Protokoll der Sitzung vom 19.07.2001

Herr Abg. Dr. Witzel, Sie haben das Wort zur Verlesung Ihrer Mündlichen Anfrage.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen, meine Herren! Ich frage die Landesregierung bezüglich der Entwendung plutoniumhaltigen Materials aus der ehemaligen Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe:

a) Welche Stoffe wurden bei dem jetzt bekannt gewordenen Fall aus dem Bereich des ehemaligen Kernforschungszentrums Karlsruhe bzw. dem Bereich der dort angesiedelten ehemaligen atomaren Wiederaufarbeitungsanlage (WAK) entwendet, und wie beurteilt die Landesregierung diesen Fall?

b) Inwieweit teilt die Landesregierung die Auffassung, dass angesichts des jetzt öffentlich gewordenen Falles erhebliche Zweifel am Sicherheitskonzept der WAK angebracht sind, und, wenn ja, welche Konsequenzen gedenkt sie hieraus zu ziehen?

Vonseiten der Regierung antwortet Herr Minister Müller.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Namens der Landesregierung beantworte ich die Mündliche Anfrage wie folgt:

Zu a: Nach bisherigem Kenntnisstand handelt es sich bei den aus der WAK herausgebrachten beiden Kontaminationsquellen um ein mit Gummi- oder Kunststoffstopfen versehenes Plastikröhrchen mit radioaktiven Rückständen sowie um ein Wischtuch, das mit radioaktiven Stoffen kontaminiert ist. Die genauen chemischen und radiologischen Analysen dauern noch an. Sicher ist nach Aussage der WAK jedoch, dass die Rückstände in dem Plastikröhrchen nicht von dem in zwei Lagertanks befindlichen hochradioaktiven flüssigen Abfall stammen.

Nach derzeitigem Kenntnisstand ist zur Radioaktivität der beiden Kontaminationsquellen Folgendes festzustellen:

Inhalt des Plastikröhrchens: ca. 3 Kilobecquerel Cäsium137 und ca. 16 Megabecquerel Gesamt-Alphastrahler; davon ca. 4 Megabecquerel Americium-241.

Kontamination des Wischtuchs: ca. 2 Megabecquerel Cäsium-137 und ca. 100 Megabecquerel Gesamt-Alphastrahler; davon ca. 20 Megabecquerel Americium-241.

Im Übrigen wurde das Institut für Transurane beauftragt, Untersuchungen durchzuführen, die eine klare Zuordnung der Kontaminationsquellen zu den kontaminierten Bereichen – Wohnungen und Pkws – und den Personen mit Inkorporationen erlauben. Dabei wird auch geklärt werden, ob die Cäsium-Inkorporation der Freundin des Täters auf die bisher gefundenen Kontaminationsquellen zurückgeführt werden kann.

Der letzte Satz war ein bisschen kompliziert. Ich drücke ihn jetzt einmal in normalem Deutsch aus:

(Abg. Capezzuto SPD: Danke!)

Wir versuchen, die verschiedenen Befunde auf ihre innere Stimmigkeit zu überprüfen, also zu prüfen, ob sie zur Deckung gebracht werden können. Im Prinzip haben wir also einerseits die Objekte, andererseits die Fundorte und zum Dritten die Personen. Wenn das zusammenpasst, können wir davon ausgehen, dass wir uns auf einem sicheren Pfad bewegen. Passen die Dinge nicht zusammen, stehen wir allerdings vor einer weiterhin ungeklärten Situation. Wir können heute sagen, dass die verschiedenen Befunde in qualitativer Hinsicht zusammenpassen. In quantitativer Hinsicht – also beispielsweise bei der Frage, ob es weitere Quellen, sprich Objekte, die die WAK verlassen haben, geben könnte – sind wir uns noch nicht ganz sicher, hoffen aber, dazu noch Sicherheit zu gewinnen.

Zur Einordnung des Falles ist zu sagen, dass es sich um ein in Deutschland bisher einmaliges Ereignis mit erheblicher krimineller Energie handelt. Es handelt sich dabei nicht um einen Störfall oder einen Unfall in einer kerntechnischen Anlage mit einem technischen Versagen, sondern um einen so genannten Nachsorgefall.

