Protokoll der Sitzung vom 06.04.2017

Es wird die Überweisung des Antrags sowie des Änderungsantrags der Fraktion der CDU federführend an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie und mitbera

tend an den Ausschuss für Integration, Arbeit und Soziales empfohlen. Widerspruch dazu höre ich nicht. – Dann verfahren wir so.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 3.6:

Priorität der Fraktion der FDP

Tagesordnungspunkt 10 B

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses „Der Anschlag vom 19.12.2016 am Breitscheidplatz. Vorgeschichte, Abläufe und Folgerungen für das Land Berlin“

Dringliche Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Geschäftsordnung, Verbraucherschutz, Antidiskriminierung vom 5. April 2017 Drucksache 18/0275

zum Antrag der Fraktion der FDP Drucksache 18/0097

Der Dringlichkeit hatten Sie bereits eingangs zugestimmt. In der Beratung beginnt die Fraktion der FDP, und zwar der Kollege Luthe. – Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der – ich denke, da sind wir uns sicher alle einig – schreckliche und dramatische Anschlag am Breitscheidplatz liegt jetzt 108 Tage zurück. 108 Tage, in denen wir eine Aufklärung gesucht haben, in denen wir Fragen gestellt haben, in denen die Presse Fragen aufgeworfen hat, in denen wir in den Ausschüssen Fragen aufgeworfen haben. Angeblich sind wir uns alle einig in dem Punkt, dass das aufgeklärt werden muss. Ich sage „angeblich“, denn wenn der Senat erst 108 Tage später darauf kommt, sein eigenes Verhalten durch einen von ihm selbst eingesetzten Ermittler untersuchen zu lassen, dann ist das 107 Tage zu spät.

[Beifall bei der FDP und der AfD]

Wir haben vorhin in der Fragestunde einmal mehr – wie schon im Innen- und im Rechtsausschuss und auch im Ausschuss für Verfassungsschutz – erlebt, dass immer wieder das eingeräumt wird, was Journalisten und wir selbst durch Akteneinsicht schon herausgefunden haben und sich nicht mehr leugnen lässt. Das ist keine vertrauensstiftende Maßnahme. Das Vertrauen der Menschen darin, dass wir Sicherheit in der Stadt so gut wie möglich gewährleisten können, ist durch diesen Anschlag erschüttert worden. Wir müssen dieses Sicherheitsgefühl der Menschen wieder stärken, indem wir Vertrauen schaffen. Vertrauen schafft man durch Offenheit, durch Transparenz. Dieser Begriff taucht in Ihrem Koalitionsvertrag oft auf, aber er wird – wie ich auch an den Antworten auf meinen Anfragen sehe – sehr wenig gelebt. Frau Bayram hat im Rechtsausschuss noch sehr richtig gesagt: Wenn

(Bettina Jarasch)

wir wirklich Transparenz und Aufklärung wollen, dann müssen wir alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. – Da bin ich völlig bei Ihnen, liebe Kollegin Bayram. Genau darum geht es.

Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass der Senat versucht, selbst etwas zu untersuchen. Das wäre längst erforderlich gewesen. Aber es ist unsere Aufgabe als Parlament, Regierungshandeln zu kontrollieren. Es ist unsere Aufgabe als gewählte Vertreter des Volkes, der Bevölkerung von Berlin Antworten auf jede einzelne ihrer Fragen zu verschaffen. Diese klare Pflicht des Parlaments können wir nicht an einen Sonderermittler der Regierung delegieren, der die Regierung selbst untersuchen soll. Das ist schlicht grotesk.

[Beifall bei der FDP und der AfD]

Wir haben sehr viele Fragen im Innenausschuss aufgeworfen. Die Beantwortung hat sich in der Regel dadurch erledigt, dass es hieß: Dazu können wir noch nichts sagen. Hier dauert ein Verfahren noch an. Hier können wir Ihnen auch keine Auskunft geben. Jemand anderer ist zuständig usw. usf. – Das ist genau nicht die Aufklärung, das ist genau nicht die Transparenz, die die Opfer des Breitscheidplatzes – sowohl die Toten als auch die Verletzten und die traumatisierten Familien – von uns erwarten oder verdient haben.

