Protokoll der Sitzung vom 14.07.2004

Ich halte es in der Tat für enorm wichtig, dass Europa zukünftig für die Menschen viel stärker greifbar wird: durch Gesichter. Die Menschen verbinden Politik zwar nach wie vor auch mit Inhalten, aber zunehmend mit Menschen, mit Köpfen, mit Gesichtern. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass Europa diese Gesichter, diese Köpfe, diese Menschen bekommt. Es ist daher wichtig, dass wir mit der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament, mit dem europäischen Außenminister und mit einer längeren Amtszeit des Vorsitzenden des Europäischen Rates Ämter und Personen haben, die Europa besser und stärker repräsentieren können, als es bisher möglich war.

Ein großer Erfolg vor allem der deutschen Bundesregierung ist die Durchsetzung des Prinzips der doppelten Mehrheit.

(Beifall bei der SPD)

Die doppelte Mehrheit, also die Mehrheit der Bürger und die Mehrheit der Staaten, ist ein wichtiger, wenn nicht der entscheidende Punkt in dieser Verfassung, um als „Union der 25“ handlungsfähig zu bleiben. Wir stärken damit zugleich das demokratische Prinzip, indem die Größe der Bevölkerung eines Landes nun mehr als bisher gewichtet wird.

Das Prinzip der doppelten Mehrheit bringt aber zugleich auch den Charakter der Europäischen Union zum Ausdruck. Sie ist eine Union der Staaten und eine Union der Bürger. Das halte ich für besonders wichtig.

Auch in Zukunft, meine Damen und Herren, wird es eine starke Europäische Kommission geben. Aber auch die Frage der künftigen Zusammensetzung der Europäischen Kommission wurde aus unserer Sicht in einem guten, fairen Kompromiss geregelt. Die Zahl ihrer Mitglieder wird zwar übergangsweise ansteigen, doch halte ich dies durchaus für legitim und nachvollziehbar – vor allem aus Sicht der neuen Staaten im Osten Europas. In einer Übergangsfrist sind alle diese Staaten in der Kommission vertreten, was zur Akzeptanz Europas in diesen Beitrittsländern und zu ihrer besseren Integration beiträgt. Nach dieser Übergangsfrist, nach dem Jahr 2014, wird die Kommission wieder deutlich verkleinert und in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einigen Punkten Stellung nehmen, die der Herr Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung – wie ich finde, zum Teil zu Recht – kritisch angesprochen hat.

Zunächst zum Thema des fehlenden Gottesbezugs in der Präambel der Verfassung. Auch wir hätten uns einen deutlicheren Gottesbezug gewünscht. Im ersten Satz der Verfassung wird nun lediglich das „kulturelle und religiöse Erbe Europas“ erwähnt. Wenn man das kulturelle und religiöse Erbe Europas kennt, kann man natürlich interpretieren, dass damit das christliche Erbe gemeint sei. Dem ist auch so. Dennoch hätten wir uns eine deutlichere Formulierung gewünscht. Dass sie aber völlig fehlt, sehe ich nicht so.

Die deutsche Bundesregierung und auch die deutschen Mitglieder im Konvent haben sich nachhaltig für eine deutlichere Formulierung eingesetzt. Ich finde es, ehrlich gesagt, ein wenig schade, dass Sie nach wie vor wider besseres Wissen versuchen, der Bundesregierung einen Strick daraus zu drehen, dass der Kompromiss in dieser Form zustande gekommen ist. Im Konsens war als Kompromiss keine andere Formulierung möglich.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, Herr Ministerpräsident, Sie wissen so gut wie ich, dass sowohl im Konvent als auch in der Regierungskonferenz ein deutlicherer Gottesbezug keine Mehrheit gefunden hätte. Er ist ja von manchen Ländern vehement abgelehnt worden. Von manchen Ländern ist sogar angedroht worden, den Kirchenparagrafen,

(Abg. Drexler SPD: So ist es!)

in dem die christlichen Kirchen der Mitgliedsländer ihre nationale Stellung auch auf der europäischen Ebene garantiert bekommen, zur Disposition zu stellen. Ich bin der Überzeugung, dass der Kompromiss, den wir gefunden haben – mit dem Kirchenparagrafen, mit einem abgemilderten Gottesbezug und einem abgemilderten religiösen Bezug –, den christlichen Kirchen in unserem Land weit mehr nutzt als ein Satz in der Präambel, den, wenn wir ganz ehrlich sind, ein Großteil der Bevölkerung nie lesen würde.

