Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Wir sind der Meinung, dass wir als Baden-Württemberger an der Nahtstelle der europäischen Einigung, an der Nahtstelle der Freundschaft der Länder Frankreich und Deutschland eine besondere Verantwortung und eine große Aufgabe haben. Wir haben eine ganze Reihe von Projekten auf regionaler Ebene angestoßen – mit den „Vier Motoren“, aber auch im Oberrheinrat und jetzt neu mit dem Eurodistrikt, der ja von der französischen Staatsregierung und der Bundesregierung in Gang gesetzt worden ist.
Wir von der FDP/DVP-Landtagsfraktion haben diesen Eurodistrikt auch intensiv besucht und bei vielen Gesprächen im Elsass und in der Ortenau festgestellt, dass dort ein großes Interesse für ein europäisches Pilotprojekt entwickelt wird. Wenn man sich mit den Details beschäftigt, sieht man auch die Schwierigkeiten, die Hindernisse, die großen Probleme bei der Frage: Welches Rechtssystem soll angewandt werden, das französische oder das deutsche? An vielen kleinen Einzelheiten der Diskussion merkt man dann, dass es trotz eines Europäischen Binnenmarkts, einer Europäischen Union eben nicht so ist, dass die Menschen einfach über die Grenze hinweg arbeiten können. Vielmehr ist das mit vielen einzelnen Fragen verbunden.
Deshalb finde ich dieses Projekt so spannend und setzt sich die FDP/DVP-Landtagsfraktion dafür ein, diesen Eurodistrikt voranzutreiben. Meine Damen und Herren, das Land Baden-Württemberg kann hierzu einen ganz wichtigen Beitrag leisten, insbesondere im Bereich der Schulpolitik, der Bildungspolitik, der Hochschulen, der ganzen Kulturpolitik, die ja in die Länderhoheit fällt. Lassen Sie uns diese Chance ergreifen, lassen Sie uns diesen Eurodistrikt vorantreiben. Ich sage voraus, dies wird nicht schnell gehen, dies wird harte Arbeit erfordern.
Man muss dabei in vielen Bereichen um Einzellösungen ringen, damit es funktioniert. Aber wir von der FDP/DVP haben uns von der Begeisterung anstecken lassen, die in der Ortenau und in der Region um Straßburg herrscht, meine Damen und Herren. Ich denke, der Eurodistrikt ist ein Modell europäischer Möglichkeiten, so wie es auch hier im Land Baden-Württemberg verstanden wird. Wir hoffen, dass wir damit auch einen Beitrag dazu leisten, Straßburg als Sitz europäischer Institutionen zu stärken.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Europa hat wichtige Herausforderungen zu bewältigen. Mit der Verabschiedung der europäischen Verfassung sind wichtige Voraussetzungen geschaffen, die EU zu einer demokratischen und politischen Union zu vertiefen. Die Erweiterung muss aber gestaltet und finanziert werden. Deshalb brauchen wir eine Revision und Weiterentwicklung der Gemeinschaftspolitiken, der Agrar- und der Strukturpolitik. Weitere Beitrittsländer warten auf ihre Vollmitgliedschaft. Wir müssen aber auch dazu beitragen, dass die Bürgerinnen und Bürger Europa als ihr Europa begreifen, durchschauen und mitgestalten. Und schließlich – das scheint mir besonders wichtig –: Wir müssen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufbauen und umsetzen.
Deswegen möchte ich jetzt auf die Türkeidiskussion eingehen, weil mir das hier wichtig erscheint. Ansonsten haben wir ja hier weitgehende Übereinstimmung.
