Baden-Württemberg relativ gut dastehen, nur ein geringer Trost sein, der hauptsächlich parteipolitisch trösten kann.
Auch die soziale Ungleichheit ist, glaube ich, ein ziemliches Armutszeugnis für Baden-Württemberg, das zu den reichsten Regionen der Welt gehört.
Wenn wir also den Vergleich mit anderen Ländern der Welt wagen und das sollten wir , dann kommen wir, glaube ich, um einen gründlichen Umbau unseres Schulwesens nicht herum. Das bedeutet für uns hier im Parlament: Wir sollten uns unter diesem Blickwinkel um einen größeren Grundkonsens in der Bildungspolitik bemühen.
Deswegen möchte ich mit meiner Rede noch einmal für die Einrichtung einer Enquetekommission werben, denn dieses Thema betrifft grundlegende Fragen, die hier im Parlament erörtert werden sollten und nicht in Talkshows, wo bei diesem Thema in der Regel wenig Gescheites herauskommt.
Was könnten sehr wichtige Fragestellungen für eine solche Enquetekommission sein? Ich möchte sie unter folgendes Oberthema stellen: Schulen in die Selbstständigkeit entlassen. Denn ausgerechnet im Schulbereich haben sich obrigkeitsstaatliches Denken und Staatsfixiertheit am längsten gehalten, und nirgendwo wird Preußens Gloria lauter und froher gesungen als in der gesamten Schulbürokratie.
In einer Zivilgesellschaft, in einer Bürgergesellschaft ist der Staat für die Lernbedingungen und nicht für das Lernen zuständig. Unter dieses Prinzip sollten wir eine solche Enquetekommission stellen. Das heißt: Unsere Schulen brauchen mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung, mehr Mündigkeit und mehr Kompetenz. Dies möchte ich anhand einiger Punkte erläutern.
Erstens sind die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulleitungen gefordert. Sie sind die Motoren, die Träger und Gewährsleute jeder bildungspolitischen Reform. Reformen funktionieren nur mit ihnen, nicht über sie hinweg. Das ist auch einer der Hauptkritikpunkte, Frau Kultusministerin, die wir an Ihrer ganzen Bildungspolitik haben. Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer stärken, und wir müssen die Schulleitungen stärken. Mittelfristig müssen wir dahin kommen, dass wir die Schulverwaltung abbauen oder zumindest gravierend umbauen, um wieder dem Erfordernis gerecht zu werden, dass unten, an den Schulen selbst, Verantwortung wahrgenommen werden kann.
Zweitens: Was die Elternhäuser betrifft, hat Kollege Oettinger sowohl bemerkenswerte als auch teilweise etwas verunglückte Vorschläge gemacht.
Die Bildungsbereitschaft und die Erziehungsbereitschaft in den Elternhäusern müssen zweifelsohne gestärkt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Lehrerschaft und Elternhaus, die in den letzten Jahrzehnten immer weiter auseinander gedriftet und teilweise zerbrochen ist, müssen wir
wieder intensivieren. Das geht aber nur, wenn die Elternschaft das Schulleben auch mitgestalten und mitverantworten kann und da gebe ich Ihnen völlig Recht, Kollege Oettinger sich von ihrer Ablieferungsmentalität, die über weite Strecken leider herrscht, und von Anspruchsdenken und Rechthaberei verabschiedet. Da sind wir im Grundsatz ganz Ihrer Meinung.
Wir müssen aber die richtigen Instrumente anwenden. Das richtige Instrument kann nur sein: Nur dort, wo es Freiheit gibt, nehmen Menschen ihre Verantwortung auch wahr, nicht aber dort, wo sie diese Verantwortung ständig auf irgendwelche Bildungspläne und Ministerialerlasse abschieben können. Denn es ist natürlich das hat schon der Philosoph Kant gesagt sehr bequem, unmündig zu sein. Nur wenn man Verantwortung nach unten gibt, ist es mit dieser Art von Bequemlichkeit vorbei.
