage vor, die Einzelberatung der acht Paragrafen miteinander zu verbinden. – Hierzu höre ich keinen Widerspruch. Ich rufe also auf die Überschrift und die Einleitung sowie die Paragrafen 1 bis 8 der Drucksache 18/0416.
Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, und es beginnt die Fraktion der SPD. Frau Abgeordnete Dr. West! Sie haben das Wort – bitte schön!
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Lieber Martin Gutzeit! Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal vergangen. Die tiefe Wahrheit dieses Satzes des amerikanischen Schriftstellers William Faulkner hat sich auch für mich bei den Beratungen über den Gesetzentwurf erwiesen, um den es hier und heute geht. Der wichtigste Aspekt besteht für mich persönlich in der Frage, wie wir künftig mit dem Erbe und der Geschichte der DDR umgehen wollen.
Ich denke, dieser Umgang muss geprägt sein von Respekt: Respekt vor den Opfern der Diktatur und des Schnüffelstaats, die wir nicht in Vergessenheit geraten lassen dürfen, weil wir ihnen sonst neues Unrecht und neues Leid zufügen würden! Respekt vor der Lebensleistung der Ostdeutschen, die in der DDR in ihrer ganz großen Mehrheit versucht haben, unter den unendlich schwierigen Bedingungen der Diktatur ein anständiges Leben zu führen! Respekt vor all denen, die diese Diktatur in einer friedlichen Revolution hinweggefegt und die Mauer niedergerissen haben und die mit ihrem Mut die deutsche Einheit überhaupt erst möglich gemacht haben! Respekt vor all denen, für die nach 1990 kein Stein mehr auf dem andern blieb und die mit einer für sie völlig
neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung klarkommen mussten, mit Spielregeln, die sie nicht kennen, und Zumutungen, mit denen sie nicht rechnen konnten! Respekt nicht zuletzt auch vor denen, deren Träume und Hoffnungen im vereinten Deutschland in den Zeiten des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Massenarbeitslosigkeit geplatzt sind wie Seifenblasen, die es nicht geschafft und die sich nicht wieder aufgerappelt haben! Auch sie gehören zur Geschichte der deutschen Einheit, die eben keine reine Erfolgsgeschichte ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitung auf diese Rede bin ich auf einen Beitrag aus dem Jahr 1993 gestoßen. In diesem Artikel ging es um die Frage, wer die Deutungshoheit bei der Aufarbeitung der DDRGeschichte und in der damaligen Enquetekommission des Bundestages hat. Die würde ich gern mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, kurz zitieren.
Martin Gutzeit, ein Mitbegründer der SDP 1989, rang mit der Fassung, als Erhard Eppler verkündete, die Leipziger Montagsgebete seien ein „Ableger der westdeutschen Friedensbewegung“ gewesen.
Auch solche Fehleinschätzungen, Missverständnisse, Enttäuschungen und Verletzungen gehören zu unserer gemeinsamen Geschichte. Mich bestärkt das in der Überzeugung, dass wir gemeinsam nach unseren gemeinsamen Wurzeln suchen und ehrlich miteinander umgehen müssen. Wir müssen im Osten und vor allem endlich auch im Westen die friedliche Revolution als einen unglaublich bedeutenden Bestandteil der Geschichte unserer Stadt begreifen. Menschen wie Martin Gutzeit haben diese Geschichte geschrieben. Ohne diesen leidenschaftlichen Mut von damals würden wir hier heute so nicht zusammensitzen. Dank dafür, lieber, verehrter Martin Gutzeit!
Danke für ein Vierteljahrhundert der Begleitung, der Beratung von Opfern, für die Aufarbeitung dieser unendlich schwierigen Vergangenheit, für das stete Bemühen, die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten an die nachgeborenen Generationen weiterzugeben! Sie haben einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet, dass es wieder ein Berlin gibt und dass über alle Verwirrungen und Verirrungen hinweg das zusammenwächst, was zusammengehört. Wir werden es nicht zulassen, dass die vor einem Vierteljahrhundert erkämpfte Demokratie von geifernden Populisten und berechnenden Reaktionären in eine existenzielle Krise getrieben wird. Wir werden die demokratischen Strukturen in den Kiezen, in den Schulen und in
Das hat viel mit Bildung zu tun, wie z. B. meine Kollegin Maja Lasić gern zu sagen pflegt, mit schulischer Bildung und mit politischer Bildung. Noch können die jungen Leute von heute ihre Eltern und ihre älteren Verwandten fragen, was die DDR, was die Mauer und was die Insel West-Berlin eigentlich gewesen sind und was das für ihr ganz persönliches Leben bedeutet hat. Wir stehen in der Pflicht, sie zu diesem Gespräch zu ermutigen, und es ist unsere Pflicht, die Geschichte der DDR und der friedlichen Revolution dort lebendig werden zu lassen, wo sich Jugendliche im Alltag aufhalten – nicht mit erhobenem Zeigefinger und einschläfernden Vorträgen, sondern mit freundlicher Leidenschaft und nicht zuletzt mit den Mitteln, die uns diese digitale Welt bietet.