Ich möchte aber eine Vorbemerkung machen. Alle wichtigen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland – Adenauer, Brandt, Helmut Schmidt, Kohl – hatten zweifellos eine klare außenpolitische Perspektive und Strategie, und es ist ihnen immer gelungen, diese Strategien aus dem kleinlichen, tagespolitischen Parteienkampf herauszuhalten. Ich glaube, dass das wichtig ist. Auch Bundeskanzler Schröder hat im Irak-Konflikt bewiesen, dass er solch eine strategische Option hat. Nur wenn man unter solch strategischen Optionen Europa- und Außenpolitik begreift, kann man die Diskussion so führen, dass sie in solch eine Perspektive weist und nicht einfach nur Ängste der Bevölkerung bedient,
Wenn man aus Sicht meiner Partei die Frage des Türkeibeitritts strategisch betrachtet, dann gibt es unter der Bedingung der politischen und wirtschaftlichen Erfüllung der Kopenhagener Kriterien überhaupt keine vernünftige Alternative zum Beitritt der Türkei, genauer: diesen Beitritt aktiv zu betreiben. Wir unterstützen deswegen den Reformkurs in der Türkei und sprechen uns für EU-Beitrittsverhandlungen
aus, was ja nicht heißt, dass die Türkei heute Mitglied werden könnte. Es geht darum, die Option offen zu halten, die die EU und alle deutschen Regierungen bisher offen gehalten und dem Land seit 40 Jahren in Aussicht gestellt haben.
Deswegen muss der Bericht der EU-Kommission zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Frage genutzt werden, wohin uns 40 Jahre europäisch-türkische Beziehungen seit dem Assoziationsabkommen 1993 und mit der Freihandelszone 1996 geführt haben. Das i s t eine privilegierte Partnerschaft. Die haben wir schon. Wenn Sie dauernd von privilegierter Partnerschaft reden, dann müssen Sie einmal darlegen, was das zwischen einer Freihandelszone und der Vollmitgliedschaft überhaupt sein soll. Das haben Sie niemals gemacht, und auch Frau Merkel hat es in keiner Weise irgendwie überzeugend vorgetragen.
Schauen wir uns doch einmal die Türkei an. Der Westen der Türkei ist seit langem europäisiert. Dagegen hat der Südosten der Türkei in Tradition und Rückstand verharrt. Dort gibt es noch immer vermummte Mädchen, die nicht in die Schule gehen dürfen. Basar und Pferdefuhrwerke sind für die Masse der Bevölkerung Alltagsrealität. Dagegen hat sich der Westen rasant gewandelt. Die Generäle haben ihre Macht an demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker abgetreten. Pluralistische Medien streiten um die richtigen Reformen nach EU-Maßgabe. Global erfolgreiche Konzerne boomen. Das Wirtschaftswachstum ist dreimal so groß wie im Durchschnitt der EU. Das Bruttosozialprodukt der Türkei ist im ersten und zweiten Quartal 2004 um 12,4 bzw. 14 % gewachsen. Die Hälfte der Studierenden an den Universitäten sind Frauen. Allerdings beträgt das Pro-KopfEinkommen in der Türkei lediglich 25 % des EU-Durchschnitts. Die Perspektive einer Vollmitgliedschaft in der EU und einer Teilhabe an der europäischen Kohäsionspolitik wird allerdings einen Beitrag dazu leisten, die regionalen Disparitäten innerhalb des Landes mittelfristig zu überwinden.
Der Bericht der EU-Kommission würdigt nun die Fortschritte bei der Rede- und Pressefreiheit, bei den Frauenund Minderheitenrechten, bei der Rechtsstaatlichkeit sowie der Kontrolle des Militärs. Allerdings sagt die Kommission zu Recht, dass die Umsetzung vieler Reformen noch lückenhaft ist. Zudem wird kritisiert, dass es noch immer zahlreiche Fälle von Folter gibt. Menschenrechtler müssen auch weiterhin damit rechnen, von der türkischen Justiz schikaniert zu werden. Die Religionsfreiheit steht oft nur auf dem Papier. Insbesondere bei der Bekämpfung der Korruption ist sicher noch sehr viel zu tun.
