Protokoll der Sitzung vom 23.01.2003

Bitte, Herr Abg. Röhm.

Vielen Dank, Frau Kollegin. Das hätte ich von Ihnen auch gar nicht anders erwartet.

Frage: Sollte Wertevermittlung nicht Bestandteil eines jeglichen Unterrichts sein? Sind wir uns darin einig?

Darin sind wir uns einig. Das habe ich auch in meiner Rede ausgeführt.

(Abg. Capezzuto SPD: Nicht zugehört!)

Da gibt es überhaupt keinen Dissens.

(Abg. Röhm CDU: Danke, Frau Kollegin! – Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir kommen zur geschäftsordnungsmäßigen Behandlung des Antrags.

Kann ich davon ausgehen, Frau Abg. Rastätter, dass die Antragsteller die Überweisung an den Ausschuss für Schule, Jugend und Sport wünschen?

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Ja, an den Aus- schuss!)

Dann ist es so beschlossen.

Damit ist Punkt 7 der Tagesordnung erledigt.

Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:

Große Anfrage der Fraktion der SPD und Antwort der Landesregierung – Situation und Perspektive der Hauptschule in Baden-Württemberg – Drucksache 13/590

Das Präsidium hat folgende Redezeiten festgelegt: für die Aussprache zehn Minuten je Fraktion, gestaffelt, und für das Schlusswort fünf Minuten.

Wem darf ich das Wort zur Aussprache erteilen? – Herr Abg. Käppeler, bitte schön.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach meiner letzten Rede hier warf mir der Herr Staatssekretär unter dem Gelächter seiner Fraktionskollegen vor, die SPD sei fern jeder Praxis. Ich möchte deswegen feststellen: Mein Kollege Norbert Zeller und ich sind vermutlich die Einzigen hier, die an einer Hauptschule in der Praxis stehen –

(Abg. Capezzuto SPD: Da kann man auch nicht je- den brauchen!)

ich übrigens seit exakt 25 Jahren. Was die Praxis betrifft, unterscheidet mich dies vom Staatssekretär und auch von der Ministerin deutlich. Wenn wir also heute über die Hauptschule reden, dann nehmen Sie zur Kenntnis: Wir kennen die Situation der Hauptschule aus eigener Erfahrung.

Noch eine Vorbemerkung: Ich bin gerne Hauptschullehrer geworden und bin es auch heute noch gerne, weil es mir um die Kinder geht, die wegen ihrer Lernschwäche Nachteile in der Gesellschaft erfahren. Immer habe ich mich für die Anerkennung, für die Aufwertung der Hauptschule und für eine Gleichwertigkeit der Schularten eingesetzt – ganz konkret auch an meiner Schule, wo Grundschüler, Hauptschüler und Realschüler unter e i n e r Leitung, unter e i n e m Dach von einem gemeinsamen Kollegium unterrichtet werden.

Meine Damen und Herren, in der letzten Woche teilte das Statistische Landesamt mit: Das Gymnasium ist erste Wahl bei Übergängen auf weiterführende Schulen. 34,5 % der Schüler wechselten an ein Gymnasium, 33,2 % an die Hauptschule und 30,8 % an die Realschule. Das Gymnasium baute den knappen Vorsprung aus. Vor fünf Jahren lag noch die Hauptschule mit 35,5 % vorn.

Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache, wobei ich die regionalen Unterschiede nicht verkenne. In ländlich geprägten Kreisen hat die Hauptschule eine höhere Akzeptanz als in städtisch geprägten, wohl auch wegen der Wohnortnähe und oft fehlender schulischer Alternativangebote. Besonders deutlich wird dies zum Beispiel in der Region NeckarAlb im Vergleich zur Stadt Tübingen und den Landgemeinden im Zollernalbkreis.

Warum wollen immer weniger Eltern ihre Kinder in die Hauptschule schicken? Für viele Kinder beginnt das Drama, eventuell auf die Hauptschule zu müssen, bereits in der Grundschule. Wenn mir Kollegen aus der Grundschule erzählen, dass Eltern bereits in der zweiten Klasse anrufen

und die bange Frage äußern, ob es ihr Kind wenigstens in die Realschule schafft, dann wissen wir, um was es geht. In den Klassen 3 und 4 erhöht sich der Selektionsdruck auf das Kind von allen Seiten. Die Eltern wollen nur das Beste. Die Klassenkameraden mit guten Noten sind mit ihren Äußerungen nicht zimperlich – Stichwort Gruppendruck. Die Grundschullehrerin erfährt den Druck aus Elternhaus und Kollegium und gibt ihn mitunter weiter – sicher oft unbewusst –, um eine möglichst gute Übergangsquote zu erzielen, wobei niemand die Hauptschule meint.