[Beifall bei der FDP und der AfD]

Ungeachtet dessen stellen wir fest, dass der Senat – sekundiert von Rot-Rot-Grün und der CDU, wohlgemerkt, nicht durch einen Beschluss dieses Parlaments – erklärt, man könne alternativ einen Sonderermittler einsetzen. Ich bin wieder bei Frau Bayram: Warum nicht beides? – Ich kenne keinen einzigen Grund, warum Sie nicht auf sämtlichen Wegen – denn wie Sie richtig gesagt haben: Wer Aufklärung will, nutzt alle Wege – gleichzeitig und sofort damit loslegen, denn das schulden wir den Menschen in dieser Stadt.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der AfD]

Wir haben als Ergebnis festzustellen – deswegen ist es uns ein besonderes Bedürfnis, gleich in namentlicher Abstimmung deutlich zu machen, wer an Aufklärung durch das Parlament interessiert ist, die wir hiermit ausdrücklich noch einmal beantragen –, wie, wann und wie schnell alle Fragen beantwortet werden können. Dazu müssen wir jeden Weg gehen. Die Antworten im Innenausschuss haben eines gezeigt: Es sind viele Fragen gestellt worden. Es sind bisher auf keine einzige Frage Antworten vorgelegt worden, die in irgendeiner Weise befriedigend sind. Insofern können wir konstatieren – damit schließe ich, das sollte Ihnen gefallen, mit Bert Brecht –:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Das ist auch weiterhin so. Diesen Vorhang der Täuschung, diesen Mantel des Schweigens müssen wir endlich lüften.

Herr Kollege! Sie müssten zum Schluss kommen!

Vielen Dank! – Dazu brauchen wir ausschließlich und wesentlich einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, den wir hier beschließen sollten. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP und der AfD]

Vielen Dank! – Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Zimmermann das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Luthe! Den Mantel des Schweigens, den Sie hier bemühen, den gibt es vielleicht in Ihrer Vorstellung, aber nicht in der Realität.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Luthe?

[Heiterkeit bei der SPD]

Nein, jetzt nicht, ich fange ja gerade erst an. Jetzt nicht, Frau Präsidentin! – Ich will betonen: Seit Senator Andreas Geisel im Amt ist, ist Transparenz in dieser Sache das oberste Gebot. Wir werden – das können Sie bestätigen, Herr Luthe, Sie wollen es nur nicht – im Innenausschuss jeden Schritt der Aufklärung und der neuen Erkenntnisse mitgeteilt bekommen –, und zwar so umfassend es irgend geht. Das ist nicht etwa Verschweigen und Vertuschen, sondern das ist Transparenz von Anfang an. Dafür sind wir dem Innensenator dankbar.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Dem Prinzip der Transparenz ist immanent, wenn man von Beginn an offenlegt, dass Erkenntnisprozesse dann auch nach und nach deutlich werden, und nicht erst alles vorgelegt wird, wenn alles fertig ist. Innerhalb der Transparenz liegt, dass es unzureichend sein muss, wenn der Prozess voranschreitet. Deswegen können Sie das auch, verehrter Herr Luthe, dem Senat nicht vorwerfen.

(Marcel Luthe)

Herr Kollege! Gestatten Sie Zwischenfragen von Herrn Woldeit und Herrn Krestel?

Nein, Frau Präsidentin! Wir können gegen Ende meiner fünf Minuten Redezeit noch einmal darauf zurückkommen. – Ich will es nicht ausschließen, aber ich will vortragen, was hier zentral ist: dass die Bewertung des Amri in der Zeit der ganzen Observationen im ganzen letzten Jahr unter der politischen Verantwortung des Senators Henkel fehlerhaft war. Die Frage lautet, ob das vorwerfbar ist. Das müssen wir untersuchen anhand der einzelnen Vorgänge, wie sie bisher offengelegt sind, wie sie aber noch weiter detailliert untersucht werden müssen. Wir wissen – das haben der Senator, der Polizeipräsident und andere eingeräumt –, im Nachhinein gesehen, dass wir den falsch eingeschätzt haben. Nur: Konnte, musste man es zum Zeitpunkt April, Mai, September anders bewerten – ja oder nein. Konnte man es? – Das müssen wir untersuchen. Bisher gibt es für diese Vorwerfbarkeit keine hinreichenden Anhaltspunkte. Aber das haben wir alles auch schon im Ausschuss besprochen.

