Protokoll der Sitzung vom 06.04.2017

Tagesordnungspunkt 23

Ein Jugendfördergesetz für Berlin

Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 18/0246

In der Beratung beginnt die Fraktion der SPD. – Frau Abgeordnete Kühnemann, Sie haben das Wort!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Sie müssen noch ein paar Kollegen reinholen! Ihr seid sonst zu wenig! – Zuruf von Torsten Schneider (SPD)]

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Berlin wächst, und Berlin wird jünger. Schon heute leben über 720 000 Kinder und Jugendliche in unserer Stadt. Bis 2030 werden weitere 50 000 junge Menschen dazukommen.

[Zuruf von Oliver Friederici (CDU)]

Es braucht also eher ein Mehr an Strukturen als ein Weniger. Es ist aber nicht nur der Umstand, dass wir in einer wachsenden Stadt leben, der ein Jugendfördergesetz nötig macht. Diese Woche haben wir übrigens den 25. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention gefeiert – eine gute Woche, wie ich finde, um auch hier über Ansprüche von Kindern und Jugendlichen zu sprechen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Jeder junge Mensch hat nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz einen Anspruch auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Dazu gehören vor allem Angebote der offenen Jugendarbeit aber auch der Jugendverbandsarbeit. Viele von uns haben ihre ersten politischen Erfahrungen in der Jugendverbandsarbeit gesammelt oder vielleicht auch in einer Jugendfreizeitstätte. Die Jugendarbeit bietet jungen Menschen Freiräume außerhalb der Familie, ohne Aufsicht der Eltern, frei von formalen Bildungsanforderungen von Schule und Ausbildung. Kinder und Jugendliche brauchen diese

(Senator Dr. Dirk Behrendt)

Freiräume. Diese müssen in der Nähe sein, sie müssen sie selbstbestimmt nutzen können. Sie müssen diese Räume selbst gestalten und eigenverantwortlich organisieren können. Nur dann kann sich ihre Persönlichkeit frei entfalten. Es geht darum, sich selbst zu erproben, demokratische Aushandlungsprozesse miteinander zu erleben und die Welt selbst zu gestalten.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Die außerschulische kulturelle Bildung und die Jugendverbandsarbeit leisten dazu einen unverzichtbaren Beitrag zur Bildung, Integration und vor allem zur Demokratie. Hier gilt der Dank der SPD-Fraktion den vielen Ehrenamtlichen, die sich vor allem in der Jugendverbandsarbeit jeden Tag einsetzen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Hier wachsen Menschen heran, die sich einmischen, die unsere Demokratie so dringend braucht. Jetzt kann man fragen: Warum braucht man jetzt ein Jugendfördergesetz? Passiert doch alles! Machen wir doch schon!

[Paul Fresdorf (FDP): Na ja!]

Die Regelungen des Berliner Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes legen aber leider nur fest, dass 10 Prozent der für die Jugendhilfe bereitgestellten Mittel für die Jugendarbeit eingesetzt werden sollen. Die vielen Juristen unter uns wissen: kann, soll, muss. Diese gesetzliche Vorgabe konnte nicht verhindern, dass der Anteil in den bezirklichen Budgets für die Jugendarbeit in den vergangenen Jahren gesunken ist.

Auch der Umfang der Aufgaben von Jugendarbeit wurde nicht weiter definiert. Deshalb bin ich dankbar, dass die zuständige Senatorin Scheeres und ihre Senatsverwaltung ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, das zu dem Ergebnis kommt, dass es einer neuen Fördersystematik bedarf, um die Jugendarbeit und die Jugendverbandsarbeit auf Landes- wie auf Bezirksebene bedarfsgerecht zu finanzieren.

[Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Das Gutachten von Prof. Wiesner und Prof. Schlüter zeigt auch, wie die gesetzliche Verantwortung Berlins wahrgenommen und eine standardgerechte Finanzierung der Berliner Jugendarbeit in den Bezirken und auf Landesebene sichergestellt werden kann. Die im Gutachten vorgeschlagene Fixierung von Standards verhindert die weitere Abwärtsspirale bei der Finanzierung der Angebote durch die Bezirke. Gleichzeitig ermöglicht die im Gutachten vorgeschlagene Aufstellung von Jugendförderplänen auf Landes- wie Bezirksebene eine transparente politische Schwerpunktsetzung.