(Beifall bei der SPD)

Erlauben Sie mir noch einen Satz zum Gottesbezug, weil mir das als jemandem, der selbst kirchlich engagiert ist, wichtig ist. Ich bin der festen Überzeugung: Ein wahrhaft christlich geprägter Staat oder Staatenbund zeichnet sich nicht durch einen Halbsatz in einem Vorwort einer Verfassung aus. Ein wahrhaft christlich geprägter Staat zeichnet sich durch ein von christlicher Nächstenliebe geprägtes soziales und solidarisches Sicherungssystem aus, das die Ärmsten in der Gesellschaft nicht vergisst und den Schwächeren und Hilfsbedürftigen unter die Arme greift.

(Abg. Stickelberger SPD: So ist es!)

Das ist praktizierte christliche Nächstenliebe.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Zimmer- mann CDU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich – obwohl mir dies eigentlich widerstrebt – noch ein, zwei Punkte zum Stabilitätspakt sagen. Mir widerstrebt es eigentlich, in einer Diskussion über eine hervorragende Europäische Verfassung dazu Stellung zu nehmen. Mir widerstrebt es eigentlich, in diesem Zusammenhang auf 16 Jahre der Schuldenmacherei in Deutschland hinzuweisen, und mir widerstrebt es eigentlich, Ihnen vorzurechnen, wie viel Schulden von Finanzminister Theo Waigel in einer Zeit gemacht wurden,

(Abg. Fischer SPD: In der wir Wachstum hatten!)

die vor 1998 lag. Mir widerstrebt es eigentlich, in einer Diskussion über eine Europäische Verfassung, die großartig ist, mit solchen Kleinlichkeiten, die mit der Verfassung selbst nichts zu tun haben, Angriffe zu starten. Ich werde dies deshalb nicht tun.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Caroli SPD)

Meine Damen und Herren, die Europäische Verfassung ist mit dem Beschluss der Regierungskonferenz aber noch nicht über den Berg. Nun muss sie noch in unterschiedlichen Verfahren in den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das Thema Referendum eingehen. Ich habe mich, ehrlich gesagt, schon ein bisschen gewundert, als ich den Brief der FDP/DVP-Fraktion an die anderen Fraktionen in diesem Hause gelesen habe, in dem sie sich nachhaltig für ein Referendum der Bürger zur EU-Verfassung einsetzt. Meine Damen und Herren von der FDP/DVP, wer in diesem Hause, im Landtag von Baden-Württemberg, jeden Antrag für mehr Bürgerbeteiligung, für mehr direkte Demokratie ablehnt, wer jedes Entgegenkommen und jeden Kompromiss

(Abg. Theurer FDP/DVP: Stimmt ja überhaupt nicht! – Gegenruf des Abg. Drexler SPD: Selbst- verständlich! – Zuruf von der SPD: Stimmt alles! – Abg. Theurer FDP/DVP: Wir haben ja die Quoren gesenkt! Herr Kollege, ich bitte Sie, das doch ein- mal zur Kenntnis zu nehmen! – Widerspruch bei der SPD)

zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg ablehnt, der hat aus meiner Sicht das Recht verwirkt, auf anderen Ebenen genau dies zu fordern.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Theurer FDP/DVP)

Sehr geehrter Herr Theurer, setzen Sie diese Forderung, bevor Sie sie auf anderer Ebene aufstellen, zuerst dort um,

(Abg. Theurer FDP/DVP: Haben wir ja hier bereits gemacht! – Gegenruf von der SPD: Ihr macht doch gar nichts!)

wo Sie Verantwortung tragen. Setzen Sie sie hier um, bevor Sie auf anderer Ebene das anmahnen, wozu Sie selbst nicht in der Lage sind. Alles andere wäre unglaubwürdig.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Sehr richtig! – Zuruf von der FDP/DVP: Wozu sind denn die Quoren gesenkt worden?)

