Protokoll der Sitzung vom 19.11.2020

Weitere Zurufe von der SPD,

der LINKEN und den GRÜNEN]

Herr Wild! Ich erteile Ihnen jetzt den nächsten Ordnungsruf, weil Sie erneut ohne Maske im Plenarsaal unterwegs sind.

Sie können mit Ihrem Chef sprechen, der hat die Bescheinigung vorliegen.

[Sabine Bangert (GRÜNE): Der muss jetzt mal raus! – Weitere Zurufe]

Kann ich anfangen? – Reden Sie mit Wieland! Ist doch Quatsch!

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Türkei hat eine staatliche Wohnungsbaubehörde, Toplu Konut İdaresi, kurz TOKI. TOKI macht etwas, das es in Deutschland bislang nicht gibt: TOKI baut Sozialwohnungen. Laut Wikipedia wurden bis 2012 bereits über 500 000 Wohnungen übergeben.

[Lachen bei der LINKEN]

TOKI plant, bis zum hundertsten Geburtstag der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 2023 die millionste Wohnung fertigzustellen. Der Clou an der Sache:

TOKI vermietet die Wohnungen nicht an türkische Bürger mit niedrigem Einkommen, TOKI verkauft die Wohnungen an Bürger mit niedrigem Einkommen. Gleichzeitig erhalten die Bürger einen sehr günstigen staatlichen Kredit in Höhe der Kaufsumme. Statt Miete zu zahlen, tilgen die sozial schwachen Bürger ihren Kredit beim türkischen Staat. Auch wenn das lange dauert, wohnen sie ab sofort in ihrer eigenen Wohnung. Für den Staat gibt es übrigens wenig Risiko, wie Herr Kollege Dr. Nelken es schon berichtet hat.

Ein Bürger, der in seinen eigenen vier Wänden lebt, verhält sich in der Regel anders als ein Mieter. – Gut zuhören, Sie da bei den Linken! – Er geht verantwortlich mit dem Haus und der Wohnung um. Er hat ein Ziel vor Augen, nämlich spätestens zum Rentenalter die Wohnung abbezahlt zu haben. Er, oder sie, hat die Gewissheit, einmal seinen Kindern die Wohnung zu vererben. – Was glauben Sie, meine Damen und Herren? Wählen Wohnungseigentümer die Linken oder die Grünen?

[Frank-Christian Hansel (AfD): Weder noch, würde ich sagen!]

Richtig, Herr Kollege!

[Paul Fresdorf (FDP): Das war doch jetzt abgesprochen!]

Deshalb sind all Ihre Bemühungen verlogen. Sie wollen die Unzufriedenheit der sozial Schwachen. Sie wollen keine Emanzipation, Sie wollen das Leid der von Obdachlosigkeit Bedrohten. Deshalb, nur deshalb wollen Sie viele Mieter, viele unzufriedene Mieter in Berlin. Keinesfalls wollen Sie Menschen tatsächlich zu einer soliden Grundlage verhelfen. Eine solide Grundlage für einen erwachsenen Menschen besteht im Wesentlichen aus drei Aspekten: einer soliden Ehe, einem festen Glauben und einem eigenen Haus. Deshalb stimme ich dem Antrag der FDP zu. – Danke schön!

[Zuruf von Joschka Langenbrinck (SPD) – Zurufe von der LINKEN]

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Vorgeschlagen wird die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Stadtentwicklung und Wohnen sowie an den Hauptausschuss. – Widerspruch hierzu höre ich nicht. Dann verfahren wir so.

Es ist jetzt 16.06 Uhr. Wir würden jetzt die nach sechs Stunden vorgesehene Lüftungspause machen. Ich darf Sie bitten, den Plenarsaal dazu zu verlassen. Wir setzen die Sitzung um 16.36 Uhr fort.