Es mag sein, dass jetzt Rufe aus den Bezirken kommen, dass es ein unzulässiger Eingriff in Bezirksangelegenheiten ist. Ich kann das nachvollziehen. Ich habe selber

15 Jahre Kommunalpolitik betrieben und bin ein großer Fan der zweistufigen Berliner Verwaltung. Wo die Situation in den Bezirken aber immer prekärer wird und immer mehr Jugendeinrichtungen schließen, braucht es verbindliche Standards, die für alle gelten.

[Beifall von Tino Schopf (SPD)]

Dass uns als SPD die Kinder- und Jugendarbeit am Herzen liegt, sehen Sie nicht nur an unserer heute angemeldeten Priorität, sondern daran, dass Rot-Rot-Grün handelt und gleich zu Beginn der Legislaturperiode das Jugendfördergesetz auf den Weg bringt.

Unabhängig davon müssen wir aber auch bis zum Inkrafttreten des Gesetzes die Budgets für die Jugendarbeit mindestens auf dem finanziellen Niveau von 2017 halten. Hier darf es keine weitere Absenkung der Budgets in den Bezirken geben.

Die neue gesetzliche Regelung der Berliner Jugendarbeit soll bis Ende 2018 in Kraft treten. Wichtig ist uns, den Entwurf mit den Bezirken, aber auch mit den vielen Akteurinnen und Akteuren der Jugendarbeit zu diskutieren. Der Zeitplan ist sehr ambitioniert, aber das Jugendfördergesetz ist dringend notwendig. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Für die Fraktion der CDU hat jetzt der Abgeordnete Herr Simon das Wort. – Bitte schön!

[Torsten Schneider (SPD): Er unterstützt das Vorhaben!]

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der letzten Wahlperiode wurde der Antrag „Kinder- und Jugendförderung gesetzlich regeln“ der Linksfraktion mehrfach in diesem Haus diskutiert. Er wurde mit den Stimmen der rot-schwarzen Koalition aus diversen Gründen abgelehnt, zuletzt vor zehn Monaten. Dann kamen die Koalitionsverhandlungen im zweiten Halbjahr, und ich darf feststellen, Die Linke hat sich durchgesetzt, nicht nur in diesem Punkt. Herzlichen Glückwunsch!

[Regina Kittler (LINKE): Bessere Argumente!]

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! Wo ist Ihre Überzeugungskraft? Wo ist Ihre Durchsetzungsstärke geblieben?

Nun also der Antrag der rot-rot-grünen Koalition – damit werden Teile des Koalitionsvertrages übernommen. Der Senat hat auf die Schriftliche Anfrage der Kollegin

(Melanie Kühnemann)

Demirbüken-Wegner Ende Februar geantwortet, dass die Planung und Umsetzung für die Erstellung eines Entwurfs darauf ausgerichtet seien, dass die neue gesetzliche Regelung der Berliner Jugendarbeit Ende 2018 in Kraft treten solle. Meine Vorrednerin hat es ja auch ausgeführt. Das heißt doch, dass der Senat an dem Referentenentwurf arbeitet. Wozu dann dieser Antrag? Meinen Sie, der von Ihnen getragene Senat würde ohne einen solchen Antrag seine Arbeiten, den Koalitionsvertrag umzusetzen, einstellen? Das würde Zeugnis geben von wenig Vertrauen zu der von Ihnen getragenen Regierung. Schade! Und das schon am Anfang der Legislaturperiode!

Auch die CDU-Fraktion will nicht, dass die Bezirke bei der Jugendarbeit weiter Jahr für Jahr weniger Mittel aufwenden, und deshalb hat völlig zu Recht die rot-schwarze Koalition der letzten Wahlperiode gegengesteuert. Knapp 8 Millionen Euro mehr für die allgemeine bezirkliche Kinder- und Jugendförderung und 2 Millionen mehr für die Initiierung und Förderung bezirklicher außerschulischer Lernorte im aktuellen Haushalt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das räumen Sie selbst in der Begründung Ihres Antrags ein, denn Sie schreiben – ich zitiere –:

Im Ergebnis dieser engagierten Arbeit konnte der Prozess der sinkenden Zuweisungen für die bezirkliche Kinder- und Jugendarbeit vorerst gestoppt werden.

Lassen Sie uns also gemeinsam bei den anstehenden Haushaltsberatungen dafür einsetzen, die Voraussetzungen für eine auskömmliche Finanzierung der Jugendarbeit in den Bezirken zu schaffen!