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Diese Verfassung ist ein Kompromiss, aber ein guter Kompromiss. Einiges hätten wir uns vielleicht noch anders gewünscht, aber bei Kompromissen muss man eben auch die eine oder andere Kröte schlucken. Ich bin der Überzeugung, dass auch diese Verfassung noch weiterentwickelt wird. Wir befinden uns in einem Prozess, der mit dieser Verfassung nicht endet, sondern erst richtig beginnt.

Herr Ministerpräsident, etwas schade fand ich, dass Sie die ungeheuren Leistungen der Bundesregierung bei den Verhandlungen nicht erwähnt haben. Ein paar anerkennende, vielleicht auch dankende Worte

(Zuruf von der SPD: Das kann er nicht!)

hätten auch Ihnen in diesem Zusammenhang und in dieser Richtung ganz gut angestanden.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Ich möchte in diesem Zusammenhang aber mit gutem Beispiel vorangehen und mich bei den Baden-Württembergern, die an der Erarbeitung dieser Verfassung beteiligt waren, explizit bedanken. Ich möchte bei Ihnen beginnen, Herr Ministerpräsident, und Ihnen unseren Dank für Ihre Arbeit im Konvent aussprechen und auch Ihnen, Herr Minister Dr. Palmer, für Ihre Mitarbeit danken.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der CDU und der FDP/DVP – Abg. Capezzuto und Abg. Dr. Caroli SPD: So sind wir!)

Ich möchte weiter danken und bin gespannt auf den Applaus, der dann hoffentlich in genau der gleichen Resonanz kommt. Ich möchte zwei weiteren Baden-Württembergern danken, die an entscheidender Stelle mitgearbeitet haben. Zum einen möchte ich dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Professor Dr. Jürgen Meyer aus Ulm danken,

(Beifall bei allen Fraktionen – Abg. Herrmann CDU: Da klatschen wir auch! – Abg. Fleischer CDU: Spitzname „Profil-Meyer“!)

der für den Bundestag im Konvent mitgearbeitet hat, und ich möchte Herrn Staatsminister Hans Martin Bury aus Bietigheim danken, der für die Bundesregierung bei den Ver

handlungen über die Verfassung an entscheidender Stelle verantwortlich war.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der CDU und der Grünen)

Sie sehen, meine Damen und Herren, dass das Ländle sehr gut an den Verhandlungen und am Verfassungsentwurf beteiligt war. Ich bin nicht zuletzt deshalb der Überzeugung, dass die Verfassung von Erfolg gekrönt sein wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen sowie des Abg. Oettinger CDU)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Theurer.

(Abg. Capezzuto SPD: Oh Jesses, nein!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht nur der Europäische Rat hat bei seiner Sitzung am 17. und 18. Juni in Brüssel über die geringe Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei den Europawahlen beraten. Eine Verfassung für Europa. Aber in welcher Verfassung ist Europa? Obwohl die Beteiligung an den Europawahlen in Baden-Württemberg mit 53,1 % – immerhin der vierte Platz bundesweit – noch relativ gut war, stellt sich auch bei uns die Frage, warum nur so wenige Menschen in unserem Land zur Wahl gingen. Diese Wahlbeteiligung kann gerade in einem Bundesland, das wie kein zweites in der Europäischen Union vom Binnenmarkt profitiert, nicht befriedigen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Das ist richtig!)

Kein anderes Bundesland, meine Damen und Herren, exportiert so viele Waren ins europäische Ausland wie BadenWürttemberg. Im Jahr 2003 gingen von unseren Exporten 70,25 % ins europäische Ausland, 52,16 % in die alten EULänder, und mittlerweile gehen bereits 12 % in die neuen Beitrittsländer. Die Exporte in die mittel- und osteuropäischen Länder haben beinahe den Umfang der Exporte in die USA erreicht.