Aber auch bei den Schülern geht es wieder um die Förderung von Leistungswillen und Lernbereitschaft. Das sagt sich immer so leicht, und es ist das Credo der konservativen Parteien. Es ist ja auch kein falsches Credo. Aber die Tatsache, dass heute in den gymnasialen Oberstufen 50 % der Schülerinnen und Schüler einer geregelten Erwerbsarbeit nachgehen und damit die Schule zu einer Freizeitveranstaltung besonderer Art machen, ist ein Problem, dem Sie sich, Frau Kultusministerin, ja noch nicht einmal widmen. Diese Trivialitäten des Schullebens gehen an Ihnen immer schnell vorbei.
Selbstständigkeit, Kreativität und Lernfreude erfordern eben Mühe und Disziplin, sie sind kein Gegensatz. Vielmehr sind Disziplin und Mühe überhaupt erst die Voraussetzungen dafür, dass man Kreativität und Freude am Lernen gewinnen kann das, was unsere Schülerinnen und Schüler wollen.
Schließlich nenne ich als vierten Punkt der Selbstständigkeit die Kommunen. Die Schulen der Zukunft brauchen weit mehr Mitspracherecht und Kompetenz unserer Gemeinden, damit die örtliche Identität der Schulen gestärkt wird das ist vom Kollegen Pfister schon ausgeführt worden und damit die Schulen in die städtischen Sozialräume eingebettet werden. Das ist, was die Zuständigkeitsfragen betrifft, eine große Herausforderung, wenn wir eine selbstständigere Schule wollen, da wir ja das Prinzip haben, dass das Land für das Personal zuständig ist und die Gemeinden für die Lernmittel und die Schuleinrichtung zuständig sind. Wenn wir also eine selbstständigere Schule wollen, müssen wir darüber nachdenken, wie diese Kompetenzen neu verteilt und neu geordnet werden.
Wir müssen ferner auch das ist vom Kollegen Oettinger schon gesagt worden die Schulen in freier Trägerschaft stärken, denn die Schulen in freier Trägerschaft sind die Motoren und Vorbilder einer Schule, die selbstständig und in Zusammenarbeit mit den Eltern erfolgreich arbeitet. Ihre Botschaft, Herr Oettinger, höre ich wohl; teilweise fehlt mir allerdings der Glaube, wenn ich jetzt mitbekomme, was die Kultusministerin zur Förderung dieser freien Schulen in letzter Zeit gesagt hat.
Neben dieser Dezentralität, die ich für das wichtigste Thema solch einer Enquete halte, wäre der zweite wichtige Komplex: Müssen unsere Schüler nicht länger gemeinsam lernen? Müssen wir sie nicht stärker individuell fördern, statt sie andauernd zu sortieren und in andere Schultypen auszusondern? Ich appelliere noch einmal an die Union: Beenden Sie diesen klassischen Streit hier dreigliedriges Schulwesen, dort Gesamtschule. Die Gesamtschulen sozialdemokratischer Provenienz sind bekanntermaßen wenig erfolgreich gewesen. Es geht darum, dass wir uns nicht mit diesen, sondern mit Schulen in anderen Ländern der Welt vergleichen. Die erfolgreichen Länder haben nun einmal alle integrative Schulsysteme. Das sollten wir alle zur Kenntnis nehmen und gewohnte Denkstrukturen mutig durchbrechen.
Drittens: zur Leistungsmessung. Nichts ist in der deutschen Bildungspolitik so beliebt wie die Diskussion um Noten und deren Abschaffung. Wir haben da eine lange Tradition. Diese können wir natürlich nicht und wollen wir vielleicht auch nicht über Bord werfen. Wir müssen die Frage ganz anders stellen. Ein Elftklässler an einem Gymnasium schreibt mindestens 30 Klassenarbeiten. Wir testen und prüfen ihn unentwegt. Die Frage ist: Messen wir auch seine wirkliche Leistungsfähigkeit? Sind das die richtigen Instrumente? Messen wir nicht vielmehr das, was er sich punktuell in sein Kurzzeitgedächtnis stopft und nach der Klassenarbeit nicht mehr weiß? Müssen wir dieses Verfahren nicht einmal auf den Prüfstand stellen?