Die Landesregierung ist der Auffassung, dass eine solche Tat zukünftig nicht mehr passieren darf, und hat deshalb umgehend Sofortmaßnahmen zur Verbesserung des Schutzes gegen ein solches Ereignis getroffen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sehr schwierig ist, gegen perfides kriminelles Handeln – übrigens auch gegen zusätzlich noch recht unsinniges kriminelles Handeln –, das Hand in Hand mit der Bereitschaft zu erheblicher Eigen- oder Fremdgefährdung geht, einen absoluten Schutz zu erreichen. Die Landesregierung wird diesen Sachverhalt mit den hierfür zuständigen Stellen des Bundes beraten und die daraus resultierenden Konsequenzen umsetzen.

Aus radiologischer Sicht kann zum jetzigen Zeitpunkt festgestellt werden, dass die Auswirkungen offensichtlich auf das unmittelbare Umfeld begrenzt sind. Ich bitte, die Wortwahl genau zu beachten: zum gegenwärtigen Zeitpunkt offensichtlich auf das unmittelbare Umfeld begrenzt. Ich möchte mich nicht mit der Aussage konfrontiert sehen, dass an einer anderen Stelle noch irgendetwas gefunden worden wäre, das diesen Satz nicht rechtfertigen würde.

(Minister Müller)

Deswegen hat er diese verbalen Einschränkungen. Die müssen wir in einem ungeklärten Fall machen.

Die Untersuchungen in den anderen Wohnungen, in den Gebäuden, in denen die beiden betroffenen Personen wohnhaft sind, auf den Gemeinschaftsflächen und in den Arbeitsstätten der Frau und ihrer Tochter ergaben keine weiteren Kontaminationen. Dabei kann jedoch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass Personen, die etwa seit Dezember letzten Jahres – das ist der vermutliche Tatzeitpunkt – in den Wohnungen der betroffenen Personen waren oder die anderweitig näheren Kontakt mit den Personen hatten, eventuell kontaminiert wurden. Ausgehend vom Untersuchungsergebnis der Tochter, die auf jeden Fall Kontakt mit ihrer Mutter gehabt hat, kann jedoch erwartet werden, dass diese Kontaminationen nur gering sind und keine Gesundheitsgefahr darstellen.

Nun zur Frage b: Klar ist, dass der Täter die Kontaminationsverschleppung vorsätzlich unter Umgehung der technischen und der personell-organisatorischen Sicherheitsund Sicherungsvorkehrungen herbeigeführt hat. Derzeit liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die vorhandenen Sicherheits- und Sicherungseinrichtungen in ihrer Funktion beeinträchtigt gewesen wären. Sie sind umgangen worden, aber sie haben technisch nicht versagt.

Aufgrund des Vorfalls bestehen jedoch durchaus Zweifel, ob das bisherige Sicherheits- und Sicherungskonzept abdeckend ist. Diese Frage verfolgt die Landesregierung nachdrücklich.

Die Landesregierung hat folgende Maßnahmen angeordnet; sie gelten während der Arbeitszeit. Es sind sozusagen Sofortmaßnahmen, die vorgesehen sind. Im Moment ist der Betrieb ja eingestellt. Der Betrieb ist übrigens sofort am ersten Tag eingestellt worden. Es bedurfte insofern gar keiner Anordnung; die WAK hat das selber so gesehen.

Die Maßnahmen im Einzelnen:

Erstens: Am Ausgang aus dem Kontrollbereich Prozessgebäude im Erdgeschoss in den betrieblichen Überwachungsbereich wird ein zusätzlicher Strahlenschutzposten eingerichtet, der den Materialfluss und die Personen überwacht.

Zweitens: Zusätzliche Bestreifung zwischen den Gebäuden, in denen sich Kontrollbereiche, nämlich Rückbaubereiche mit hohen Kontaminationen, befinden, und der Grenze des betrieblichen Überwachungsbereichs zum sonstigen Überwachungsbereich durch einen Objektsicherungsposten während der Arbeitszeit.

Drittens: Der Eingang zum Reservelager für den hochaktiven flüssigen Abfall wird mit einer Kamera überwacht. Die Alarmierung wird wieder auf die Objektsicherungszentrale aufgeschaltet.