Deshalb ist es richtig, dass der Kommissionsbericht äußerst kritisch ausfällt. Aber es ist strategisch wichtig, dass wir der Modernisierungsmehrheit in der Türkei mit der Beitrittsperspektive den Rücken stärken. Wir müssen bei der Frage des Beitritts der Türkei nämlich klar unterscheiden zwischen innenpolitischen Fragen, die natürlich entschieden werden müssen, und weiteren Perspektiven. Ohne die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien wird die Türkei nicht Mitglied werden können. Insofern gibt es überhaupt keinen Beitrittsautomatismus. Nur wenn die Kriterien erfüllt werden, kann die Türkei beitreten. Das ist von allen Beteiligten immer klar gesagt worden.
Aber die Sicherheit der europäischen Staaten wird im Mittelmeerraum, im Nahen und Mittleren Osten entschieden – dort, wo die neuen totalitären islamistischen Herausforderungen entstanden sind, dort, wo Modernisierungsblockaden existieren. Für die zukünftige Gestaltung der Sicherheit ist die Frage, welche Entscheidung zur Bekämpfung des Terrorismus die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf der Grundlage eines gemeinsamen strategischen Konsenses treffen müssen, von überragender Bedeutung. Diejenigen, die meinen, dass die Türkei die innere Kohärenz der EU gefährden würde, ignorieren diese neuen Realitäten völlig.
Die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme der Türkei bzw. die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist angesichts der zu erwartenden positiven Rückkopplungen auf die ganze islamische Welt von überragender Bedeutung. Es geht in der Perspektive nämlich um die Integration einer demokratischen und zugleich islamischen Türkei in Europa.
Meine Partei und die gesamte Bundesregierung sind überzeugt, dass diese Beitrittsperspektive für die gesamte islamische Welt ein entscheidendes Signal sein kann, jedenfalls ein Signal weit über die Türkei hinaus.
Dies wird das entscheidende strategische Kriterium dafür sein, ob der „Kampf der Kulturen“ wirklich Realität wird – außerhalb des Terrorismus, wo er schon stattfindet. Dies ist, glaube ich, die ganz entscheidende strategische Perspektive. Wer die Bedrohung der Welt durch den Terrorismus, durch die „Privatisierung von Krieg“, wie Erhard Eppler es genannt hat, ernst nimmt, wird feststellen, dass Terrorismus an den Kern, an den Nerv unserer Zivilisation gehen kann. Angesichts einer solchen Perspektive muss man anders gewichten, als es in der Debatte oft getan wird.
Jedenfalls muss diese strategische Perspektive den Beitrittsprozess bestimmen; er darf nicht von den Ängsten, die in der Bevölkerung – teilweise natürlich auch zu Recht – vorhanden sind, bestimmt werden. Diese Ängste können wir der Bevölkerung nur dann nehmen, wenn wir ihr diese strategische Perspektive klar machen und auch klar machen, dass sich auch in der Türkei unter dieser strategischen Perspektive die Mehrheiten geändert haben, der Stabilisierungsprozess der Demokratie weitergeht und entschieden wird, dass dieser Prozess nicht rückholbar ist und vom Papier in die Realität übergeht. Das ist das Entscheidende.
Deswegen muss ich in aller Klarheit sagen, dass ich nicht sehen kann, dass Frau Merkel überhaupt ein europäisches Konzept besitzt.
Ich kann auch nicht erkennen, dass sie eine außenpolitische Perspektive eröffnet, die Debatten in der Bevölkerung ermöglicht, in denen wenigstens diejenigen, die sich für sol
che wichtigen Themen interessieren, also die politischen Führungskräfte in diesem Land, diese strategische Perspektive berücksichtigen und nicht einfach eine Debatte führen, die von der Angst der Bevölkerung bestimmt ist.