Wir haben ja das Zentralabitur, auf das wir so stolz sind und das andere Länder nachmachen wollen. Aber ist es denn so toll, wenn wir merken, dass die Universitäten immer mehr dazu übergehen, die Studierenden eigenen Leistungstests zu unterziehen, was natürlich eine Abwertung des Abiturs bedeutet? Obwohl die Abiturdurchschnittsnoten in den letzten 30 Jahren dramatisch gestiegen sind, entsprechen sie doch offensichtlich nicht der Leistungsmessung durch die PISA-Studie. Auch dies, finde ich, sollten wir auf den Prüfstand stellen: Sind die Art und Weise und die Häufigkeit, mit der wir Tests und Arbeiten schreiben lassen und Prüfungen abnehmen, die richtige Methode, um wirklich Leistung zu messen?
Andere Länder, zum Beispiel Schweden, haben ein sehr frühes System einer sehr harten Eigenkontrolle und Eigenbeurteilung. Vielleicht ist das ein Weg, der unser System zumindest ergänzen kann.
Zum Ganztagsunterricht möchte ich keine großen Ausführungen machen. Dieses Thema steht ja anschließend auf der Tagesordnung. Ich glaube, es geht um Folgendes: Bei diesen teilweise vordergründigen Reden über Leistung dürfen wir so etwas wie soziale Kompetenz nicht einfach wegwerfen. Sie gehört genauso zur Bildung wie kognitives
Lernen. Ich meine das ist vorhin vom Kollegen Pfister schon angesprochen worden , alles, was diese soziale Kompetenz fördert, im zweiten Schulhalbjahr in den Vormittag hineinzustopfen muss den gesamten Lernzusammenhang stören und zum Schluss vielleicht sogar zerstören. Deswegen brauchen wir auf Dauer eine Ganztagsschule, in der wir das entzerren können und kognitives Lernen und soziales Lernen in einen rationalen und vernünftigen Zusammenhang bringen, der auch handhabbar ist mit der Änderung der Arbeitszeiten, die dabei für die Lehrerschaft anstehen und zu diskutieren sind.
Schließlich wäre noch die Schnittstelle zwischen Kindergarten und Grundschule anzumerken. Auch das ist im Prinzip schon ausgeführt worden. Finnland gibt 5 000 für ein Grundschulkind aus, Deutschland 3 500 . Das ist ein Missverhältnis, das, glaube ich, sehr vieles erklärt. Ich bin dem Kollegen Oettinger dankbar, dass er auch da Offenheit gezeigt hat. Das zeigt mir, dass es wichtig ist, in solch einer Enquete solche grundlegenden Fragen zu besprechen wie die, wiederum 5,5 Zeitstunden für eine Grundschule vorzusehen und den Klassenteiler herunterzusetzen.