Viertens: Am Personenausgang im Prozessgebäude im ersten Obergeschoss vom Kontrollbereich zum betrieblichen Überwachungsbereich wird ein zusätzlicher Strahlenschutzposten aufgestellt.

Ich darf im Übrigen noch sagen, dass aufgrund des ganzen Vorgangs natürlich auch zu überlegen ist, ob in anderen Anlagen als der WAK vergleichbare, ähnliche, jedenfalls

dem Tathergang sozusagen nachfolgende Konsequenzen zu ziehen sind. Wir befassen uns natürlich auch mit dieser Frage, die übrigens logischerweise nicht auf Baden-Württemberg begrenzt ist.

In diesem Zusammenhang hat das Umwelt- und Verkehrsministerium darüber hinaus eine Überprüfung bei den anderen Stilllegungsprojekten im Forschungszentrum Karlsruhe, der Kompakten Natriumgekühlten Kernreaktoranlage KNK, dem Mehrzweckforschungsreaktor MZFR und des Forschungsreaktors TRIGA im Krebsforschungszentrum Heidelberg veranlasst mit dem Ziel, ein vergleichbares Vorkommnis zu verhindern.

Des Weiteren wurde veranlasst, die Kernkraftwerke in Baden-Württemberg, das Europäische Institut für Transurane im Forschungszentrum Karlsruhe und weitere Institute im Forschungszentrum Karlsruhe, in denen ebenfalls noch mit radioaktiven Stoffen umgegangen wird, mit dem Ziel zu überprüfen, ein vergleichbares Vorkommnis weitestgehend auszuschließen.

Ich will im Übrigen auch hier noch eine ergänzende Bemerkung machen. Sie bezieht sich auf das, was man seit gestern von uns öffentlich verlangt, nämlich darauf, dass wir, wie es so schön heißt, bis „Freitag Dienstschluss“ gegenüber dem Bundesumweltministerium die notwendigen längerfristigen Konsequenzen, die zu ziehen sind, schildern sollen. Wir werden uns dazu im Rahmen dessen, was bis zu diesem Zeitpunkt solide und seriös möglich ist, natürlich äußern. Aber für uns stehen in erster Linie die Aufklärung des Falls und natürlich in Verbindung damit auch die Gefahrenabwehr im Vordergrund.

Man kann eines mit Sicherheit sagen: Die Konsequenzen, die sich insgesamt aus dieser Situation, diesem Täterbild des sich selbst schädigenden, unsinnig handelnden Innentäters mit krimineller Energie, bezüglich aller Anlagen in der Bundesrepublik, in denen mit radioaktiven Stoffen umgegangen wird, ergeben, können nicht schnell, vor allem nicht bis „Freitag Dienstschluss“, gezogen werden. Die nötigen Konsequenzen, die unseren eigenen Vorstellungen von der Qualität unserer Arbeit Rechnung tragen sollen, können nicht so schnell gezogen werden. Deswegen will ich schon hier feststellen: Wir werden das liefern, was man anstandshalber und vernünftigerweise in den nächsten Tagen von uns erwarten kann. Aber die Aufgabe, die sich stellt, wird sich nicht nur uns stellen, sondern sie wird sich bei allen Anlagen, die in irgendeiner Weise mit radioaktiven Stoffen zu tun haben, unter Einschluss auch von Forschungseinrichtungen und übrigens auch unter Einschluss von nuklearmedizinischen Einrichtungen stellen, und das geht nicht bis Freitag.

Herr Dr. Witzel.

Herr Umweltminister, die Urinprobe des Täters wurde im März genommen. Die Auswertung lag aber erst im Juni vor. Teilen Sie meine Auffassung, dass dieser Zeitraum völlig unangebracht lang ist, und wie ist er zu erklären?

Ich teile die Auffassung, dass der Zeitraum in der Tat unangemessen lang ist. Die Erklärung besteht darin, dass die Urinproben

(Minister Müller)

eine ganz bestimmte Funktion haben. Sie sollen nämlich langfristig entstehende Kontaminationen durch Routinekontrollen überprüfen. Insofern hat ihre Auswertung eine geringere Priorität als die akuten Untersuchungen, wenn es um konkrete Vorfälle oder Vorgänge geht.