Man kann mittlerweile in 3D durch das historische Berlin laufen, und man kann sehen, wo die unüberwindliche Mauer stand. Es gibt viele Filme, Tondokumente, Bilder, die überall im Internet abgerufen werden können. Nehmen Sie z. B. das aus meiner Sicht vorbildliche Schulprojekt, das der Landesbeauftragte gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern angestoßen hat! Das ist eine tolle Idee, auch deshalb, weil heute alle Jugendlichen über ein Smartphone verfügen, womit man nicht nur fotografieren, sondern auch gleich alle Inhalte weiter miteinander teilen kann.
Lieber Martin Gutzeit! Ich glaube an das gute Wort, nach dem die Menschen ihre Geschichte selbst machen. Ich würde hier nicht stehen und könnte hier nicht reden, wenn die Ostdeutschen nicht vor 28 Jahren das Schicksal in die eigene Hand genommen hätten. Ich als im Westen Geborene hätte niemals in die Heimatstadt meines Vaters ziehen können. Meinen Weißenseeer Kiez hätte ich nie kennen- und nie lieben gelernt. Ich könnte mir nicht von Nachbarn, Freunden und Bekannten berichten lassen, wie das damals in den Zeiten der Diktatur war, die ich selbst nicht erlebt habe und die ihren verdienten Platz auf dem Müllhaufen der Geschichte gefunden hat und die wir nie vergessen dürfen.
Vielen Dank! – Für die Fraktion der CDU hat jetzt der Abgeordnete Herr Dr. Juhnke das Wort. – Bitte schön!
Sehr geehrte Frau Präsidentin, vielen Dank! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gutzeit! Wir haben diese Debatte hier regelmäßig, aber heute ist es eine ganz besondere, und darauf werde ich noch im Laufe meiner Rede eingehen.
Zunächst will ich kurz ein paar Dinge zum Tätigkeitsbericht sagen. Der ist natürlich immer eine lohnende Lektüre, und ich möchte daraus etwas zitieren, was wiederum ein Zitat aus einem anderen Bericht ist. Dort wird gesagt:
Die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere mit Blick auf die nachwachsenden Generationen, die keine eigenen Erfahrungen mit der Zeit der deutschen Teilung besitzen, erfordern eine stetige Weiterentwicklung der Instrumente der Auseinandersetzung mit der SEDDiktatur.
Das heißt also, wir haben mittlerweile viele junge Menschen, die das alles nicht mehr aus eigenem Erleben kennen, und umso wichtiger ist es, dass wir die Vermittlung weiter vorantreiben, dass wir die Dinge nicht mit einer wie auch immer gearteten Schlussstrichdebatte versehen, wie sie ja vielleicht auch hier so ein bisschen angestrebt war, wenn ich an die Causa Holm denke, dass wir uns immer wieder damit auseinandersetzen müssen, was damals geschehen ist, und dass wir uns auch dieser ekelhaften Ostalgie entgegenwenden, die dann irgendwo in ein Gefühl mündet, wo man sagt: Na ja, man war dort zwar eingesperrt, aber es war irgendwie auch gemütlich. – Dem müssen wir uns entgegenstellen.