Zweitens: Wir haben strukturelle Defizite bei der Behandlung bundesweit festgestellt. Es gibt sicher eine zutreffende Debatte darüber, ob man nicht die Zuständigkeit für identifizierte Gefährder im Bund zusammenfassen muss, um damit eine einheitliche Zuständigkeit und ein besseres Agieren zu bekommen. Das heißt nicht, dass den Ländern etwas weggenommen werden muss, aber es muss eine klare Zuständigkeitsverteilung sein. Deswegen wird auch auf Bundesebene und auf der IMK darüber gesprochen, was dort geschieht. Schließlich müssen möglicherweise auch einzelne Korrekturen im Aufenthaltsrecht stattfinden. Das wird alles besprochen. Es wird besprochen, welche Konsequenzen daraus folgen. Das wird längst besprochen.

Deshalb komme ich zum nächsten Punkt. Wenn die Diskussion bereits läuft, und wir im Bund und in anderen Ländern bereits Vorgänge haben, müssen wir uns überlegen, mit welchem Instrument wir kommen. Da, Herr Luthe, ist es nicht richtig zu sagen, es müssten alle möglichen Instrumente eingesetzt werden. Wir sagen: Es geht um ein geeignetes Instrument und um ein adäquates. Da ist ein Ziel, dass wir nicht zwei oder drei Jahre warten, bis wir Erkenntnisse haben. Das ist nämlich zu lang. Solange können wir nicht warten in dieser Sache. Wir wollen in diesem Jahr, möglichst bis zum Sommer, einen Zwischenbericht haben, und wenn es geht, bis Ende des Jahres einen Abschlussbericht, damit wir frühzeitig und schnell Konsequenzen ziehen können. Deshalb ist der Sonderermittler das hier geeignetere Instrument als der Untersuchungsausschuss.

[Beifall bei der SPD – Beifall von Udo Wolf (LINKE)]

Sie formulieren hier einen langen Text, seitenlang, 153 Fragen in einem Untersuchungsauftragstext, damit das hier nach etwas aussieht. Wir wollen die fünf bis acht entscheidenden Sachverhaltskomplexe untersucht wissen, von einer unabhängigen Institution. Herr Jost ist unbestritten unabhängig und weisungsunabhängig. Wir wollen schnell Erkenntnisse haben und das nicht in einem langwierigen Prozess verwässert wissen. Schließlich kann ein Sonderermittler nicht nur schneller, sondern vielleicht auch tiefergehend ermitteln und uns erhellende Erkenntnisse liefern. Uns steht ohnehin frei, hinterher als Abgeordnetenhaus oder auch während des Prozesses, eine Bewertung vorzunehmen. Das ist sowieso unser Job.

Schließlich: Die Beteiligung des Parlaments, die Sie hier so hochhalten, die wichtig ist, ist hierdurch natürlich nicht ausgeschlossen, sondern geradezu gewährleistet. Wir werden im Innenausschuss darauf achten, dass wir unsere – auch Ihre – Fragen in den Untersuchungsprozess durch den Sonderermittler mit einfließen lassen, und damit, wie wir hoffen und glauben, tatsächlich ein geeignetes Verfahren in Gang setzen. Anschließend werden wir die Ergebnisse hier beraten. Unter all diesen Gesichtspunkten ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nicht erforderlich. Deswegen werden wir Ihrem Antrag auch nicht folgen. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Jetzt hat der Kollege Luthe das Wort zu einer Zwischenbemerkung.

Sehr verehrter Herr Kollege Zimmermann! Wir haben gerade ganz wunderbar dokumentiert bekommen, welch unterschiedliches Verständnis von Parlamentarismus wir hier erleben.

[Torsten Schneider (SPD): Das ist TOP 4!]

Ich bin der Auffassung – das ist generell auch der liberale Ansatz –: Selbst denken macht schlau. Es ist unsere Aufgabe als Parlament, selbst aufzuklären, denn dafür sind wir gewählt worden:

[Beifall bei der FDP und der AfD]

das Volk zu vertreten und dem Volk an dieser Stelle Gehör zu verschaffen. Es ist nicht Aufgabe der Regierung, sich selbst zu kontrollieren, sondern das ist Aufgabe des Parlamentes – und zwar nicht in ein, zwei oder drei Jahren, sondern schnellstmöglich. Das müssen wir sicherstellen.

[Beifall von Holger Krestel (FDP)]