Hier ein Schlüsselerlebnis: Neulich hielt ich eine Vertretungsstunde in Klasse 4. Auf meine Frage „Wer von euch geht nächstes Jahr ins Gymnasium?“ meldete sich etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler. „Wer wechselt in die Realschule?“ Daraufhin streckte wieder etwa die Hälfte. „Und wer kommt zu mir in die Hauptschule?“ Erst meldete sich niemand; dann streckten zwei Schüler ganz zögerlich die Hand. Wie es um deren Selbstbewusstsein bestellt war und wie unglücklich sie sich fühlten, konnte ich unschwer an ihren Gesichtern ablesen. Auf mein ungläubiges Staunen hin streckte eine Schülerin, die sich zuvor bei der Realschule gemeldet hatte, und sagte: „Wissen Sie, mein Papa hat gesagt, Hauptschule kommt für uns nicht infrage.“

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Das ist das Problem!)

So ist es.

Wer die Hauptschule besucht, gilt vielfach als Versager bei seinen Eltern, den Klassenkameraden, der Verwandtschaft, der Nachbarschaft. Wer keine Empfehlung für das Gymnasium oder nicht wenigstens eine Realschulempfehlung nach Hause bringt, hat das Ziel der Grundschule verfehlt. Wenn eine Mutter zur anderen sagt – ich habe diese und ähnliche Äußerungen häufig genug gehört –: „Mein Kind geht bloß in die Hauptschule“, dann spricht das doch Bände. Dann drückt das das ganze Dilemma aus, in dem sich die Hauptschule befindet. In der Übersetzung heißt dies: Mein Kind sollte einen höherwertigen Abschluss erhalten, weil damit auch Karrierechancen verbunden sind. Es soll sich nicht in die Gruppe der Schwächsten einreihen, nicht in der sozialen Unterschicht verkehren.

In der Hauptschule versammeln sich dann viele Frustrierte, froh, die Grundschule hinter sich gelassen zu haben. Die Lehrkräfte sorgen für einen guten Start. Erste Erfolgserlebnisse stellen sich ein. Diese werden verstärkt durch ordentliche bis gute Noten.

Aber schon wieder kommt eine entscheidende Frage: Reicht es jetzt für einen Wechsel in die Realschule? Manchmal gelingt dieser. Das ist gut, Ziel erreicht. Was aber ist mit den anderen? Wieder ein Kratzer in der Kinderseele, wieder ein Versagen. Mit Engagement und Geduld versuchen die Lehrkräfte, ihre Schüler zu motivieren, wenngleich sich Frustrationen häufig genug in Lernunwillen und störendes Verhalten umwandeln nach dem Motto: „Ich kann es doch eh nicht.“

Wer allerdings glaubt, die Selektion hätte in der fünften Klasse ein Ende, der irrt. Ich spreche hier nicht über die Hänseleien, die Ausgrenzung von Hauptschülern, sondern ich spreche über weitere Auswirkungen unseres Schulsystems. Nein, Ende der siebten Klasse selektieren wir wieder:

Wer schafft es in den Zusatzunterricht, wer muss in den Förderunterricht? Zusatzunterricht als Voraussetzung für das 10. Schuljahr und, wenn wir ehrlich sind, auch für den Besuch der zweijährigen Berufsfachschule, die zur mittleren Reife führt.

Und schon wieder haben wir einen Rest gebildet: Den Förderunterricht brauche ich zur psychologischen Betreuung der ganz Schwachen, denen nun schon zum wiederholten Male durch unser System deutlich gemacht wurde, dass sie nichts können und nichts wert sind. Den Praxiszug für diese Schülergruppe allein betrachte ich als Verlegenheitslösung, weil man nicht mehr weiß, was man mit dieser Restgruppe anfangen soll. Praxiserfahrungen sind für alle Schüler wichtig.

Eltern und Kinder wenden sich immer mehr von der Hauptschule ab. An der Hauptschule herrscht Fachlehrermangel – kein Wunder, wenn man sich die aktuellen Studierendenzahlen anschaut. Von 2 100 Studienanfängern wählen gerade einmal 300 den Stufenschwerpunkt Hauptschule. Die Studierenden sind also ein Spiegelbild der Gesellschaft. Kaschiert wird die Problematik dadurch, dass das Lehramt ja für Grund- und Hauptschulen ist und damit die Lehrer universell einsetzbar sind.