Damit komme ich zum Schluss: Wer den Umbau des Schulsystems ernsthaft mit dem Ziel in Angriff nehmen will, dass wir uns mit den führenden Ländern der PISAStudie messen können, wird nicht darum herumkommen, mehr Ressourcen für das Bildungssystem freizumachen. Ich erinnere daran: Finnland gibt über 7 % des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus, Deutschland weniger als 5 %. Das sind angesichts unserer Haushaltslage natürlich sehr grundlegende und schwierige Fragen. Aber ich glaube, es ist wichtig und elementar, dass sich dieser Landtag fragt: Wo liegen seine Kernkompetenzen und seine Kernaufgaben? Diese liegen im Bildungsbereich. Da müssen wir den Haushalt einmal auf den Kopf stellen und fragen: Was muss der Landtag wirklich finanzieren und was nicht? Die Bildung jedenfalls muss er finanzieren. Es kann nicht angehen, dass die soziale Ungleichheit immer mehr dadurch verschärft wird, dass ein Millionenheer von Gutbetuchten ihre Kinder im Nachhilfeunterricht auf Prüfungen und Klassenarbeiten vorbereiten, und die anderen Schüler schauen in den Wind, kommen nicht mehr mit, und ihre Lebenschancen werden gemindert. Da sind große Anstrengungen notwendig.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass ich Sie überzeugen konnte, dass es wichtig wäre, dass dieser Landtag gemeinsam eine solche Enquete durchführt. Der Kollege Drexler hat schon darauf hingewiesen. Natürlich kann die Opposition sie auch allein beantragen. Aber wenn Sie Bereitschaft signalisieren, dass wir diese grundlegenden Fragen, die von allen angesprochen sind, dort mit Experten von außen, auch mit Experten aus den Ländern, die in der PISA-Studie erfolgreich sind, gemeinsam angehen, dann tun wir, glaube ich, der Bildungspolitik etwas Gutes, denn hier geht es um Entscheidungen für Zeiträume von 20 Jahren.
Die Arbeitskraft des Parlaments nur in Untersuchungsausschüsse zu stecken, die die Fehler der Vergangenheit aufarbeiten, und keine Ressourcen und Arbeitskraft mehr zur Verfügung zu haben, um die Zukunftsaufgaben zu lösen, kann nicht der richtige Weg sein. Deshalb appelliere ich noch einmal an alle Fraktionen, ernsthaft zu erwägen, solch eine Enquetekommission einzurichten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir dürfen diese Diskussionen nicht mit einem totalen Machbarkeitswahn führen. Fragen der Bildung sind Fragen der Gesellschaft. Diese Fragen kann man nicht einfach nur durch Bildungspolitik lösen. Es sind Fragen der Werthaltigkeit und der Werte in der Gesellschaft. Nur wenn alle den Wert der Bildung in unserer Gesellschaft wieder höher einschätzen, kann unsere Arbeit im Parlament, wenn wir sie mutig und entschlossen angehen, auch Erfolg haben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! PISA 2000 wird in drei Stufen der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Vorstellung der ersten Stufe erfolgte im Dezember 2001 mit der Konsequenz, dass wir ein halbes Jahr in BadenWürttemberg darüber diskutiert haben, wie schrecklich es sei, im unteren Drittel der OECD zu sein. Ich habe schon damals manchen gemahnt, seine Reden genau zu überlegen. Denn die zweite Etappe vor wenigen Wochen hat gezeigt, dass wir in Deutschland eine viel differenziertere Situation haben als die, die ein halbes Jahr lang diskutiert worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer lernen will, wer weiterentwickeln will, muss schon bereit sein, die Differenzierung, die zwischen der ersten und der zweiten Phase von PISA 2000 liegt, wahrzunehmen.
Die dritte Stufe kommt im Herbst: Jedes der 16 Länder wird einen ausführlichen und zu jedem einzelnen Thema in die Tiefe gehenden Länderbericht bekommen. Nach allem, was ich weiß, ist dies der eigentliche Bericht, der für die Prüfung bisheriger bildungspolitischer Weichenstellung und künftiger Weichenstellung das relevante Dokument sein wird.
Nun finde ich es schon erstaunlich, wie seit der Vorlage der nationalen Studie in Deutschland diskutiert wird. Ich habe mich eben, als ich diese Diskussion verfolgt habe, gefragt: Wie wäre eigentlich heute hier die Stimmung, wenn Baden-Württemberg auf dem 4., dem 6., dem 10., dem 12. oder dem 14. Platz gelegen hätte? Wie wäre eigentlich hier die Stimmung?