Nichtsdestoweniger bleibe ich bei der gemeinsamen Beurteilung, dass drei Monate für eine solche Untersuchung zu lang sind. Bei den Untersuchungen soll sozusagen mit dem Menschen als Indikator überprüft werden, ob es trotz aller Sicherheitsvorkehrungen ein Problem gibt. Deswegen werden solche Routineuntersuchungen vorgenommen.

Es hat in der Geschichte der WAK im Rahmen dieser Routineuntersuchungen bisher noch keinen Fall gegeben, der zu einem „Anschlagen“, also zur Feststellung einer Überschreitung, geführt hat. Aus diesem Grund hatten die Routineuntersuchungen gegenüber anderen Mess- und Überwachungsaufgaben, die von der Medizinischen Abteilung des FZK durchzuführen sind, eine geringere Priorität. Nichtsdestoweniger – ich erkläre jetzt nur den langen Zeitraum – muss ich sagen: Die drei Monate sind zu lang.

Frau Rastätter.

Herr Minister Müller, ich frage Sie: Wie ist das baden-württembergische Umweltministerium als zuständige atomrechtliche Aufsichtsbehörde mit dem bereits im Frühjahr vom Bundesumweltministerium übermittelten anonymen Brief verfahren, in dem ein angeblich langjähriger Mitarbeiter der WAK von erheblichen Sicherheitsmängeln beim Abriss der WAK und von erheblichen Mängeln im Umgang mit den eingesetzten Fremdfirmen spricht? Dies war übrigens der anonyme Brief, der auch Grundlage meines Abgeordnetenbriefs vom 10. Mai dieses Jahres war.

Frau Kollegin, ich kann dazu gerne etwas sagen. Ich lese den Brief einmal schlicht vor, damit Sie sehen, dass er mit dem Vorgang, um den es hier geht, nichts zu tun hat. Der Brief, der in der Tat beim Bundesumweltministerium eingegangen ist und uns ohne weitere Veranlassung und ohne den Wunsch nach irgendeiner Maßnahme vom Bundesumweltministerium zugegangen ist, hat folgenden Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin seit über 15 Jahren Mitarbeiter der Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe und möchte auf diesem Wege auf große Missstände in der Anlage hinweisen. Das Wissen und die Schulung des Personals und hier vor allem des Fremdpersonals ist sehr schlecht. Schulungen und Belehrungen werden nicht wirklich ausgeführt, sondern man muss die Papiere so unterschreiben. Die meisten Kollegen von Fremdfirmen haben sehr wenige Kenntnisse. Der TÜV hat dies in den letzten Wochen geprüft und auch mit dem Personal geredet. Die Ergebnisse wurden unter den Teppich gekehrt. Deshalb meine ich, Sie müssen hier etwas unternehmen, bevor etwas Größeres passiert.

Das ist der Brief im Volltext; ich habe ihn jetzt in ganzer Länge vorgelesen.

Jetzt stelle ich zunächst einmal fest: Im Unterschied zu dem, was in den letzten Tagen assoziiert und vielleicht auch suggeriert worden ist, hat der Inhalt des Briefes mit dem Vorgang überhaupt nichts zu tun.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Die Mitarbeiter!)

Denn er bezieht sich auf Informationen, die Arbeitnehmer bekommen sollen, um vor den Gefahren an ihrem Arbeitsplatz geschützt zu sein. Es geht um die Fragen: Welche Kenntnisse haben sie, und wie sind sie belehrt worden? Das zielt nicht auf irgendeine kriminelle Handlung. Es gibt keine Belehrung, die den Täter von seiner Tat hätte abhalten können.

Es gibt allerdings eine Norm; das ist das Strafgesetzbuch. Danach ist das Freisetzen von Radioaktivität eine Straftat. Der Täter war insofern eigentlich genügend gewarnt, und er wusste auch, was er tut. Wir wissen, ohne dass ich das jetzt im Einzelnen schildern will, mit welchem Geschick und mit welcher Raffinesse er vorgegangen ist. Man könnte fast sagen, es hat sich um einen relativ gut belehrten Täter gehandelt.