Ich finde, das, was Frau Merkel beim Irak-Konflikt getan hat, zeigt nach dem, was wir heute wissen und wir schon damals klar gesagt haben – Außenminister Fischer hatte eine klare Ansage an die BushRegierung, und die hieß: Wie sieht euer Konzept nach dem Krieg aus? Heute muss die Administration der USA zugeben, dass sie kein Konzept hatte, dass sie noch immer kein Konzept hat und dass wir uns deshalb heute im Irak in einem Desaster befinden –, dass sie kein erkennbares außenpolitisches Profil besitzt.
Deswegen glaube ich, dass diese strategische Außenpolitik zurzeit nicht in der Union beheimatet ist. Nur dann, wenn wir wieder zu dieser strategischen Außenpolitik zurückfinden, können wir eine europapolitische Debatte führen, die eine klare Aussage darüber macht, wo es in 15 Jahren mit der Türkei und der EU hingeht, und nicht eine Debatte, die nur den heutigen Angstzustand der Bevölkerung reflektiert.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Zunächst bedanke ich mich für die doch überwiegende Zustimmung zum Bericht. In der Tat ist richtig, was Kollege Rust gesagt hat, dass durch die Europäische Union in einer unheimlichen Vielfalt eine Beeinflussung politischer Themenfelder in jedem Land, aber auch in jeder Kommune Deutschlands und Europas stattfindet. Wir machen uns das mitunter überhaupt nicht klar. Die bundespolitische Ebene wird immer mitgedacht, aber die europapolitische Ebene wird leider noch immer zu wenig mitgedacht. Es ist eine permanente Aufgabe, diese europäische Ebene mit im Kopf zu haben, wenn wir in diesem Land Politik machen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich möchte zweitens sagen: Es gibt mittlerweile ein erstaunliches Maß an Rückflüssen. Wir haben ja im letzten Bericht begonnen, einmal auch die Rückflüsse zu dokumentieren. Im vergangenen Jahr 2003 waren es 570 Millionen €. Man
darf nicht immer nur eine „Zahlmeisterdiskussion“ führen, sondern muss auch einmal darüber sprechen, was die Bundesrepublik und Baden-Württemberg im Besonderen zurückerhalten. Natürlich ist wahr, dass der Landwirtschaftsetat als der einzige voll vergemeinschaftete Bereich der Politik in Europa den Löwenanteil davon erhält, aber der Wissenschaftsetat ist im Steigen begriffen, und auch der Forschungsetat ist im Steigen begriffen. Ich finde es gut, dass wir jetzt einfach in jedem Jahr schwarz auf weiß dokumentieren, was wir von der Europäischen Union an Rückflüssen bekommen.
Ich möchte drittens ein Wort des Dankes sagen, und zwar nicht nur an alle Mitarbeiter, die diesen Bericht erstellt haben, sondern an alle Mitarbeiter in der Landesverwaltung auf den unterschiedlichen Ebenen, die sich das ganze Jahr über mit europäischen Sachverhalten befassen. Es sind vielfach immer noch Pioniere, die in ihren Dienststellen vorausgehen, aber wir haben gar keine Alternative dazu, in der ganzen Verwaltung auch die europäischen Instrumentarien zu schärfen und Bewusstsein für Europa zu wecken. Deshalb sage ich einmal allen „Europäern“ in der Landesverwaltung für ihre gute Arbeit über das ganze Jahr hinweg ein herzliches Wort des Dankes.
Dann will ich zur Strukturpolitik etwas sagen, da sie ja in der Debatte angesprochen worden ist: Wir stimmen an dieser Stelle mit der Bundesregierung in ihrer Einschätzung der finanziellen Vorausschau der Kommission ab dem Jahre 2007 überein. Diese Vorausschau ist in der Tat illusionär. Wir können die Strukturpolitik nicht im gleichen Umfang von Westeuropa auf Osteuropa „umklappen“. Das würde uns finanziell überfordern, und das geht nicht.