Wir erkennen immer wieder bei Stichproben oder bei Gesprächen mit jüngeren Menschen eklatante Wissensmängel. Das beschränkt sich leider nicht nur auf jüngere Menschen, es sind teilweise auch ältere Menschen, die sich damit nicht mehr auseinandergesetzt haben oder die das alles vergessen haben. Also, es gibt sehr viel zu tun, und deshalb ist es sehr richtig zu sagen, dass die Aufarbeitung des Erbes der SED-Diktatur eine fortdauernde gesellschaftliche Aufgabe bleibt. Das sind wir nicht nur den vielen Millionen Menschen schuldig, die in der DDR um ihre Lebenschancen betrogen wurden, sondern das sind wir uns auch selbst schuldig, damit wir auch in der Zukunft in einer Demokratie leben können. Deswegen gibt es verschiedene Kernaufgaben, die der Landesbeauftragte in der Vergangenheit bearbeitet hat: Beratung, Förderung, Bildung und historische Aufarbeitung. Aus der Vergangenheit lernen heißt vor allem, die kommenden Generationen zu informieren.
Aber es gibt auch noch viel bei der Frage der Rehabilitierung und Wiedergutmachung zu tun. Auch dort sind wir auch nach so vielen Jahren nach der Wende immer noch nicht dort angelegt, wo wir vielleicht angelangt sein wollten. Es gibt Optimierungsbedarf auch bei den Bearbeitungszeiten, bei der Einsichtnahme in Unterlagen, bei der
Stasi beispielsweise. Wir müssen deshalb weiterhin die intensive Zusammenarbeit mit den Berliner Verfolgtenverbänden betreiben und diese auch fördern.
Kommen wir zum Thema politische Bildung. Wir haben mit der Gedenkstätte Hohenschönhausen natürlich einen ganz hervorragenden Ort, um die Schrecken der SEDDiktatur deutlich zu machen. Wir stellen fest, dass dieser Ort aus allen Nähten platzt. Es gibt immer wieder die Situation, dass Gruppen dort zurückgewiesen werden müssen, weil die Kapazität nicht ausreicht, weil schon viele andere Besucher vor Ort sind und so weiter. Aus diesem Grund rege ich an und will das hier auch noch einmal deutlich machen, dass wir die Chance nutzen sollten, die uns das Polizeigefängnis in der Keibelstraße bietet. Es darf nicht nur ein Ort werden, an dem sich Schulklassen informieren. Das ist zwar gut, aber nicht hinreichend. Wir müssen diesen Ort zu einem Gedenkort machen, der allen zur Verfügung steht.
Dieser Ort ist durch seine Authentizität – ein Beispiel dafür mag sein, dass dort auch viele Filme gedreht wurden, sich der Eindruck eines Gefängnisses dort auch ganz deutlich darlegt –, durch seine Lage in der Nähe des Alexanderplatzes ein ganz besonders geeigneter, herausgehobener Ort, den wir tatsächlich für diese Art der Weiterbildung nicht verschenken dürfen.
Wir müssen uns auch über den Campus für Demokratie unterhalten. Wir haben hier im Haus einen Antrag vorgelegt, dass wir dort endlich handeln wollen und die Ertüchtigung voranbringen müssen. Der 30. Jahrestag der Besetzung der Zentrale der Stasi jährt sich im Jahr 2020. Es sollte uns ein Ansporn sein, dort dann zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zu handeln.
Es muss eine landeseigene Projektgesellschaft gegründet werden, die den Auftrag hat, das Gelände des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit zu einem Lern- und Gedenkort zu entwickeln. In diesem Sinn sollten wir uns gemeinsam vereinbaren.
Insoweit danke ich für den Bericht und komme mit einigen Worten zu der Novelle des Berliner Aufarbeitungsbeauftragtengesetzes. Wir haben dieses Gesetz vor 20 Jahren das letzte Mal novelliert. Was bewährt ist und auch gleich bleibt, ist die Unabhängigkeit der Stelle, weil das die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Arbeit des Beauftragten ist. Diese wollen wir natürlich sichern. Neu ist die Namensänderung. Sie ist aber nicht nur ein Etikettenaustausch, sondern es geht hier um eine breitete Perspektive, wenn wir von den Stasi-Unterlagen hinkommen zu einem Beauftragten für alle Aspekte der SED-Diktatur, das heißt also, dass die politischen, die gesellschaftlichen und die alltäglichen Facetten der DDRDiktatur dann beleuchtet werden sollen. In dieser neuen
Für mich ist ganz wichtig – das ist folgerichtig –, dass daraus auch resultiert, dass wir eine unbefristete Existenz dieser Behörde geschaffen haben und uns nicht immer wieder weiter an den Verlängerungen entlang hangeln, die regemäßig ausgesprochen worden. Jetzt hat man hier aber tatsächlich die Konsequenz gezogen und gesagt, dass es dauerhaft so bleiben soll.