Ich möchte hier nicht den Unterrichtsausfall thematisieren, nicht die Feststellung, die Ankündigung der Ministerin zu Beginn des Schuljahres entspreche nicht der Realität vor Ort. Nein, Grund- und Hauptschulen haben ein zusätzliches Problem: Hauptschullehrer werden oft in der Grundschule eingesetzt, damit diese verlässlich erscheint, auch wenn Pflichtunterricht in der Hauptschule ausfällt.

Zurück zur Großen Anfrage der SPD. Was ist aus dem EBA geworden, dem erweiterten Bildungsangebot, einst gefeiert als besonderes Profil der Hauptschule? Antwort: Es existiert mangels Lehrerstunden nicht mehr. LIPSA gibt es noch, aber zusätzliche Stunden dafür wird es in Zukunft auch nicht mehr geben. Die Lehrerinnen und Lehrer machen das dann im Rahmen der Kontingentstundentafel. Hinsichtlich Arbeitsgemeinschaften, in denen Schüler ohne Notendruck ihren Interessen nachgehen konnten, herrscht überwiegend Fehlanzeige. Wie sieht es mit Förder- und Stützunterricht aus, wie mit der Förderung ausländischer Jugendlicher? Massiv zusammengestrichen. Der Pflichtunterricht kann gewährleistet werden, heißt es. Fazit: Vom Profil der Hauptschule bleibt nicht mehr viel übrig, obwohl sich gerade diese Schulart aus der Not heraus innovativ zeigt, sofern man sie gewähren lässt.

Wir haben vorgestern der Öffentlichkeit unsere Konzeption präsentiert. Unser Motto lautet: Besser früh investieren als später reparieren. Wenn nahezu jeder fünfte 15-Jährige in Baden-Württemberg nicht oder nur unzureichend lesen kann, dürfen wir die Systemfrage nicht ausklammern. Das sagte auch Andreas Schleicher, PISA-Koordinator der OECD, in der „Zeit“ am 5. Dezember. Wir dürfen die Systemfrage deswegen nicht ausklammern, weil PISA ein niederschmetterndes Ergebnis für Hauptschulen bedeutet. Wie hoch mag wohl der Anteil der 15-Jährigen sein, die Gelesenes nicht verstehen, wenn die Hauptschule alleine ausgewertet werden würde? Wir brauchen deswegen eine Stär

kung der Elementarbildung und der Grundschule mit einer verbindlichen Sprachstandsdiagnose für alle Kinder.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen längere gemeinsame Lernzeiten in der Grundschule, genauer gesagt die sechsjährige Grundschule, in der es kein Sitzenbleiben gibt und in der schwache Kinder individuell gefördert werden können.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Davon sollten mindestens 20 % Ganztagsschulen werden. Wir wollen in Regionalschulen mit einem jeweils eigenen, neuen pädagogischen Profil unter einem Dach Haupt- und Realschulabschluss ermöglichen. In dieser Schule muss Lernen anders organisiert werden als im herkömmlichen Sinne. Zum Beispiel sollen Projekte oder selbstständiges Lernen im Vordergrund stehen. Die Regionalschule dient übrigens der Sicherung von wohnortnahen Schulstandorten auch bei zurückgehenden Schülerzahlen, auch in ländlichen Gebieten. Der Prüfauftrag, Klassen zusammenzulegen oder Standorte zu schließen, stammt nicht von der SPD, sondern von der Kultusministerin.

(Abg. Moser SPD: Oi!)

Wir wollen eine weiter gehende Autonomie für die Schulen im Rahmen der Gesetze, bei der Schulträger, Eltern und Schule selbst das Profil bestimmen können. Dazu braucht es motivierte Lehrer. Diese bekommt man nicht mit drohenden Deputatserhöhungen und dem Aufbürden von immer mehr und neuen Aufgaben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Glocke der Präsidentin)

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Röhm?

Gerne, Herr Kollege Röhm.

(Abg. Capezzuto SPD: Ob Sie das verstehen? – Gegenruf des Abg. Scheuermann CDU: Wenn Sie es verstehen, verstehen wir es auch! – Weiterer Gegenruf von der CDU: Vielleicht besser als du, Mario!)

Herr Kollege Käppeler, ich habe Ihren Vorschlag zur Einrichtung von Regionalschulen mit großem Interesse gelesen. Jetzt steht der Vorwurf an die Frau Ministerin im Raum, sie wolle Hauptschulen schließen. Können Sie bitte einmal modellhaft darlegen, welche Standorte Sie in unserem gemeinsamen Wahlkreis mit dem Kollegen Glück für eine Regionalschule aussuchen würden,

(Zuruf von der SPD: Alle!)

damit ich es besser verstehen kann?