In Bezug auf den noch vorzulegenden Referentenentwurf und die Beratungen des Gesetzes möchte ich aber auch schon mal mit auf den Weg geben, dass es doch einen ganz großen Punkt gibt, weshalb wir da recht skeptisch sind, einen Punkt, den auch meine Vorrednerin schon angesprochen hat, nämlich die Rolle der Bezirke im Rahmen der Berliner Verwaltung. Wir meinen, dass eine weitere gesetzliche Regelung durch ein Jugendfördergesetz geeignet wäre, die zu besorgende Einengung der Entscheidungsspielräume der Bezirke umzusetzen. Wir wollen Bezirke, die maßgebliche Entscheidungskompetenzen behalten. Wenn Entscheidungsbefugte nah bei den Bürgerinnen und Bürgern sind, nutzt das den Menschen und wirkt Politikverdrossenheit entgegen. Mal sehen, ob die Ausschussberatung Ihres Antrages im Vorfeld der Beratung Ihres zu erwartenden Gesetzentwurfes uns wirklich weiterbringt! Wir sind da skeptisch. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Frau Abgeordnete Möller das Wort. – Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe heute bei diesem Thema in dieser Debatte das erste Mal richtig gute Laune, denn uns sind zwei Sachen gelungen: Wir haben im Koalitionsvertrag zu dritt einhellig gewollt, dass wir dieses Jugendfördergesetz auf den Weg bringen, und wir haben dazu noch einen Antrag gemeinsam formuliert, weil wir nämlich wollen, dass dieses Signal in die Öffentlichkeit geht. Wir wollen von Anfang an einen breiten Beteiligungsprozess mit allen Akteuren aus den Bezirken, und wir wünschen uns sehr, dass viele Menschen sich kritisch und engagiert an diesem Prozess beteiligen. Herzlich willkommen auch Sie, Herr Simon, in diesem Prozess!

[Lachen bei der FDP]

Wenn ich so zurückdenke, wie zäh, schrecklich und umständlich diese langwierigen Debatten um diesen Prozess der Finanzierung der Kinder- und Jugendfreizeit gewesen sind, wo wir uns zerlegt haben und es immer nur um Geld ging, statt um Inhalte und die zeitgemäße Weiterentwicklung dieser Angebote, freue ich mich ganz besonders, dass dieser Prozess, ein Jugendfördergesetz auf den Weg zu bringen, jetzt endlich losgeht.

[Beifall bei der LINKEN]

Und weil die Legislaturperiode noch ganz frisch ist, zur Info: Es geht um alle Betätigungsmöglichkeiten für junge Menschen, die außerhalb und unabhängig von Schule und Familie passieren. Das sind Kinderbauernhöfe, Jugendklubs, Probenräume, Kinderzentren, IT-Klubs, offene Komm-und-Geh-Angebote und vieles mehr. Das sind Orte, wo soziale Kompetenz, individuelles Können, Demokratie und politische Willensbildung gelernt werden, Orte und Räume, wo qualifizierte Menschen nicht nur in Notlagen Beistand, Unterstützung und Inspiration geben oder wo auch komplette Selbstorganisation der jungen Menschen gelebt wird wie z. B. in den Jugendeinrichtungen Drugstore und Potse in Tempelhof-Schöneberg, die aktuell von der Schließung bedroht sind, weil eine diffuse Immobilienheuschrecke anderes mit dem Gebäude vorhat, wofür eine Lösung gefunden werden muss. Auch das sind Probleme, die wir hier angehen im Land Berlin.

[Beifall bei der LINKEN und der SPD]

Der gerade veröffentlichte 15. Kinder- und Jugendbericht definiert unter dem Schlagwort „Jugend ermöglichen“ die Jugendphase als eine Zeit, in der es um Verselbständigung, Selbstpositionierung und Qualifizierung gleichermaßen geht. Er fordert die Politik auf, die strukturellen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Jugend darf nicht länger ein individuelles Bewältigungsprojekt sein. Der Bericht konstatiert sehr deutlich, dass die Jugendphase derzeit sehr stark durch Qualifizierung, also durch die schulische Bildung dominiert wird. Das Zusammendenken von Schule als Lebensort wurde noch nicht geschafft. Junge Menschen brauchen aber Freiräume neben der Schule, neben der Familie als dritte Sozialisationsinstanz,

(Roman Simon)