[Sitzungsunterbrechung von 16.06 Uhr bis 16.39 Uhr]

(Katrin Schmidberger)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte, jetzt wieder in den Plenarsaal zu kommen und die Plätze einzunehmen. – Wir setzen die Sitzung fort. Ich rufe auf

lfd. Nr. 3.6:

Priorität der Fraktion der SPD

Tagesordnungspunkt 39

Gewalt an Frauen und Mädchen entschlossen entgegentreten

Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP auf Annahme einer Entschließung Drucksache 18/3154

In der Beratung beginnt die Fraktion der SPD. – Frau Dr. Czyborra, Sie haben das Wort!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Ein ziemlich leeres Haus hier! Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, häufiger vor leeren Sälen zu reden – es geht ja um Frauenpolitik. – Sehr verehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich sehr, wieder einmal über Frauenpolitik reden zu können, und wünsche der Kollegin Çağlar, die gerne selbst geredet hätte, sehr gute Besserung.

Ich freue mich, dass es diesen Antrag gibt. Vielleicht hätte man ihn im Detail, in der Sache so nicht gebraucht, aber Koalition und Opposition setzen hier ein Signal kurz vor dem alljährlichen Tag gegen Gewalt an Frauen – bei diesem für unsere Gesellschaft, wie ich finde, wirklich erbärmlichen Thema der Gewalt, der sich täglich Mädchen und Frauen in unserer ach so zivilisierten Welt ausgesetzt sehen. Wie kann das überhaupt sein? Warum geht nicht täglich ein Aufschrei durch die Parlamente und den Blätterwald? Warum wird jeder Verkehrsunfall berichtet, aber wir lesen nicht täglich von den Übergriffen auf Frauen, obwohl solche Übergriffe täglich stattfinden? – Weil es hinter verschlossenen Türen stattfindet,

[Zuruf von Gunnar Lindemann (AfD)]

weil die Opfer anonym bleiben, weil sie still und heimlich irgendwann verschwinden im Frauenhaus, aber oft erst nach Jahren des Martyriums. Es ist Ausdruck einer Machokultur, und nicht von Zivilisation.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Es ist dieser Wahn, dass viele Männer meinen, sie hätten die besseren Rechte, sich drei Viertel vom Kuchen zu nehmen, es ist dieses Gefühl der Bevorrechtigung, sich zu bedienen: bei den Karrieren, bei der Macht, der Verteilung des Geldes, der Chancen und eben auch bei Frauen. Es fängt dort an, wo wir zulassen, dass Mädchen beiseitegedrängt und belästigt werden. Die alltägliche Gewalt

ist kein Ausrutscher von einigen wenigen in der Pandemie leider so unter Druck stehenden und ansonsten ganz verträglichen Exemplaren – nein, die häusliche Gewalt ist leider die Spitze des Eisbergs einer immer noch männlichen Gesellschaft, in der man jungen Kolleginnen die Kompetenz abspricht, in der Mann sich vordrängelt, überbrüllt, überstimmt, rücksichtslos die eigenen Interessen durchsetzt. Das passiert nicht irgendwo in den Schmuddelecken dieser Gesellschaft, sondern in Schulen, Hochschulen, Institutionen, im Alltag, im öffentlichen Nahverkehr und in den Büros. In diesem Sinne ist jede Handlung, die die Rechte, Selbstbestimmung und Würde von Frauen herabsetzt, der Nährboden, auf dem die Gewalt gedeihen kann.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Seit ich diesem Haus angehöre, haben wir den bis dahin lange stagnierenden Frauenetat massiv angehoben, Frauenhausplätze ausgebaut – und wir bauen weiter aus. Eine als Nothilfe betriebene Unterkunft wird das siebente Frauenhaus, das achte Frauenhaus wird saniert, ein neuntes Frauenhaus steht mittelfristig bereit. Der Ausbau, egal ob in Form von Frauenhäusern, Zufluchtswohnungen oder Zweite-Stufe-Wohnungen, wurde vorangetrieben, ebenso Beratungsinfrastruktur, die Gewaltschutzambulanz, der Kinderschutz. Aber es reicht nie. Mit jedem Schritt wird das zugrunde liegende Elend sichtbarer, und die Zahlen sinken nicht, sie steigen: zwischen 2015 und 2019 um 11,2 Prozent nach den neuesten Zahlen.

Die Notwendigkeit von immer mehr Schutzplätzen für von Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder ist mehr als bedenklich. Die Folgen sind für die gesamte Gesellschaft verheerend, denn die Folgen der Gewalt bleiben lebenslänglich in den Seelen der Betroffenen und hindern diese am Bildungserfolg und an der Teilhabe an der Gesellschaft. Betroffene brauchen schnellstmöglich Hilfe und Schutz. Das hat unsere Senatsverwaltung auch unter schwierigen Pandemiebedingungen sichergestellt und innerhalb von kürzester Zeit Notunterbringungsplätze im notwendigen Umfang geschaffen – dafür vielen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Neben der Infrastruktur geht es in dem Antrag aber auch um die Kommunikation der Angebote. Gewalt findet zunehmend im Netz statt. Wenn wir eine Corona-App entwickeln können, können wir nicht auch jedes Smartphone mit einer Notfall-App für häusliche Gewalt ausliefern? – Geben Sie einmal in ihrem – wie heißt das? – Google Play Store das Wort „Frauen“ ein! Da bekommt das Wort „Play Store“ eine ganz neue Bedeutung, kann ich Ihnen sagen.

Ich möchte, dass jedes Mädchen, das eine Berliner Schule besucht hat, weiß, dass es das Recht auf ein gewaltfreies Leben und das Recht auf Unterstützung bei familiärer Gewalt hat, und wo es diese Unterstützung finden kann.

Ferner möchte ich, dass wir eine offene Mädchenarbeit in der Jugendarbeit haben, intensivieren, viele Angebote schaffen und damit die jungen Mädchen stark machen. – Auch nach diesem Tag bleibt also noch sehr viel zu tun, und zwar in vielen Ressorts. Ich freue mich, dass wir mit dem heutigen Antrag ein starkes Signal setzen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Für die CDU-Fraktion folgt Frau Kollegin Seibeld.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November sprechen wir heute über Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist durch überhaupt nichts zu rechtfertigen.

[Beifall bei der CDU, der LINKEN und der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Der Großteil dieser Gewalt findet nach wie vor im Verborgenen statt, und zwar ausgerechnet in dem Bereich, den man als persönliche Schutzzone wahrnimmt, und wo Liebe und Sicherheit normal sein sollten, nämlich in der eigenen Familie.

2014 ist die Istanbul-Konvention in Kraft getreten. Sie definiert einen europaweit einheitlichen Rahmen für Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung. Hierin sind Maßnahmen des Gewaltschutzes und der Unterstützung für die Opfer, aber auch rechtliche Regelungen zur Ermittlung und Verfolgung von Straftaten sowie ein Monitoring und statistische Erhebungen manifestiert. Seit 1. Februar 2018 gilt die Istanbul-Konvention auch in Deutschland.

Aber wo stehen wir aktuell? – Ich möchte gerne mit einigen Zahlen beginnen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibt an, dass jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt ist. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder einen früheren Partner.

Den Umfang und die Ausprägung von Gewalt in Paarbeziehungen zeigt die kriminalistische Auswertung des Bundeskriminalamts jährlich seit 2015 auf. Erst in der vergangenen Woche sind die Zahlen für das Jahr 2019 veröffentlicht worden. Fast 115 000 Frauen bundesweit sind Opfer entsprechender Gewalt – in der Partnerschaft sogar 81 Prozent dieser Frauen – gewesen. Die Hälfte der Opfer lebt mit dem Täter in einem gemeinsamen Haushalt. Dabei sprechen wir über Delikte in dem Spektrum

von Körperverletzung bis hin zu Mord. Mehr als 300 Frauen mussten im vergangenen Jahr aufgrund von Gewalt in der Partnerschaft sterben. Diese Zahlen sind nicht nur erschreckend, sie sind alarmierend. Hinzu kommt, dass es nur die Hellfelddaten sind; wir wissen gar nicht, wie hoch die Dunkelziffer ist.

In diesem Jahr kamen noch die Coronapandemie und der Lockdown hinzu, die das Problem verschärft haben. Kontaktbeschränkungen, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, finanzielle Sorgen, wenig Rückzugsmöglichkeiten, häusliche Stressfaktoren – all das sind Punkte, die die Gefahr häuslicher Gewalt noch verschärft haben. Die Gewaltschutzambulanz in der Charité, die Verletzungen niederschwellig und auch ohne polizeiliche Anzeige dokumentiert und untersucht, meldet besonders viele Verletzungen. Und zwar gab es auf dem Höhepunkt der Lockerungen im Juni infolge des Lockdowns aus dem März und April im Vergleich zum Vorjahresmonat einen Anstieg der Fälle um 30 Prozent.